Freitag, 16. Juni 2017

Postmoderne Spiritualität

Ich beziehe mich auf einen Artikel von Susanne Jacobowitz, um das Thema der postmodernen Spiritualität näher zu erörtern.  Der Begriff der Spiritualität hat bis zu seiner aktuellen Verwendung eine Geschichte hinter sich. Zunächst entsteht er zur Bezeichnung einer verinnerlichten Religiosität im traditionellen Rahmen der Kirchen. Er heißt dabei so viel wie Frömmigkeit, später  versteht man darunter eine „existentiell vollzogene Lebenshaltung“ (Johannes Gründel), bis der Begriff dann schließlich der alleinigen Deutungsmacht der Theologie entzogen wird. Spiritualität und Religion werden zu unterschiedenen Sphären, die sich zwar nicht notwendigerweise gegenseitig ausschließen, aber nur mehr teilweise decken, wobei der Trend in die Richtung zu gehen scheint, dass der Überschneidungsbereich zunehmend kleiner wird.

Wenn man sich ein Kontinuum im Verhältnis von Religion und Spiritualität vorstellt, so reicht das von Positionen, die jeden Einfluss von Religion auf die Spiritualität als irreführend und schädlich verstehen, bis zu Positionen auf der anderen Seite, die alle Formen von Spiritualität ohne Religion als fehlgeleitet und illusionär einschätzen, mit Tendenzen, dass die letztere gegenüber der ersteren Position schwächer wird. Immer mehr Menschen definieren sich selbst als spirituell, aber nicht als religiös im Sinn der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft bzw. im Sinn der Anerkennung von deren Lebensregeln und Glaubensartikeln.

Diese Tendenz wäre auch deshalb nicht verwunderlich, weil sie dem übergeordneten Trend zur Säkularisierung entspricht, zum Bedeutungs- und Deutungsverlust der Religionen im Zug der Modernisierung und erst recht der Postmoderne. Die Wende zum Subjekt und zur subjektzentrierten Vernunft läuft den vorgefassten, traditionsbasierenden Strukturen entgegen, sodass vorgegebene, von der religiösen Autorität verkündete Glaubensinhalte ohne entsprechende subjektive Erfahrungen keine Deutungsmacht mehr beanspruchen können. Religiöse Autoritäten können sich nicht länger allein kraft ihres Amtes legitimieren, sondern werden vor allem aufgrund subjektiver Authentizität, also aufgrund ihrer persönlichen Spiritualität anerkannt. Der Dalai Lama hat sich weltweiten Respekt durch seine offene und authentische Art verschafft, auch und gerade bei Menschen, die wenig mit Religionen am Hut haben. Vielen gilt er weniger als Vertreter der buddhistischen Lehre, sie fühlen sich mehr durch die Religionen übergreifende Spiritualität und spirituelle Lebenspraxis angesprochen, die der Dalai Lama verbreitet.

Der Trend zur subjektivierten Spiritualität hat also längst auch schon die etablierten Religionen erreicht. Eine aktuelle österreichische Studie weist nach, dass diese Entwicklung die moselmische Glaubensgemeinschaft erreicht hat. Und es wundert auch nicht, dass in der katholischen Kirche ein Papst gewählt wurde, der besonders durch seine glaubhafte Weise, einen spirituellen Alltag zu leben, viele über die Grenzen der Religionsgemeinschaft hinaus erreichen kann.

Auf der Strecke bleiben die Dogmen und die autoritären Strukturen. Der moderne Mensch, dessen Selbstbewusstsein auf den Errungenschaften der Befreiungsbewegungen und Emanzipationsbestrebungen beruht, vermeidet starr vorgegebene Regelwerke und Systeme, die die Unterwerfung des Individuums verlangen, wie der Teufel das Weihwasser, um diese religiöse Metapher in diesem Zusammenhang ironisch zu gebrauchen. Und der postmoderne Mensch hat nicht einmal mehr ein Problem damit, dass es Kirchen für ihre Anhänger gibt. Sie sollen allerdings sich tunlichst aus den Belangen des Staates heraushalten und können im öffentlichen Diskurs keine privilegierte Rolle mehr beanspruchen. Jeder soll seinen eigenen Weg zum Geist- und Seelenheil suchen und gehen.

Die integrale Lebensweise und Praxis, die ein Produkt der Postmoderne ist, legt wert auf das Einschließen aller Dimensionen des Menschlichen, die alle von Begrenzungen und Behinderungen befreit werden sollen. Dabei nimmt auch die Spiritualität einen ganz wichtigen Stellenwert ein, allerdings eben nicht in Form einer durch Traditionen und Lehrsätzen eingeengten Religiosität, sondern in der möglichst weiten Freiheit für die eigene Sinnsuche und Sinngebung.

