Die Pandemie ist ein faszinierendes Phänomen, dessen Auswirkungen auf die Psyche so viele Facetten haben, wie es betroffene Menschen gibt. Wir können viele dieser Erscheinungen als Retraumatisierungen verstehen, d.h. als Wiederholungen früherer traumatischer Belastungen, die durch aktuelle Erfahrungen auftauchen und zu intensiven Gefühlsreaktionen führen.
Beängstigende Digitalität
Für viele Menschen bedeutet diese Zeit, dass sie sich mehr mit den digitalen Techniken und Medien auseinandersetzen müssen, ohne es zu wollen. Soziale Kontakte laufen wesentlich stärker über digitale Kanäle ab als über direkten, leibhaften und räumlich präsenten Austausch. Der Mangel an Nähe und zwischenmenschlicher Wärme, der daraus entsteht, ist offensichtlich; er wird gravierend, wenn durch die aktuellen Erfordernisse Mangelerfahrungen an Körperkontakt und Berührungen aus der Kindheit reaktiviert werden.
Die Mangelerfahrung wird oft auf die gesamte digitale Welt projiziert mit der Klage, dass die Computer immer mehr Raum einnehmen und das Menschliche immer weiter zurückgedrängt wird. Dieser Trend ist unübersehbar und hängt mit der Unumkehrbarkeit der technologischen Entwicklung und der Dynamik des menschlichen Fortschrittsgeistes zusammen. Menschen wollen erfinden und gestalten, und die Folgen dieser Erfindungen und Gestaltungen melden sich erst nachträglich und müssen auf der sozialen Ebene bewältigt werden.
Schwierig wird diese Verarbeitung dann, wenn die digitale Welt mit ihrer rationalen Logik und ihren standardisierten Abläufen mit dem emotionalen Klima der eigenen Frühzeit in Verbindung kommt. Schnell erscheint diese Welt undurchsichtig und feindlich, querlaufend mit den eigenen Bestrebungen. Es verschwinden die Perspektiven, wie trotz vermehrter Digitalität die analogen zwischenmenschlichen Beziehungen gepflegt werden können und wichtig bleiben.
Eltern, die ihren Kindern immer wieder mit Spontaneität, Lebensfreude und Begeisterung begegnen, vermitteln emotionale Lebendigkeit und Sicherheit. Eltern hingegen, für die ein geregeltes Leben mit festgefügten Ritualen und Regeln wichtig ist und die die Erziehung danach ausrichten, dass die Kinder in die vorgegebenen Schemata eingepasst werden, vermitteln den Funktionsmodus als Normalzustand.
Kinder mit diesem Hintergrund haben dann vor allem zwei Möglichkeiten: Sie identifizieren sich mit dem Funktionieren und richten sich in dieser kargen Welt ein. Ihnen wird die digitale Welt schnell vertraut und sie wachsen leicht in die abstrakten Zusammenhänge hinein. Die anderen bleiben dem Leiden am Mangel verhaftet, sodass sie jede Form der Digitalität an die Leblosigkeit im eigenen Familiensystem erinnert und abstößt. Schon die Eltern wurden als technische Gebilde erlebt, mehr als Maschinen denn als Menschen, deren Funktionsweisen erlernt werden müssen, um das eigene Überleben zu sichern. Zugleich konfrontiert jede Beschäftigung mit dem Medium und den Geräten mit dem Widerwillen gegen und der Abscheu vor den emotionalen Abweisungen in der Kindheit. Jemand, der oft kaltgestellt wurde, vielleicht sogar physisch (in den Keller gesperrt), wird jeden sperrigen digitalen Vorgang mit Kälte und Unlebendigkeit assoziieren.
Was mit digitalen Geräten häufig passiert: Ein Knopfdruck ist falsch, schon stürzt alles ab. Was früher geschehen sein mag: Ein Blick oder eine Lautäußerung ist falsch, und schon bricht der Kontakt ab. In jedem Moment kann das soziale Überleben in Frage gestellt sein, ohne dass ersichtlich ist, was eigentlich falsch gelaufen ist, welcher Fehler gemacht wurde. In der Fragilität der Technik zeigt sich die Fragilität der frühen Beziehungen. Diese Mangelerfahrungen und Verletzungen steuern die emotionale Ladung bei, die existenziellen Gefährdungen aus den Vorerfahrungen liefern die emotionale Dramatik.
Aufgezwungene Einsamkeit
Diese Entwicklungen stehen in Zusammenhang mit den Regelungen für persönliche, also analoge Kontakte. Die Lockdowns haben für die meisten Menschen radikale Einschränkungen der sozialen Kontakte nach sich gezogen. Mit den Verlusten an analogen Formen des Austausches, die nur äußerst mangelhaft durch digital vermittelte Begegnungen ersetzt werden können, haben sich bei vielen Menschen Einsamkeitsgefühle gemeldet. Mit dem Andauern der Maßnahmen sind diese Gefühle langsam zu oft sehr belastenden Grundstimmungen herangewachsen sind, die bis zu Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit führen können.
