Donnerstag, 12. September 2013

Die zwei Wahrheiten

Santideva
„Die konventionelle und die endgültige Wahrheit werden als die zwei Wahrheiten anerkannt. Die endgültige Wahrheit ist kein Wahrnehmungsobjekt des Bewusstseins; das Bewusstsein wird als konventionelle Wahrheit bezeichnet.“ (Santideva, Bodhicharyavatara)

Dieser klassische Text des Mahayana-Buddhismus aus dem 8. Jahrhundert n.Chr. macht uns aufmerksam auf eine wichtige Unterscheidung, die uns auf unserer inneren Suche und bei der Auseinandersetzung mit ihren Widerständen begegnet.

Die konventionelle und die endgültige Wahrheit verweisen auf zwei Wege, die wir als Erdenbürger in der einen oder der anderen Form, aber immer irgendwie gleichzeitig zu absolvieren haben. Der eine ist wie das Fruchtwasser, das uns von Anfang an umgibt. Wir nehmen alles, was es uns zu bieten hat, als selbstverständlich und als richtig an. Sobald wir geboren sind, erzählen uns unsere Eltern alles Mögliche, und wir vertrauen ihnen blind. So bildet sich unser konventionelles Denken, unsere Maßstäbe von richtig und falsch. Wenn wir den Gehirnforschern glauben können, lenkt es 95% unseres Verhaltens, unserer Entscheidungen und unserer Gedanken.

Die konventionelle Wahrheit ist über die äußeren Sinne zugänglich, wie es in den buddhistischen Schriften heißt. Sie bezieht ihre Inhalte von den Dingen und Vorgängen, die wir wahrnehmen, wie die Sonne und den Mond, das Klatschen von Händen, den Geruch von Schlingkraut. Sie vertraut allem, was aus den äußeren Sinnen kommt.

Ihr geht es wie dem zweifelnden Thomas im Neuen Testament: „Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“ Die konventionelle Wahrheit braucht Beweise in der visuellen und haptischen Wirklichkeit, sonst bleibt sie skeptisch. Die äußere Wahrnehmung gibt ihnen Sicherheit. Das dagegen, was von innen kommt, nähert die Zweifel und könnte immer auch anders sein. Es hat mit dem Denken ein Instrument in Händen, das stets verneint, indem es sich zu allem, was es gibt, das Gegenteil ausdenken kann und dazu noch dessen Negation, und so weiter bis ins Unendliche.


Das Absolute


Die endgültige Wahrheit dagegen erfahren wir über das innere Spüren. Dieser Sinn ist in uns von Anfang an grundgelegt, komplementär zu den äußeren Sinnen. Er verbindet uns mit dem organismischen Fließen, das die Basis unseres Lebens darstellt. Die Erfahrung dieses Flusses des Lebens vermittelt uns die Urerfahrung der endgültigen Wahrheit, 
von unserem Anfang an und immer wieder im Lauf unseres Aufwachsens

Später, wenn wir bis oben hin angefüllt von konventionellen Wahrheiten sind, erleben wir sie dann nur mehr in besonderen Momenten, in denen wir uns ganz mit dem Leben verbunden fühlen. Manchmal geschieht es einfach, z.B. wenn wir in der Natur sind, manchmal stellen sie sich während des Meditierens ein und immer wieder auch, wenn ein tiefgehender innerer Heilungsprozess Ängste auflösen konnte, die dem Eintritt in diese Erfahrungsebene im Weg standen.

Die letzte Wahrheit ist einfach, klar und in sich überzeugend. Sie braucht keinen Beweis, sie ist einfach da. Wir fühlen uns mit allem verbunden, sind im Moment, Raum und Zeit sind unwichtig. Wir haben keine Fragen und keine Zweifel, das Denken ist ganz ruhig, der Kopf ist leer.

Wir können diese Absolutheit in unterschiedlichen Schattierungen erleben, möglicherweise hat auch jedes Individuum sein eigenes Portal zu diesem Reich. Außerdem scheint es auch viele verschiedene Kategorien in der Erfahrung der endgültigen Wahrheit zu geben. Deshalb werden auch unterschiedliche Gipfelzustände benannt, zum Unterschied von „einem“ Zustand der Erleuchtung, wie er von manchen Lehrern angenommen wird. Das Absolute kann uns begegnen als überwältigende Naturerfahrung, als Herzöffnung, als Lichtschauer oder als tiefe innere Stille und in vielen anderen Gestalten. Gemeinsam ist diesen Erfahrungen ein grenzenloses Gefühl der inneren Freiheit.

Gemeinsam ist ihnen auch, dass wir sie in unserem Körper wahrnehmen. Auch wenn sich dieser anders anfühlen mag wie gewöhnlich, z.B. innerlich hohl, leicht, lichtdurchflutet oder durchlässig, haben wir zugleich ein konventionelles Bewusstsein von ihm, und wir können leicht wieder in ihn zurückwechseln, wenn es die äußere Realität erfordert, wenn wir z.B. die Toilette aufsuchen müssen. Dieses Kriterium bildet einen wichtigen Unterschied zwischen dissoziativen Zuständen, wie wir sie bei einer Traumatisierung erleben, und Zuständen der endgültigen Wahrheit. Wir können je nach den Erfordernissen der Situation vom absoluten ins relative Bewusstsein wechseln, ohne dass es dabei zu Schockzuständen, aggressiven Gefühlen oder Desorganisation kommt. 


Die Kunst des Wechselns zwischen den Ebenen


Soviel Freiheit auch immer wir erringen können, soviel Freiheit auch immer uns geschenkt wird, bleibt uns nicht erspart, uns immer wieder und zugleich im Reich der relativen Wahrheit aufzuhalten und dort unseren Lebensunterhalt zu fristen. Wir leben in unserem dreidimensionalen und zeitlichen Körper mit seinen Prozessen, Krankheiten, Schwächen. Wir leben mit unseren gemischten Gefühlen und schwankenden Stimmungen. Wir leben in dieser Gesellschaft mit ihren Menschen und Strukturen. Für all diese Bereiche braucht es eigene Strategien, eigenes Wissen und vielfältige Fertigkeiten, die wir aus den konventionellen Wahrheiten gewinnen können.

Hier sind wir in der Zeit und im Raum. Wir wissen, dass wir uns weiterentwickeln, wir begegnen Problemen und wissen, dass jedes gelöste Problem neue Schwierigkeiten nach sich ziehen kann. Wir handeln und machen Fehler, lernen und verlernen, werden besser, aber nie vollkommen.

Je mehr wir in die Bereiche der absoluten Wahrheit eingetaucht sind, und je mehr wir von der Kunst des Wechselns von einer Ebene zur anderen gelernt haben, desto mehr wird von der höheren Sphäre, von der inneren Freiheit ins Reich des Relativen einfließen. Wir werden gelassener den Herausforderungen des alltäglichen Lebens gegenüber, wir verstricken uns weniger in Ängste und Sorgen und finden leichter zu den Herzen der anderen Menschen.


Weitere Einsichten zum Thema von Torsten Brügge.

1 Kommentar:

  1. Lieber Wilfried!
    Sehr klar und anschaulich beschrieben!
    Danke!
    Elisabeth

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