Freitag, 13. September 2013

Die zwei Wahrheiten: Das Ego als Pforte zur Wahrheit

Eine Pforte bedeutet zweierlei: Ein Hindernis und eine Öffnung. Zunächst stellt sie sich als Blockade in den Weg. Wir kommen nur weiter, wenn sie sich öffnet oder öffnen lässt. Sie ist jedoch für uns nur interessant, wenn wir durch sie hindurch wollen, wenn wir erwarten oder wissen, dass es jenseits der Pforte etwas gibt, was für uns wichtig ist. Sie symbolisiert also eine Verheißung, die sich aber nicht ohne weiteres erfüllt, sondern uns vor eine Aufgabe stellt. Sich ihr anzunähern beinhaltet die Überwindung eines Hindernisses.

Eine Pforte symbolisiert auch ein Anhalten, einen Moment der Überlegung und Zurückwendung (Reflexion). In diesem Moment klären wir unsere Wichtigkeit ab: Lohnt sich die Anstrengung, die Pforte zu überwinden oder lassen wir es bleiben und gehen wieder zurück in die gewohnten Umstände?

Der Hort unserer Begierden und Ängste


Das Ego ist der Hort unserer Begierden und Ängste. Es hat alles gespeichert, was uns je Lust oder Angst bereitet hat. Wenn wir einmal in den Genuss der absoluten Wahrheit gekommen sind, will es auch mehr davon. Dieses Wollen stammt natürlich aus dem konventionellen Denken, aus den Programmierungen unseres Egos. Es sieht jedes Wollen als gleichartig: Etwas hat irgendwann Lust bereitet, also will ich (ego) mehr davon: „Lust will Ewigkeit – Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.“ „Lust will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will Alles-sich-ewig-gleich.“ (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 4. Teil, Das trunkne Lied). Was mir einmal gut getan hat, soll immer da sein und immer zur Verfügung stehen wie die Kuchen im Schlaraffenland.

Auch die Lust an der endgültigen Wahrheit erscheint dem Ego wie eine Lust, die es begehrt, wieder und wieder zu erleben. Es geht ihm um die genussvollen und angenehmen, die ekstatischen und faszinierenden Seiten der Erfahrung. Es geht ihm nicht um den Zustand selber, sondern um die von ihm ausgelösten Gefühlserlebnisse, gewissermaßen um die Glücksbotenstoffe und Hormone, die freigesetzt wurden.

Das Lustmuster des Egos ist der Zeit unterworfen. Das Ego weiß aus all seinen Erfahrungen, dass alles, was kommt, auch wieder geht, dass nichts von Dauer ist und deshalb auch jede Lust ein Ende hat. Es weiß auch, dass es in jeder Lust immer wieder und immer wieder die Ewigkeit suchen wird, aber dass sie diese nie finden wird. Es ist in sich gefangen wie Sisyphos im Mythos, in der Urform der selbsterzeugten Dramatik.

Also verhindert das Ego typischerweise mit seinem krampfhaften und gierigen Wollen gerade die Erfüllung dieses Wunsches. Es stellt sich selber ein Bein, indem es das Absolute auf die Ebene des Konventionellen holen will, um es dort der eigenen Kontrolle unterordnen zu können.

Doch für solche Spielchen steht die endgültige Wahrheit nicht zur Verfügung. Denn sie ist nur auf der Ebene der Freiheit zugänglich, die keine ängstliche Kontrolle verträgt. Sobald sich ein Zipfelchen des Egos an sie anhängen will, ist sie verschwunden.

Deshalb besteht die Aufgabe, die Überwindung der Pforte, darin, die Fixierungen und Konditionierungen, aus denen sich unser Ego zusammensetzt, zu durchschauen und die dahinter liegenden Ängste ans Licht zu bringen. Wir unterliegen ihnen so leicht, weil sie das Gerüst unseres konventionellen Lebens darstellen und weil wir deshalb große Angst haben, mit den Konditionierungen die Sicherheiten, an die wir uns gewohnt haben, zu verlieren.

