Sonntag, 17. Dezember 2017

Trauma und Sinnsuche in der Dissoziation

Unter Dissoziation wird die Fähigkeit verstanden, Bewusstsein und Körper zu trennen und in eine von der momentanen Realität losgelöste Erlebenssphäre abzutauchen. Es werden bei diesem Vorgang entsprechende Schaltungen im Gehirn aktiviert bzw. deaktiviert, wodurch beispielsweise der visuelle Eindruck entstehen kann, sich selber von außen zu beobachten. Missbrauchte Kinder berichten, dass sie die schreckliche Szene am Fensterbrett sitzend beobachten konnten. Folteropfer erzählen, dass sie aus ihrem gequälten Körper herausschwebten und dabei ein Triumphgefühl erlebten.

Der Sinn der Reaktion liegt darin, dass sich das Bewusstsein vor massiven Schmerzen und Ängsten schützen kann. Es handelt sich um einen Überlastungsschutz, ähnlich einer Sicherung, die bei einer Überbeanspruchung von Leitungen den Strom abschaltet. Die Verbindung zum eigenen Körper wird gekappt. Um die Überflutung des Bewusstseins mit Schmerzen und Stress zu bewältigen, werden viele Nervenverbindungen abgeschaltet, während andere, für die Aufrechterhaltung des Bewusstseins zuständige Gehirnregionen aktiv bleiben, sodass der subjektive Eindruck entsteht, dass sich der Geist vom Körper trennt.

Diese Fähigkeit kann, wenn sie einmal bekannt und vertraut ist, später in ähnlich belastenden Situationen aktiviert werden. Manche Menschen mit einer ausgeprägten Traumageschichte entwickeln die spezifische Fähigkeit, sich dissoziierend aus Situationen auszuklinken, die belastend und überfordernd sind, wobei diese Fähigkeit in seltenen Fällen sogar bewusst eingesetzt werden kann, während sie meistens unbewusst auftritt. Schwer traumatisierte Patienten berichten, dass sie ihre Persönlichkeit aufteilen können: Ein Teil leidet, ein anderer tröstet, ein dritter erklärt, was los ist.

Merkmale einer Dissoziation


Die dissoziative Erfahrung fühlt sich unwirklich an, fremd in Bezug auf die gerade aktuelle Realität. Der Körper kann sich abgetrennt und unlebendig anspüren. Manche berichten von dem Gefühl, neben sich zu stehen. Im Extremfall meldet sich eine Angst verrückt zu werden oder schon zu sein. In milderer Form zeigen sich dissoziative Tendenzen im geistigen Weggehen aus einer Situation, in Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeiten und Gedankenschweifen. Wir alle kennen also Dissoziationen in mehr oder weniger ausgeprägten Gestalten.

Dissoziation und Spiritualität


Dissoziation ist nicht nur eine wirksame Methode zum Überleben während eines Traumas, sondern kann darüber hinaus sinnstiftend wirken und für tiefere spirituelle Einsichten öffnen. Es gibt viele Berichte über spirituelle Erfahrungen während einer traumatischen Erfahrung, ermöglicht durch den Dissoziationsmechanismus: Lichterfahrungen, Glückseligkeitsgefühle, Begegnungen mit Geistwesen usw.

Traumatisierte Personen suchen oft ein Leben lang nach Sinn, da im Trauma die Verbindung mit dem organischen Lebensprozess unterbrochen wurde. Der Sinn ist in der schrecklichen Situation der Traumatisierung abhanden gekommen, die Folge sind Verwirrung und Verzweiflung in einer bedrohlichen Umwelt. Dagegen kann es nur ein Gegenmittel geben, die Sinnsuche in einer Überrealität. Die Dissoziation bietet sich als Methode und als Weg an. Das Herausgehen aus einem Körper, der so viel Leiden erfahren hat und in sich trägt, dient zur Kompensation. Die lichtvolle Weite, die sich jenseits des Körpers zeigen kann, wird zum Fixstern der Sehnsucht und Ausflucht aus einer Welt der Dunkelheit.


Der finstere Körper und die strahlende Entkörperung – eine schillernde Dualität, die sich in vielen leibfeindlichen Traditionen und religiösen Strömungen findet. Sie ist aus der Psyche des Traumaopfers verständlich und nachvollziehbar. Aber in der Gestalt von spirituellen oder religiösen Lehren kann sie irreführend wirken. Denn der Zugang zur Spiritualität öffnet sich nicht in der Abspaltung vom Körper, sondern aus ihm heraus, unter Einschluss aller Erfahrungsbereiche des Menschen. Spiritualität gibt es also nur als ganzheitliche Erfahrung, nicht als Resultat von Abspaltungen.

Deshalb müssen die Traumatisierungen aufgearbeitet werden, um den vollen Zugang zur Welt der Spiritualität zu gewinnen. Die Heimat muss im Körper wiedergefunden werden. Er ist das Zentrum dieser Welt, die es nur im jeweiligen Hier und Jetzt gibt.

Menschen mit heftigerer Traumaerfahrung haben denen mit geringerer Belastung voraus, dass sie sich nicht so leicht mit der relativen Gestörtheit des Alltagslebens in der Gesellschaft zufriedengeben können. Sie suchen nach einem Sinn, der früh schon verloren gegangen ist und deshalb auch in der Welt von Leistung und Konsum nicht gefunden werden kann. Die Bekanntheit mit der Dissoziation kann den Zugang zu spirituellen Methoden erleichtern und die Phänomene, die dort auftreten, vertrauter finden. Häufig verfügen sie über eine erhöhte Sensibilität und feinere Wahrnehmungen, und sie können sich leichter für andere Wahrnehmungsdimensionen öffnen, da sie das Austreten aus der aktuellen Realität schon kennen.

