Dazu zählt die Frage des Umgehens mit den Unterschieden im Wachstum. Wenn wir schon die Analogie des Wachsens verwenden, heißt das, dass wir mit jedem Schritt der inneren Entwicklung ein wenig größer werden als andere, die sich nicht entwickeln. Und wenn wir größer werden, schauen wir auf sie hinunter. Damit sind wir schon in der Metapher für Überheblichkeit. Wir fühlen uns "besser" (im Sinn von überlegen) als unsere Mitmenschen die gar nicht oder weniger an sich gearbeitet haben, die einen anderen Weg verfolgen oder nicht weiterkommen. Vielleicht verstehen wir nur ihre Art des Weiterkommens nicht, aber das bekümmert uns nicht, wenn wir in dieser Einstellung befangen sind.
Jedenfalls entsteht eine Kluft, die uns von Menschen, die uns bisher vertraut waren, unterscheidet. Selbstverständlichkeiten, die vorher gegolten haben, funktionieren nicht mehr. Wir sehen uns selbst und die anderen in einem neuen Licht, und dieses Licht erzeugt neue Schatten, so, als würden die Fehler und Schwächen der anderen Personen überdeutlich werden im Vergleich zu ihren Stärken und Schönheiten.
Weshalb wollen wir uns unterscheiden?
Wir brauchen Unterschiede, weil sie uns motivieren, Anstrengungen für das Wachstum zu unternehmen. In der relativen Welt braucht es Motivatoren, die das Ausbrechen aus Mustern schmackhaft machen. Schließlich haben wir uns gut in unseren Gewohnheiten eingelebt, und sie geben uns eine gewisse Bequemlichkeit und Sicherheit. Wollen wir der Enge, die sie uns gleichwohl bereiten, entkommen, brauchen wir eine Idee von Fortschritt, von Verbesserung, von einem Zustand, zu dem hin wir uns entwickeln wollen. Sonst wären die Kräfte der Beharrlichkeit übermächtig.
(Es mag wohl irgendwann auf der Reise den Punkt gehen, an dem wir verstehen, dass es keinen wirklichen Fortschritt gibt, sondern nur Bewegung. Aber solange wir diese Sichtweise nicht voll inkorporiert haben, brauchen wir dieses wertende Unterscheiden, das hinter dem Fortschrittsbegriff steckt.)
Wachstum und Vergleichen
Wie schon im Beitrag über die Phasen der Entwicklung beschrieben, beginnen Menschen ihren Erforschungsweg mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Voraussetzungen. Sie wählen auch unterschiedliche Herangehensweisen, Methoden und Techniken. Damit ist klar, dass prinzipiell jeder Weg individuell und einzigartig ist.
Dennoch neigen wir dazu, uns zu vergleichen, weil wir immer eine Abstimmung unserer inneren Erkenntnisse mit den anderen Menschen suchen. Wir wollen ja nicht aus der Gemeinschaft der Menschen herausfallen, wenn wir uns in neue Richtungen bewegen. Über lange Perioden unseres Lebens galt eine Hauptbestrebung der Anpassung an die Umstände, denen wir ausgesetzt waren, und an die Erwartungen, die auf uns gesetzt wurden.
Doch so können wir uns irgendwann nicht mehr verhalten, weil es uns wie ein Verrat uns selbst gegenüber erscheinen würde. Wir sind anders geworden und müssen deshalb auch das Verhältnis zu den anderen neu bestimmen. Das geht meist nicht ohne Schwierigkeiten, für uns und für sie. Wir suchen Gleich-Gesinnte, die uns bestätigen, dass wir am richtigen Weg sind - und dass die anderen es nicht sind.
Zum Verständnis des unterschiedlichen Erlebens von Unterschieden in der Entwicklung greife ich auf das Phasenmodell des individuellen Wachstums zurück.
Phase 1: Selbstabwertung und Selbstannahme
Wer auf den inneren Weg geht, hat bemerkt, dass er nicht mehr so funktionieren kann, wie es ihm bisher gelungen ist. Eine innere Unruhe, eine Unzufriedenheit mit dem Leben, Schwierigkeiten in Beziehungen, seltsame körperliche Beschwerden; irgendwo hat sich etwas im eigenen Leben quergelegt, was nicht mit den herkömmlichen Strategien auf gleich gebracht werden kann. Es wird deutlich, dass etwas an einem selber unrund oder mangelhaft ist.
Also muss Hilfe gesucht werden, und das ist mit dem Eingeständnis verbunden, es alleine nicht zu schaffen, was für viele einer Peinlichkeit und Demütigung gleichkommt. Bisher haben sie so bravourös ihr Leben gemeistert, so viel geschafft, und nun stehen sie an und wissen nicht weiter.
Andere, die sich leichter tun, Hilfe zu suchen, weil sie das gewohnt sind, bestätigen sich zwar weiter in ihrer Hilflosigkeit, wenn sie an eine Engstelle kommen. Für sie zeigt sich der Punkt der Scham dort, wo sie erkennen, wie sie andere Menschen ausgenutzt und manipuliert haben, damit sie die eigenen Schwächen ausbügeln.