Doch kommen wir nicht ohne unser Ego durch die Pforte, und in anderer Weise betrachtet, ist es selbst gerade die Pforte, die uns zur endgültigen Wahrheit führt. Wir „sind“ das Ego, wenn wir uns im Rahmen der konventionellen Wahrheit bewegen, also wenn wir vor der Pforte stehen, und wir müssen die Mechanismen des Egos abstreifen, wenn wir weiterkommen wollen auf dem spirituellen Weg.

Dabei ist die Selbst-Erkenntnis wichtig, dass uns der Weg der Befreiung von inneren Ängsten und Blockierungen immer mehr zu uns selber führt. Das ist unsere eigentliche Sehnsucht, die diesen Weg antreibt und mit Kraft versieht, und das Ego als Teil von uns ist auch von dieser Sehnsucht durchdrungen. Aber es fehlt ihm das Vertrauen in das Ganze und die Fähigkeit zur Hingabe. Es will Planung und Kontrolle.

Klarerweise kann der Weg zur endgültigen Wahrheit weder geplant noch kontrolliert werden, sondern er geschieht nach einer eigenen Regie, die sich unserer Neugierde und Begierde entzieht. Da geschehen immer wieder Überraschungen, die die Planungen und Erwartungen des Egos über den Haufen werfen. Es ist, als wollte das Absolute damit prüfen, ob wir wirklich bereit sind, den Weg nach Innen zu gehen. Denn jede Überraschung, ob sie uns angenehm oder unangenehm erscheint, ist eine Herausforderung im Annehmen. Wenn uns das vor allem bei unangenehmen Überraschungen gelingt, sind wir jedes Mal einen guten Schritt weiter in der Richtung auf die endgültige Wahrheit.

Wenn wir also, um im Bild zu bleiben, immer wieder scheitern, die Pforte zu öffnen, mit den verschiedensten Tricks und gefinkeltsten Methoden, die wir anwenden, und trotzdem nicht aufgeben, und wenn wir uns dabei nicht im Klagen und Hadern verlieren, sind wir in Wirklichkeit schon über die Schwelle gelangt, vielleicht ohne es zu merken.

Das Ego als Helfer auf der Suche


Wie können wir dem Ego eine gute Rolle bei unserer Suche geben? Wir brauchen es, damit es uns die Struktur und Disziplin gibt, ohne die wir auf dem Weg nicht weiterkommen: es muss uns die Energie und die Motivation zum Meditieren, zum Aufsuchen von Therapeuten und Lehrern, zum Lesen von Schriften, zur Übung der Achtsamkeit geben. Mit zunehmender Praxis wird das Ego auch williger mitzuspielen, weil seine Ängste weniger werden und es sich an den Erfolgen erfreuen kann.

Es gibt auch Stufen auf dem Weg, die mit besonders starken Ängsten besetzt sind. Das sind die gut befestigten Bastionen des Egos, und sie zeigen sich in den unterschiedlichsten Verkleidungen, zuletzt in der Sehnsucht nach mehr Wahrheit und Bewusstheit. Wenn es uns gelingt, diese Stufen zu erklimmen und die mächtigen Dämonen, die dort auf uns warten, zu überwinden, wird das Reich der Freiheit um ein ebenso großes Stück offener.

Einen Dämonen können wir nur überwinden, wenn wir ihn uns zum Freund machen, wenn wir ihn also seiner grauenvollen Maske entkleiden und seinen harmlosen Kern entdecken. Erst wenn wir alle Spielarten unseres Egos kennen gelernt haben, wenn wir alle seine Schlupfwinkel und Winkelzüge ausgeforscht haben, ist unser Ego unser wahrer Freund geworden. Vor einem wahren Freund brauchen wir uns nicht zu fürchten, und ein wahrer Freund unterstützt uns auf unserem Weg zur Wahrheit. Er geht mit uns über die Schwelle, auch auf die Gefahr hin, diesen Schritt selber nicht zu überstehen.

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