Andere, die weniger massiv belastet wurden, sind besser im Lebensalltag verankert und stellen seine Eigentümlichkeiten schwerer in Frage. Sie haben weniger spektakuläre Erfahrungen mit Dissoziation (Abschweifen, Gedankenverloren-Sein, Unkonzentriert-Sein statt irritierende außerkörperliche Erfahrungen) und halten sie für normale Aspekte der Lebenspraxis. Das Relative und das Absolute erscheint ihnen weniger deutlich unterschieden, und sie vermeiden eher extreme Ausgestaltungen eines spirituellen Lebens. Wenn sie auf Sinnsuche gehen, bewegen sie sich eher graduell weiter, ohne spektakuläre Sprünge oder Durchbruchserlebnisse.

Die Verantwortung des Lehrers


Spirituelle Lehrer kann man danach unterscheiden, ob sie ihre Einsichten aus der Dissoziation gewonnen haben und deshalb Prozesse unterstützen, die mit Abspaltung verbunden sind, oder ob sie ganzheitliche und dissoziative Erfahrungen auseinanderhalten können und deshalb in der Lage sind, Menschen, die zur Dissoziation neigen, in den Körper zurückzubringen und zu körperlichen spirituellen Erfahrungen zu führen.

Manche Lehrer und Gruppenleiter arbeiten mit „bewusster Dissoziation“, sie leiten also Übungsprozesse an, in denen das Bewusstsein aus dem Körper heraus in einen jenseitigen Raum steigen soll. Dort könne sie dann an Ressourcen herankommen, die sonst unzugänglich sind. Das sind harmlose Übungen, solange die übende Person „in ihrem Körper“ „aus ihrem Körper“ herausgeht. Das Bewusstsein, im eigenen Körper verankert zu sein, sollte also nie verloren gehen, wohin auch immer die innere Fantasiereise geht. Denn solche Methoden beinhalten das Risiko, Prä-Trans-Verwechselungen zu fördern statt aufzulösen: In der dissoziativen „spirituellen“ Erfahrung wird die Traumasituation wiederholt und die Abspaltung verstärkt, wodurch auf die Aufstiegserfahrungen umso heftigere Abstürze folgen können. Statt in einem Zustand der Erlösung anzukommen, wird eine unverarbeitete Angstsituation wiederbelebt.

Es ist auch wahrscheinlich, dass Schülerinnen mit starken Dissoziationsneigungen Lehrerinnen suchen, die diese Tendenzen fördern. Sie werden fasziniert sein, wenn sie Lehren hören, die die Abspaltung und den Körper-Geist-Dualismus beinhalten, wie sie in vielen esoterischen Theorien vertreten sind. Auch kann es sein, dass auf die Lehrerin die Lichtgestalt projiziert wird, die in der ursprünglichen Dissoziationserfahrung aufgetreten ist. Von ihr wird jetzt Heilung und Befreiung erwartet, und die Schattenseiten und menschlichen Schwächen werden ausgeblendet. Umgekehrt gibt es unter solchen Lehrern viele, die gerade diese Idealisierung fördern und damit indirekt die Abtrennung ihrer Schüler von ihrer eigenen Kraft und Klarheit bestärken, obwohl sie vielleicht das Gegenteil predigen.

Dagegen helfen alle Meditationsformen, die mit dem Körper verbinden, zu einem klaren spirituellen Weg. Das konsequente Wahrnehmen von Körperempfindungen, wie sie in der Vipassana-Meditation geübt wird oder die Bewusstheit auf das Atmen, die Teil vieler Achtsamkeitsmeditationen ist, sind Beispiele dafür, wie die Tendenz zum „Ausbüchsen“, zum Abheben in außerkörperliche Sphären hintangehalten werden kann. Auch „aktive“ Meditationsformen, die mit Bewegung und intensivem Atmen verbunden sind, wirken dissoziativen Tendenzen entgegen. Hier braucht es auch keine übermächtigen und angebeteten Lehrer und Meister, sondern Menschen, die kompetent und verantwortungsvoll auf dem Weg der inneren Suche begleiten können.

Therapie und Meditation


Die Stärkung der Verankerung in der gegenwärtigen Wirklichkeit schafft Vertrauen und Sicherheit. Die Aufarbeitung der Traumatisierungen ist dennoch notwendig, aber die Erfahrungen in der körperzentrierten Meditation helfen in der Traumatherapie, die damit auf eine wichtige Ressource zurückgreifen kann. Umgekehrt erlauben die aufgearbeiteten Traumen weitere Fortschritte auf dem inneren Weg der Befreiung. In jedem Trauma sind besondere Kräfte gebunden, die das Überleben dieser Situationen ermöglicht haben. Sie stehen wieder zur Verfügung, wenn die Ängste und Schmerzen durchlebt sind. Die Arbeit lohnt sich, die dissoziativen Tendenzen im Alltag werden weniger, die Präsenz steigt und damit wird das Leben in seiner lebenswerten Seite offenbar, und die spirituellen Erfahrungen beschränken sich nicht mehr auf die Retreats und Seminare, sondern werden zur tragenden Schwingung des tagtäglichen Lebens.

Zum Weiterlesen:

Dissoziative Weltbilder
Prä- und transrationale Erfahrungen unterscheiden

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