Die Konjunktur dieser postmodernen Spiritualität ist insofern von Vorteil, dass sämtliche Lebensbereiche spirituell durchdrungen werden können. Damit scheint sich so etwas wie eine Renaissance der mittelalterlichen Religiosität mit ihrer alle Lebensbereiche durchdringenden Wirkung zu entwickeln, allerdings unter religionsfreien, d.h. kirchenunabhängigen neuen Vorzeichen. Das spirituelle Leben ist nicht auf explizit religiöse Räume wie heilige Stätten, Gebetshäuser oder Klöster eingeengt, sondern bewährt sich vor allem „auf dem Marktplatz“, in den verschiedenen Bereichen des profanen Lebens. Es gibt demnach spirituelle Leadership, Pädagogik, Politik und Ökologie, und die spirituelle Dimension nimmt einen wichtigen Platz im Bereich von Therapie und Selbstentfaltung ein. Spiritualität kann in die Kindererziehung ebenso einfließen wie in die Zubereitung von Mahlzeiten oder die Pflege des Gartens und die Reinhaltung einer Wohnung. Das Prinzip der Achtsamkeit kann in jede Form der Tätigkeit eingeflochten werden, sodass es keinen Unterschied mehr zwischen dem sakralen und dem profanen Bereich des Lebens gibt: Alles Tun mit Bewusstheit zu verbinden und jede Kommunikation mit Empathie zu führen.


Besonderheiten postmoderner Spiritualität


Jacobowitz benennt vier Eigenschaften der postmodernen Spiritualität:

  • Privat (Meditationspolster und Gebetsteppiche statt Kirche und Moschee)
  • Erfahrungsbetont (Suche nach persönlicher Erfahrung statt nach dem Halt in einem Glaubenssystem)
  • Individualistisch und selbstbestimmt (individuelle Auswahl aus einem breiten Angebot statt das Bekenntnis zu einer Tradition)
  • Eigendienlich (ausgerichtet auf die eigene Bedürfnisbefriedigung und Lebensverbesserung)

Dazu ein paar Anmerkungen: Die Privatheit postmoderner Spiritualität heißt nicht, dass sie nur im eigenen Kämmerlein praktiziert wird. In vielfältiger Form wird sie in Seminaren und Retreats vermittelt und geübt. Es entstehen Gemeinschaften von Menschen, die einen ähnlichen meditativen Weg gehen, allerdings zumeist in freier und wenig institutionalisierter Form. Deshalb trifft es auch nicht überall zu, dass die Praxis nur eigendienlich ist. Vielmehr beinhaltet der spirituelle Weg für viele die Verstärkung der empathischen und liebevollen Hinwendung zu anderen Menschen. Auch wenn die Suche der inneren Erfahrung dient, wird vielen Menschen deutlich, dass solche Erfahrungen stark mit den Menschen verbunden sind, mit denen sie geteilt werden oder die durch ihre Anwesenheit zur Vertiefung beitragen. In diesem Zusammenhang kann auch die individualistische Auswahlhaltung relativiert werden: Zwar ist die postmoderne Spiritualität ohne persönliche Autonomie nicht möglich, ja setzt diese sogar voraus. Aber das muss nicht zwangsläufig zur Folge haben, dass der spirituelle Weg alleine von Vorlieben oder Abneigungen, frei von allen Traditionen gesteuert ist. Traditionen spielen auch hier eine Rolle, aber nicht mehr im Sinn einer unhinterfragbaren Autorität, sondern im Sinn von Leitlinien, die an die Lebenswelt und die eigenen Erfahrungen angepasst werden.

Der postmoderne spirituelle Weg ist ein Lernweg, und jeder, der ihn geht, weiß oder erfährt, dass er mit Herausforderungen verbunden ist, die vor allem nicht darin bestehen, bestimmte Lehrinhalte oder praktische Übungen anzueignen, sondern darin, innere Widerstände und Blockierungen zu überwinden, die mit den Erfahrungen der eigenen Lebensgeschichte zu tun haben. Es ist also immer auch ein therapeutischer Weg, der sich nicht in der Pflege von angenehmen Zuständen erschöpfen kann.


Engstellen und Fallen


In dem Artikel werden auch einige Gefahren der Entwicklung zur postmodernen Spiritualität benannt:

  • Selbstbedienungsmentalität: ich nehme mir, was mir in den Kram passt und vermeide jeder Herausforderung, wie sie sich stellt, wenn nur ein Weg offen steht
  • Spiritueller Materialismus: Verfolgung persönlicher Ziele (schöne Erfahrungen, geistige Fähigkeiten, beruflicher Erfolg) – Ich-relativierung statt Ich-Bereicherung
  • Spiritueller Autismus: Weltvergessenheit, Weltverlust
  • Spirituelle Hyperreflexion: Verlust an Spontaneität, Faszination für ego-fixierte Inszenierungen

Solange die spirituelle Orientierung in Konkurrenz zu anderen Lebenszielen steht, statt ihr integraler Teil zu sein, besteht die Gefahr, dass Elemente des materialistischen Bewusstseins die Vorherrschaft einnehmen und spirituelle Praktiken in ihren Dienst stellen. Doch, wie Jacobowitz anmerkt: „Der spirituelle Weg (ist) letztlich nichts Kontrollierbares und Verfügbares“. (30) Wenn wir uns auf einen spirituellen Weg einlassen, gibt es keine sicheren Ergebnisse, sondern Risiken, die wir entweder meistern oder an denen wir scheitern, Überraschungen, die uns näher zu uns oder weiter von uns weg führen. Lernen heißt, alles anzunehmen, wie es kommt, oder, wie Nan-tjüan zitiert wird: „Sei weit und offen wie der Himmel, und du bist auf dem Weg.“


Quelle:

Susanne Jacobowitz: Überlegungen zur postmodernen Spiritualität. Besonderheiten, Chancen, Risiken. In: Bewusstseinswissenschaften 1/2017, S. 21 – 31

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