Montag, 16. September 2013

Die zwei Wahrheiten und die Sprache

Die Sprache entwickelt sich als Medium des konventionellen Bewusstseins. Über weite Strecken dient uns die verbale Kommunikation zur Absicherung der gemeinsamen Wirklichkeitssicht. „Ist das die Sonne?“ fragt das Kind. „Ja, das ist die Sonne,“ antwortet der Vater. „Liebst  du mich?“ fragt die frisch Verliebte. „Über alles“ ist die Antwort, die die eigene Wirklichkeitssicht zu einer gemeinsamen macht. Von dieser Art der Vergewisserung sind viele unserer sprachlichen Mitteilungen. Sie beginnen bei einer Unsicherheit, und durch das Reden wird die Unsicherheit entweder verringert oder vergrößert, je nachdem, wie sicher oder unsicher die angesprochene Person reagiert.

„Verstehst du mich?“ fragt die Erwachsene und meint: „Kann ich mich sicher in der Beziehung zu dir fühlen?“ Kommt als Antwort: „Nein, überhaupt nicht,“ dann steigt die Unsicherheit und es entsteht der Wunsch, weiterzureden, bis die Sicherheit hergestellt ist.

Die Sprache dient damit auch als Instrument für das Ego, sich seiner selbst zu vergewissern und seine Ängste zu reduzieren. Es will über das Sprechen und Austauschen Sicherheit herstellen. Deshalb reden die Menschen gerne so viel und so oft. Wenn z.B. mehrere Leute Konzert oder einen Kinofilm besuchen, ist jeder während der Darbietung auf sich selbst und seine Wahrnehmung konzentriert. Nachher entsteht das Bedürfnis zu reden, um sich untereinander zu verständigen, wie nach diesen vereinzelten Erfahrungen eine gemeinsame Realität erschaffen werden kann, die die soziale Sicherheit wieder herstellt. Es ist, als wäre nach einer Zeit der Vorrat an Sicherheit aufgebraucht, den wir dann von Zeit zu Zeit wieder aufbauen und aufladen müssen. Unser Ego braucht die Abstimmung mit den anderen Egos, damit es sich entspannen kann.



Denken als inneres Sprechen


Das Denken ist über weite Strecken ein verinnerlichtes Reden. Z.B., wenn ich einen Text wie diesen schreibe, redet eine Stimme zuerst die Sätze in meinem Denken, bevor ich sie niederschreibe. Jede Änderung, die ich vornehmen will, wird im inneren Diskurs erörtert. Auch hier dient das sprachliche Denken der Absicherung, schließlich soll das, was ich schreibe, Sinn machen und für andere verständlich sein. Wenn mir jemand mitteilt, dass das, was ich schreibe, unverständlich ist oder dumm, dann erzeugt das eine Unsicherheit in meinem Ego, der ich vorbeugen will, indem ich versuche, möglichst klar zu schreiben.

Offensichtlich ist auch, dass ich, wenn ich einen Text unverständlich oder dumm finde, durch ihn verunsichert bin. Mittels der Etikettierung will ich mir wieder mehr Sicherheit verschaffen. Ich kann dann z.B. zusätzlich jemand anderen aktivieren, mir rechtzugeben, um meine Sicherheit noch zu erhöhen.

Die Sphäre der Sprachlosigkeit


In der Sphäre der endgültigen Wahrheit brauchen wir die Sprache nicht. Es ist alles ganz klar und braucht nicht erläutert zu werden. Wir haben keine Unsicherheiten und Zweifel, deshalb sind wir nicht auf Bestätigung angewiesen. Wir können auch nicht anderen mitteilen, was wir erleben, weil es sich, wie alle Mystiker sagen, nicht in Worte fassen lässt. Über das Unsagbare zu reden, ist der Versuch, das Absolute in die Welt des Relativen zu übersetzen. Bei jeder, auch bei den besten Übersetzungen von einer konventionellen zur anderen konventionellen Sprache, geht viel vom ursprünglichen Sinn verloren.