In diesen Gefühlen spiegeln sich alle Erfahrungen des Abgeschnittenseins und Verlassenseins wider, die in der frühen Lebenszeit aufgetreten sind. Es können Geburtserfahrungen sein (die Mutter ist nach der Geburt nicht da oder die Plazenta wurde zu schnell abgetrennt) oder Erlebnisse aus der Kindheit (die Eltern sind häufig weg oder emotional nicht anwesend). Unverstandene Kinder erlebten sich als einsam und verlassen, oft mitten in einer Familie mit vielen Menschen und oberflächlichem Reden.
Das Gefühl des Abgeschnittenseins, das schon im Wort Lockdown mitschwingt, wird vor allem dann reaktiviert, wenn es frühe Erfahrungen gibt, dass die Verbindung zu den Hauptbezugspersonen verloren geht. Der Beziehungsabbruch kann jäh oder schleichend geschehen, also als akutes Trauma oder als Entwicklungstraumatisierung (subtilere Unterbrechungen der emotionalen Kommunikation, die immer wieder auftreten) erlebt werden. Die Kontaktverbote und Mobilitätseinschränkungen, die im Lockdown angeordnet werden, werden im emotionalen Gedächtnis mit den frühen Frustrationserfahrungen in Verbindung gebracht und können quälende Einsamkeitsgefühle wachrufen.
Gibt es aus der Kindheit die bittere Erkenntnis, dass die Hoffnung auf die Wiederaufnahme emotional nähernder Beziehungen aussichtslos ist, besteht eine Grundlage für spätere Depressionen. Die Frustration paart sich mit Hoffnungslosigkeit, mit schwarz eingefärbten Zukunftsbildern. “Es wird nie wieder so werden, wie es einmal war. Es wird alles immer schlimmer,” so ist es auch heute oft zu hören. Das resignierte Kind, das sich Auswege in einer Fantasiewelt suchen muss, klingt durch solche Aussagen hindurch. Deshalb blühen die Fantasieserien in der Welt der gestreamten Medien.
Die Abhängigkeit vom Netz
Die technischen Geräte gewinnen ihre Informationen aus dem Netz. Ohne Verbindung sind sie in vielen Belangen hilflos und wertlos. Kaum bricht die Verbindung ab, stehen wir vor einer Leere, die wieder Ängste auslösen kann, die in keinem Verhältnis zur aktuellen Lage stehen. Denn die Anbindung ans Netz, die als so existenziell erfahren wird, spiegelt die Einnistungsthematik aus der Pränatalphase wider. Die Abhängigkeit von Kabeln oder kabellosen Verbindungen wird auf einer unbewussten Ebene mit Überlebensnotwendigkeiten assoziiert. Wenn das Kontaktmedium versagt und die Datenübertragung abbricht, gleicht es einer Katastrophe. Das ursprüngliche Kontakt- und Verbindungsmedium, die Nabelschnur im Mutterleib, war die Ader, die uns am Leben gehalten und unser Wachstum gefördert hat. Jede Unterbrechung des Austauschflusses war eine Überlebensbedrohung und jede spätere Erinnerung daran bringt die alten Gefühle hoch.
Das Netz ist eine interessante Metapher, die an die frühe Schnittstelle erinnert, über die wir zur Außenwelt kommuniziert haben, die Plazenta, ein netzartiges Gebilde, das von kilometerlangen Blutgefäßen durchzogen ist. Wir sind in vielen Bereichen vom Datennetz abhängig geworden, so wie wir als Föten von der Plazenta abhängig waren. Allerdings hängt heutzutage unser Überleben nicht mehr vom Funktionieren der Schnittstellen zu den Informationsflüssen ab, aber die Ängste, die ein Versagen der Netze auslöst, können heftig empfunden werden, sobald die Erinnerungen an früher mitschwingen.
Diese Lasten aus der Vergangenheit werden in Zeiten wie diesen, die von Unsicherheit und Ungewissheit geprägt sind, besonders leicht reaktiviert. Nur merken wir meist nicht, was wirklich vorgeht, wenn die Gefühle hochgehen und sich Ängste breit machen. Wir schieben die Macht unsere Gefühle auf die Außenbedingungen und schreiben sie den neuen Herausforderungen zu, die durch die geänderten Umstände auftreten. Dabei vergessen wir oft das hohe Niveau an Sicherheit und Berechenbarkeit, das wir erschaffen haben und das unserem Erwachsenenbewusstsein zugänglich ist. Immer wieder gewinnt das verletzte und verängstigte innere Kind die Oberhand – solange es nicht vom Erwachsenenanteil in uns verstanden ist und beruhigt werden kann.
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