Goethe dichtete, von Schubert genial vertont: „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!“ Was ist das für ein Leid, und aus welchen Gründen tun wir es uns an?
Die Sehnsucht ist ein vielschichtiges Phänomen. Sie ist ein Konglomerat aus verschiedenen Gefühlen und enthält viele kognitive Elemente. Sie zählt deshalb zu den kognitiven oder abgeleiteten Gefühlen. Sie ist eine Form der Unzufriedenheit, die aber auch eine eigentümliche Spannung mit lustvollen Seiten enthält.
In der Sehnsucht schwelgen
Wir können mit der Sehnsucht auf zwei Weisen umgehen: Eine, die uns weg führen will aus Umständen, die uns nicht gefallen oder die uns schaden. Die andere, die uns zu etwas hinzieht, was noch nicht da ist. Es gibt also eine reaktive Sehnsucht, die in der Fantasie ungünstige Bedingungen überwinden will und von der Frustration über das, was ist, motiviert ist. In diesem Bereich kann die Sehnsucht in extremeren Fällen krankheitswertige Dimensionen annehmen.
Wenn wir in die reaktive Falle der Sehnsucht geraten, können wir uns stundenlang oder immer wieder in illusionären Fantasien verlieren und im bittersüßen Geschmack der Sehnsucht schwelgen. Wir genießen die vorgestellte Erfüllung und leiden zugleich an der mangel- und fehlerhaften Realität. Die Sehnsucht ist also fruchtlos und selbstquälend, solange sie nicht in Handlungen mündet: Jemand sehnt sich nach einem liebevollen Partner, tut aber nichts dazu, einen zu finden. Sie Sehnsucht dient als Deckmantel für die Angst vor einer Beziehung.
Tun statt Fantasie
Die andere Richtung der Sehnsucht wirkt proaktiv, indem sie uns zu Handlungen motiviert, die wir uns als Ziel setzen, um der Erfüllung der Sehnsucht näher zu kommen. In diesem Fall verwandeln wir die Sehnsucht in Motivation und schöpfen daraus die Kraft für die Verwirklichung von Visionen. Sobald wir etwas tun, verschwindet die Sehnsucht und macht der Praxis Platz, die sich an den Anforderungen der Wirklichkeit erprobt.
In jeder Sehnsucht gibt es einen kindlichen Anteil: Der Drang nach Geborgenheit, Nähe, Verstandenwerden, Liebe und Abwechslung, Stimulation durch neue Reize, nach dem Alten und Gewohnten und nach dem Aufregenden und Neuen.
Die rückwärts gewandte Sehnsucht nährt das konservative und nationalistische Weltbild mit dem Zentralthema Heimat, die uns von Fremden und Zuzüglern streitig gemacht wird. Sie treibt aber auch die Eroberer und Erforscher des Unbekannten und ist generell als Antrieb für die eigene Autonomie geeignet. Zum Beispiel kennen wir die pubertäre Erfahrung: Die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit, nach einem eigenen Leben mit mehr Selbstbestimmung motiviert zum Ausbrechen, über die Grenzen gehen und über die Stränge schlagen. Es geht um die Emanzipation von den Eltern, ihren Bevormundungen und Werten. Die Familie wird als Einengung erfahren, von der man weg will.
Prominent, viel besungen und beschrieben ist ganz besonders das andere typisch pubertäre Sehnsuchtsthema: Die Sehnsucht nach der romantischen und aufregenden Liebesgeschichte, nach dem Liebespartner der Träume, nach den unvergesslichen Momenten der Verzauberung. In seinem Ursprung in der Adoleszenz kann es gleichwohl zu einem Lebensthema werden, insbesondere bei Menschen mit einem pränatalen Zwillingsthema.
Ein reiferes Thema ist die spirituelle Sehnsucht: Die Sehnsucht nach völliger Befreiung und unerschütterlichem inneren Frieden, welche die spirituelle Suche antreibt. Zugleich bildet sie eine der vielen Fallen auf diesem Weg: Die Sehnsucht führt zwangsläufig aus dem gegenwärtigen Moment heraus, in dem allein nach Ansicht der spirituellen Lehrer die Freiheit gefunden werden kann. Die Versenkung in die aktuelle Erfahrung und ihre Details löscht sofort die Verlockungen der Sehnsucht aus.