In diesem Fall allerdings ist schon das Unterfangen der Übersetzung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn es geht um die Übersetzung vom Nichtsprachlichen ins Sprachliche. Das Unendliche soll in die Form des Endlichen gepresst werden. Das Zeitlose soll in ein Zeitgerüst eingepasst werden.

Sobald wir also über die Zustände der Erfahrung des Absoluten reden, sind wir wieder in der Welt des konventionellen Bewusstseins. Dort verstehen uns die einen, die anderen nicht. Die einen bestätigen uns, andere werten uns ab usw. Je mehr wir reden, desto mehr verstricken wir uns in die komplexen Fallstricke der konventionellen Welt, die von Ängsten und Misstrauen durchtränkt ist.



Das Esoterik-Problem


Mit der Schwierigkeit und Missverständlichkeit der Versprachlichung der Mystik befindet sie sich in einem kommunikativen Niemandsland. Das hat den Mystikern in allen Gesellschaften Probleme gebracht, sobald im Lauf der Geschichte die Sprache zum Medium von Anklage und Rechtfertigung geworden ist. Von Erfahrungen zu reden, die den konventionellen Konsens in Frage stellen, und zudem zu behaupten, dass diese höchsten Wahrheiten nur in einem besonderen Erfahrungsrahmen zugänglich sind, galt und gilt als Skandalon, das häufig verfolgt und mit den übelsten Strafen belegt wurde. Deshalb haben viele Lehrer ihre Weisheit nur an eingeweihte Schüler weitergegeben, was hinwiederum das Misstrauen der Nicht-Eingeweihten genährt hat.

Der Mystiker wird sagen: „Wenn du mich verstehen willst, musst du in den gleichen Erfahrungsraum eintreten, in dem ich mich befinde.“ Dieser Raum ist nicht einfach frei zugänglich für jedermann/frau und deshalb „esoterisch“, er steht also nur Insidern offen. Allerdings kann jeder Insider werden, es ist nicht notwendig, einer Schule, Sekte oder Geheimgesellschaft anzugehören. Doch betritt ihn jeder durch eine, seine eigene Tür.

Der Esoterik-Kritiker wird fordern: „Dann sag mir, was es da drinnen gibt.“ Der Mystiker wird antworten: „Das kann ich nicht in Worten ausdrücken.“ Darauf wird sich der Kritiker die Stirn verziehen und sagen: „Was für ein Unsinn. Alles muss man in Worten ausdrücken können. Wie soll ich oder jeder andere sonst verstehen, worum es geht?“ Der Mystiker wird ihm mitteilen: „Du kannst diese Wahrheit nur in dir selber finden. Wenn du die Augen schließt und in dir nachforscht, wird sie sich dir offenbaren.“ Wenn der Kritiker dieser Anregung nachkommt, wird er vielleicht zum Meditierer, wenn er davon Abstand nimmt, bleibt er bei seiner Skepsis und wird Schlechtes über den Mystiker und über die Mystik reden.

Sollte die Mystikerin dennoch versuchen, ihre Wahrheit mitzuteilen, wird sie von der unendlichen Weite oder der unermesslichen Liebe sprechen, die sie in sich empfindet. Der Kritiker, dem diese Erfahrung fehlt, wird sich leicht tun, diese Worte als unsinnig oder als Dahergerede abzutun.

Das ist die Grenze zwischen dem rationalen und dem transrationalen Bereich, die Grenze zwischen dem Konventionellen und dem Endgültigen. Um sie zu überschreiten, müssen auch die Konventionen der Sprache und die auf ihr gegründeten Ideen der Allgemeinverbindlichkeit zurückgelassen werden. Spirituelle Einsichten gewinnen ihre Verbindlichkeit in der Sphäre der Innenschau, und wer diese Welt kennt, kann sich darüber leicht  mit jedem verständigen, der ebenfalls dort zugange ist, ohne dass dafür die konventionelle Sprache notwendig wäre. Wer sie nicht kennt, kann mit den Versuchen der Versprachlichung so wenig anfangen wie ein Blinder, dem wir von den Farben erzählen.