Neidvoll geht der Blick auf die vielen Menschen, die so selbstverständlich und erfolgreich den Geschäften ihres Lebens nachgehen, scheinbar ohne innere Probleme, Skrupel und Ängste. Aalglatt und stromlinienförmig gleiten sie durch die Fährnisse des Alltags. Zum Unterschied von einem selber sind sie nicht auf Hilfe angewiesen, um mit dem eigenen Leben klarzukommen.
Die bittere Klage über das eigene Schicksal führt bald auf die Suche nach den Verantwortlichkeiten, nach den Tätern, die einen in diese hilfsbedürftige und abhängige Position gebracht haben. Wer hat mir die Schäden zugefügt, an denen ich jetzt leide?
Die Klage wird zur Anklage, auch deshalb, weil das Ausmaß der eigenen Misere im Vergleich zu den so tüchtigen Anderen spürbar wird. Denn der innere Erforschungsprozess führt zu den dunklen Flecken der eigenen Biographie, auf die zugefügten Schmerzen und Einschränkungen in den frühen Phasen des Lebens. Er führt zur Erkenntnis, dass zu wenig Liebe und zu viel Druck da war, als dass eine gedeihliche Entwicklung der eigenen Persönlichkeit möglich gewesen wäre.
Andere haben da offenbar besser abgeschnitten vom Kuchen der Vorzüge des Lebens. Ihnen gilt der Neid und eine gebrochene Bewunderung. Denn der Verdacht wächst, dass hinter den Fassaden der Glücklichen und Erfolgreichen unerkannte und unbewusste seelische Gebrechen schlummern können - wie der Konsument der Regenbogenpresse beiderlei braucht: Die Traumhochzeiten, Reichtümer und Glücksanhäufungen der Berühmtheiten, die neidvoll bewundert werden, und die Skandale, Zusammenbrüche, Albtraum-Scheidungen, die mittels klammheimlicher Schadenfreude die Selbstwertbalance wieder herstellen.
Phase 2: Stärkung der Selbstperspektive
Die Erfolge in der Selbsterforschung und -erkenntnis werden spürbar. Vielleicht sind die Probleme noch die gleichen, aber die Einstellung dazu hat sich verändert. Vor allem die Haltung zu sich selbst gestaltet sich um: Statt die Abwertungen, die im Lauf der frühen Lebensgeschichte in die eigene Seele übernommen wurden, destruktiv auf sich selbst anzuwenden, wird die Selbstachtung Schritt für Schritt aufgebaut. Es fällt zunehmend leichter, sich selbst so anzunehmen, wie man/frau ist.
Doch ruht die Selbstakzeptanz noch auf wackeligen Beinen, deshalb bewirkt sie noch nicht automatisch, auch die anderen so anzunehmen, wie sie sind. Vielmehr entsteht häufig zunächst eine Reaktionsbildung derart, dass die Abwertung, die man selbst erlitten hat, unbewusst gegen andere gerichtet wird. Ihre Fehler werden umso deutlicher erkannt, je mehr einem die eigenen Schwächen bewusst wurden. Als Ausgleich für den lange ertragenen Mangel an Wert werden die Schwachstellen der Mitmenschen unerbittlich aufgedeckt und bloßgestellt. Die neu gewonnene Selbsteinsicht, verbunden mit einer neuen Selbstsicherheit, wird abwertend gegen die anderen gerichtet, die noch nicht so weit sind. Der Lohn für die eigene Arbeit an der Überwindung der Ängste besteht darin, die Überlegenheit über andere zu kultivieren und sich damit eine vorläufige Form der sozialen Sicherheit aufzubauen. Vor jemandem, der selber Schwächen hat und sie vielleicht gar nicht kennt, braucht man keine Angst – und auch keinen Respekt zu haben.
Es wird dann gerne verglichen - wie viel weiter sind andere, vor allem Identifikationsfiguren für das eigene Wachstum wie Lehrer oder Therapeuten? Gerne werden aber auch andere gesucht, bei denen man sich beruhigt vergewissern kann, um wie viel weiter man selbst fortgeschritten ist als sie. Das Vergleichen führt also entweder in die Position der Überheblichkeit oder der Minderwertigkeit, je nach der Richtung, in der der Vergleich angelegt wird. Es spiegelt die Unsicherheit in der Selbstannahme wider und soll das Ich stärken und stabilisieren.
Der Mechanismus dieser Phase kann auch als eine Umkehrung ins Gegenteil verstanden werden. Aus dem abgewerteten Opfer entsteht der abwertende Täter. Stolz und Verachtung bekommen eine neue Verwendung. Sie richten sich gegen diejenigen, die "noch nicht so weit sind", "so unbewusst und unreflektiert" durchs Leben laufen, "so wenig begriffen haben, worum es eigentlich geht". Eigene Erfahrungen werden in Belehrungen umgemünzt. Die eigene Methode muss die beste sein, die eigene Lehrerin die vollkommenste. Es wird ein missionarischer Predigerton angeschlagen, und es gibt dann nur mehr diejenigen, die die Wahrheit teilen, und die anderen, die an ihrer Unwahrheit verderben.