Sehnsuchtsforschung
Am Max-Planck-Institut gibt es eine Forschungsstelle zur Sehnsucht. Dort wurde herausgefunden, dass fast alle Erwachsenen die Sehnsucht kennen. Bei Sehnsüchten geht es in der Regel nicht um etwas Konkretes wie Geld, ein schnelles Auto oder ein Designerkleid. Vielmehr dreht sich dieses Gefühl um grundlegendere Themen im Leben. Die Forscher meinen, dass die Sehnsucht in der Evolution des Menschen entstanden ist, um ihn immer wieder nach neuen Wegen zum Glück suchen zu lassen und damit die Kreativität zu entfesseln.
Es werden sechs Merkmale der Sehnsucht unterschieden:
1. Die Unerreichbarkeit einer persönlichen Utopie: Viele Sehnsüchte enthalten die Vorstellung von einem „perfekten Leben“, sei es ein grenzenloser Reichtum oder die klassenlose Gesellschaft. Das Leiden besteht in der Diskrepanz zwischen der unvollkommenen Realität und den erträumten Möglichkeiten.
2. Die Unvollkommenheit und Unfertigkeit des eigenen Lebens: Die Fehlerhaftigkeiten und Schwachstellen des eigenen Lebens und der eigenen Persönlichkeit werden durch ein erträumtes Ideal im Außen kompensiert. Zum Beispiel: Wenn ich die große Liebe finde, nach der ich mich sehne, wird mein Leben vollkommen sein.
3. Der Dreizeitigkeitsfokus: Sehnsucht ist häufig auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft ausgerichtet. So kann zum Beispiel ein Sohn, der sich nach seinem verstorbenen Vater sehnt, die guten Zeiten und Seiten des Vaters erinnern und vermissen, seinen Rat nicht mehr hören zu können. Die Sehnsucht malt zudem eine bessere Zukunft aus, wenn er noch am Leben wäre.
4. Bittersüße Gefühle: Süß sind die Phantasien vom Ersehnten, von dem, was das Leben perfekt machen würde. Bitter ist die Erkenntnis, dass es nicht real ist. Manchmal ist es das Wissen, dass wir nach etwas Unerreichbarem streben, manchmal bilden wir uns auch nur ein, dass wir ein Ziel der Sehnsucht nicht verwirklichen können.
5. Rückschau und Lebensbewertung: Sehnsüchte dienen auch zur Bewertung des eigenen Lebens. Bin ich auf dem richtigen Weg? Was fehlt in meinem Leben? Wohin soll es gehen? Werde ich meinen Idealen gerecht? Manchmal ist dieser Aspekt der Sehnsucht in die Frage gekleidet: Wie werde ich auf meinem Totenbett auf mein Leben zurückschauen? Wir erwarten mit dieser Frage, dass wir in unserem Todesprozess an den Punkt kommen werden, an dem wir über unser ganzes Leben sinnieren und dass wir dann eine rückwärts gewandte Sehnsucht entwickeln, wie es gewesen wäre, unser Leben anders zu leben, als wir es gelebt haben, z.B., wie es in einem bekannten Text heißt, wenn wir mehr Eis geschleckt hätten.
6. Der Symbolcharakter: Häufig stehen Sehnsüchte für etwas anderes. Man sehnt sich nach einem schnellen Sportauto und erwartet sich einen flotten Eindruck beim anderen Geschlecht oder die Erfahrung von Unabhängigkeit, Freiheit und Unbeschwertheit. Statt uns auf diese Qualitäten zu besinnen und zu trachten, sie mehr in unser Leben zu bringen, glauben wir, sie mit einem Konsumgut erreichen zu können. Diese Neigung ist Wasser auf die Mühlen der Werbewirtschaft.
Das Ende der Sehnsucht
Jede Sehnsucht endet im bewusst erlebten Moment. Sie hat sich darin gewissermaßen von selbst erledigt. Denn jeder dieser Momente enthält alles, was wir brauchen und was uns erfüllt. Das besagt der meditative Weg, der beste Ausweg aus allen Qualen der Sehnsucht und der mit ihr verbundenen Leiden.
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