Die unterschiedlichen Zugänge


Manche Menschen brauchen einen Lehrer, andere finden sich plötzlich und spontan in diesem Bereich. Manche Menschen folgen über längere Zeit einer bestimmten Methode, andere wechseln von einer Übungsweise zur anderen. Manche sammeln die Durchblicke ins Unendliche wie Puzzlesteine und bemerken, wie sie immer mehr werden, anderen öffnet sich ein riesiges Tor auf einmal. Manche der Erfahrungen sind einmalig und flüchtig, manche kommen immer wieder in ähnlicher Form, manche bleiben beständig da, andere wiederum sind willentlich abrufbar.

Manche kommen über die Sprache in die Sphäre des Absoluten. Sie hören Worte oder lesen Texte, die sie auf die Suche schicken. Doch sobald sie dort sind, wo sie merken, dass sie angekommen sind, erkennen sie auch, dass sie keine Sprache brauchen, um dort zu bleiben, dass sie auch keine Sprache finden, um nachher zu erklären, wo sie waren und auch keine Sprache benötigen, um wieder dorthin zu kommen. So wird die Stille, die auch die Freiheit von Worten ist, zu einem dauernden Begleiter. Langsam und stetig wird die Kraft der Stille stärker als die Geschwätzigkeit der konventionellen Welt.

Manche Heilige reden gern und viel. Sie wollen andere an ihren Erfahrungen teilhaben lassen, getreu der Devise: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.

Manche der Zuhörer werden von solchem Reden ergriffen, weil die Worte von einem Geist durchdrungen sind, der sie erahnen lässt, was gemeint ist. Es ist die Kraft und die Klarheit des Sprechens und nicht die Worte, die die gute Botschaft übermitteln.  Sie sind von einem Nicht-Wollen getragen, die aus der inneren Freiheit kommt.

Es gibt Ohren, die gewohnt sind, nur Erwartetes zu hören, und alles, was die Hörgewohnheit herausfordert, misstrauisch abzulehnen. Ihnen wird es schwerer fallen, von der Rede der Heiligen berührt zu werden. Sie werden statt Hingabe Macht, statt Liebe Geltungssucht und statt Freiheit Eigensinn wahrnehmen. Je starrer das Ego ist, desto enger ist sein Empfangsbereich (chronischer Stress verhärtet die Muskulatur, die die Mittelohrknöchelchen in Bewegung halten und schränkt damit die Hörfähigkeit ein). Das ängstliche Ego hört nur, was es hören will, nämlich sich selbst in seinen Befürchtungen und Begierden. Wenn sich das Hören geöffnet und gedehnt hat, wird es leichter, die Frequenzen der endgültigen Wahrheit zu hören und mit ihnen in Resonanz zu treten.

Bewusstes Musikhören (nicht bloß das Zulassen von Hintergrundgeräuschen und nicht bloß das repetitive Hören der eigenen Lieblingsmusik) verändert die Hörgewohnheiten. Deshalb kann es als gute Vorübung dienen, um die Bereiche des Konventionellen hinter sich zu lassen und eine Ahnung vom Absoluten zu bekommen. Aus diesem Grund sind auch viele Musikschaffende mit dem Absoluten zugange.

Andere Mystiker reden überhaupt nicht oder nur Belangloses für die Alltagspraxis. Sie sind nur da mit denen, die mit ihnen im Schweigen beisammen sein wollen. Wieder andere schauen die Menschen, die zu ihnen kommen, tief an oder umarmen sie.

All das sind Möglichkeiten, auf das große Mysterium zu verweisen, das jenseits der konventionellen Sprache auf alle wartet, die sich ihm öffnen wollen.


"Diese Worte sind für einen, der Worte braucht, damit er begreift. Aber jemand, der ohne Worte begreift – was braucht der Worte? ... Jemand, der einen leisen Ton hört, was braucht der Reden und Geschrei?" (Rumi)

1 Kommentar:

  1. Schön, wie du die verschiedenen Zugänge zum Absoluten und die verschiedenen Möglichkeiten des Verweisens auf das Absolute beschrieben hast!
    Danke!
    Elisabeth

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