Unterschiede im Wachstum werden zum eigenen Vorteil ausgeschlachtet, was, vom "Täter" meist unbemerkt, das eigene Ego stärkt und damit dem nächsten Wachstumsschritt im Weg steht. Denn dieses Ego hat sich gerade in seiner Stärke und Selbstbewusstheit gefunden und will sich nie mehr unterkriegen lassen.
Phase 3: Zurücknahme des wertenden Unterscheidens
In dieser Phase werden die Beziehungen in ihrer überindividuellen Dynamik erkennbar: Es gibt Kräfte, die sich der Kontrolle des Einzelnen entziehen, und die nicht einer einzelnen individuellen Macht unterworfen werden können, sondern von mehreren Seiten her verstanden werden wollen. Dann erst können sie gemeinsam verändert und gestaltet werden.
Es wird erkannt, wie das Vergleichen die eigene Entwicklung torpediert, statt sie weiterzubringen. Die neue Einstellung kann die Unterschiede unter den Menschen zulassen und wertschätzen. Wie können die Unterschiede zum gegenseitigen Bereichern beitragen?
Kommt es zu "Fehlern", so beginnt jetzt die Suche bei sich selbst, statt sie den anderen anzulasten. Was kann ich an mir ändern, damit es mir besser geht? Wie kann ich anders auf die Mitmenschen zugehen, damit sie mir freundlicher begegnen?
Je eingehender das systemische Denken verstanden und angewendet wird, desto fragwürdiger wird der Begriff des "Fehlers" überhaupt. Denn zu jedem Zeitpunkt geschieht das Optimale, zu dem wir jeweils in der Lage sind. Nachträglich erkennen wir zwar häufig, dass wir etwas anders hätten machen können, was für uns vorteilhafter gewesen wäre. Aber statt den vergangenen übersehenen Chancen nachzuträumen, geht der Blick auf das, was für die Zukunft besser und anders gemacht werden kann.
Zusätzlich geht, wenn ein emotionales Problem auftaucht, der Blick dorthin, wo die Wurzel in einem selber liegen könnte, die bewirkt, dass eine bestimmte Situation als belastend oder störend erlebt wird.
Sobald sich jemand als erstes auf sich selbst ausrichtet, wenn es darum geht, die inneren Umstände des eigenen Lebens zu verändern, wird das Vergleichen mit anderen weniger interessant. Niemand ist in der gleichen Lage, in der wir uns selber befinden. Zwar gibt es Ähnlichkeiten, von denen wir uns Anregungen nehmen können, aber wichtiger sind jetzt die Unterschiede, die die eigene Situation einzigartig machen. Nur so können wir herausfinden, was für uns am förderlichsten ist und wie wir uns dorthin verändern können.
Phase 4: Verbindung im Fließen
Das eigentliche Ziel der Entwicklung ist die Freiheit von Ängsten und Abhängigkeiten und die Öffnung für die Kraft der Liebe. Je näher die erforschende Person diesem Ziel kommt, desto leichter kann sie selber mit den eigenen Problemen und Engstellen umgehen. Sie wird nicht mehr in Versuchung kommen, andere Menschen für das eigene Leiden verantwortlich zu machen, sondern die Wurzeln des Leidens in sich selber suchen und dort aufzulösen trachten. Sie praktiziert Methoden dafür oder weiß, wo sie sich kompetente Unterstützung holen kann. Bei Störungen in der Kommunikation mit anderen wird ein Weg der achtungsvollen Wiederherstellung der Verbindung gesucht.
An die Stelle des Vergleichens tritt ein Mitgefühl ohne Unterschied und Ansehen der Person. Statt andere Menschen ändern zu wollen, wirkt das Prinzip des Nicht-Wollens. Es braucht keine Absicht mehr, es genügt das liebevolle Dasein für das, was gerade ist, und die freundliche Zuwendung für die Person, mit der wir gerade zu tun haben.
In dem Maß, in dem die Erfahrung des Fließens in der einen oder anderen Form auftritt, wird die Verbundenheit mit dem Erleben im Moment so stark, dass Konzepte, die Unterschiede zu anderen Menschen und deren Erfahrungen aufbauen, nicht mehr gebraucht werden. Alles gilt gleichermaßen, was Menschen erleben und wie sie ihr Leben führen. Alles davon ist verwandt mit eigenen Erfahrungen, nichts ist wirklich fremd. In diesem Bewusstseinszustand zählen keine Wertungen mehr, jedes Wesen darf so sein, wie es ist und kann so wertgeschätzt werden. Die Liebe, die sich darin zeigt, ist nicht mehr an Bedingungen gebunden, sondern fließt frei.
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