Erzeugen wir unsere Gedanken oder erzeugen uns unsere Gedanken? So könnten wir fragen, wenn wir uns mit den Schlussfolgerungen auseinandersetzen, die immer mehr Forscher aus verschiedenen neurophysiologischen Befunden ziehen.
Lange Zeit waren die Denker und Denkforscher der Meinung, dass Gedanken, Bewertungen, Glaubensannahmen und all die anderen Denkinhalte, die tagtäglich unseren Kopf füllen, Teile dessen sind, was man mit Bewusstsein bezeichnet. Deshalb nehmen wir auch an, dass wir diese Gedanken bewusst erzeugen, indem wir sie denken. Dem widersprechen nun Forscher, die Belege dafür gefunden haben, dass die Gedanken nicht aus unserer persönlichen Bewusstheit stammen, sondern dass sie in unbewusst ablaufenden Systemen entstehen, die im Hintergrund laufen.
Das würde bedeuten, dass wir unsere Gedanken nicht bewusst auswählen, sondern dass wir uns ihrer nur bewusst werden, wenn sie schon fabriziert sind und nachdem sie sich von sich aus in unser Bewusstsein gedrängt haben. Solche Ansichten widersprechen der großen Tradition des Denkens, die vom autonomen Denk-Subjekt ausgeht, das seine Gedanken steuern, formen, entwickeln und verändern kann. Was heißt dann noch „Nachdenken“, „Hinterfragen“, „Reflektieren“?
Innenschau
Wenn wir nach innen in unseren Kopf spüren, mit dem Ziel, unseren Gedanken beim Entstehen „zuzuschauen“, werden wir leicht erkennen, dass sie „von irgendwo her“ kommen. Wir beginnen damit, uns den Kopf als leer vorzustellen und merken dann, dass die Gedanken vom Rand dieses leeren Raumes in ihn eindringen und dabei Gestalt annehmen, wie Personen, die aus dem Dunkel langsam ins Licht treten. Es wird in dieser Innenschau ganz offensichtlich, dass es die Gedanken schon geben muss, bevor sie ins Bewusstsein treten. Sie werden aber erst durch dieses vom Hintergrund in den Vordergrund-Kommen zu Gedanken. Wir „wissen“ ja nicht, was sie vorher – oder im Hintergrund waren.
Studien und Schlussfolgerungen
Zwei britische Forscher, David A. Oakley vom University College London und Professor Peter Halligan von der Cardiff University, haben aus verschiedenen Untersuchungen den Schluss gezogen, dass wir unsere Gedanken nicht bewusst und absichtlich wählen, sondern dass sie uns einfach nur bewusst werden. So zeigen Experimente, dass unser Gehirn gleichermaßen reagiert, wenn der Arm von einem Flaschenzug gehoben wird oder als Folge einer hypnotischen Suggestion, während beim absichtlichen Armheben ganz andere Hirnareale aktiv werden. Andere Studien und viele praktische und klinische Erfahrungen mit Hypnose belegen, dass unsere Stimmungen und Gedanken durch Suggestionen, also durch die Beeinflussung des Unbewussten verändert werden können.
Daraus folgern die Wissenschaftler, dass die unbewusst operierenden Systeme unseres Gehirns in der Lage sind, „alle psychologischen Aktivitäten durchführen können, von denen traditionellerweise angenommen wurde, dass sie vom ‚Bewusstsein' abhängen. In Übereinstimmung mit dieser letzteren Ansicht wurde auch argumentiert, dass die bewusste Kontrolle des Verhaltens eine reine Illusion darstellt.“
Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass auch Bewegungsabläufe zunächst in den unbewussten Systemen vorbereitet werden und „dass die Bewusstheit über die Absicht zum Bewegen erst dann erfahren wird, wenn die Vorbereitung Teil eines fortlaufenden, unbewusst erzeugten persönlichen Narrativs wird.“
Zusammenfassend heißt das, dass das persönliche Selbst-Bewusstsein ein Erzeugnis von vorher unbewusst ablaufenden Prozessen des Gehirns ist und dass es deshalb für sich keine funktionale Rolle in der Beeinflussung der nachfolgenden Gehirnzustände hat. Deshalb kann die Erfahrung der Bewusstheit als ein Epiphänomen bezeichnet werden, als etwas, das kausal entstanden ist, ohne selbst eine kausale Wirkung auszuüben, also ein Randphänomen mit geringer Bedeutung in der unendlichen Vielfalt der Vorgänge.
(Hier zur Quelle der Zitate - Übersetzung WE)
Die persönliche Erzählung
Woher kommen all diese Gedanken? Sie kommen aus der gleichen Quelle, die auch unsere Gefühle steuert. Wir verfügen über ein autobiografisches Gedächtnis, in dem unsere Lebensgeschichte abgespeichert ist. Der Speicher wird laufend auf den neuesten Stand gebracht. Diese persönliche Erzählung, die uns darüber Auskunft gibt, wer wir sind und was wir erlebt haben, existiert parallel zur persönlichen Bewusstheit, wobei die Forscher davon ausgehen, dass die letztere über die erstere keinen Einfluss ausüben kann.
Wir brauchen das persönliche Narrativ für Überlebenszwecke. Aus dem Erlebten können wir ableiten, wie sich andere Menschen verhalten und wie wir mit anderen Umweltbedingungen umgehen sollten, um auf der sicheren Seite zu bleiben. Doch dafür brauchen wir kein Bewusstsein; der evolutionäre Vorteil hat sich gerade aus dem unbewussten Funktionieren ergeben: Wir sollten, sobald es ums Überleben geht, eben nicht lange nachdenken, was denn nun das Richtige zu tun oder zu lassen wäre. Stattdessen sollte die Reaktion möglichst spontan erfolgen, um die Gefahr abzuwenden.
Wir nutzen den narrativen Speicher auch, um Ideen und Wissensinhalte und soziale Normvorstellungen, die wir im weiteren Sinn für das Überleben und die Verbesserung der Kultur benötigen, mit anderen Menschen zu teilen, wodurch die Leistungsfähigkeit der Gruppe und darüber hinaus der Gesellschaft insgesamt gesteigert wird.
Wozu dient dann überhaupt das Bewusstsein?
Die Wissenschaftler sind der Meinung, dass es die Kommunizierbarkeit des Inhalts des eigenen Narrativs ist und nicht die eigene Bewusstheit, die den Menschen ihre Überlegenheit gegenüber den anderen Lebewesen gebracht hat. Die letztere ist dann nur ein passiver Begleiter von autonom im Unterbewusstsein laufenden Prozessen, gewissermaßen der Zuschauer im Kino, der keinen Einfluss auf den Film hat, der vor seinen Augen abläuft.
Möglicherweise ist dieses Bewusstsein, auf das wir uns so viel einbilden, ein zweckfreies Überschussprodukt der Evolution, wie ein Regenbogen, der zwar schön anzuschauen ist, aber keinen praktischen Zweck hat und nur solange existiert, als es Betrachter gibt, die das Phänomen im richtigen Winkel und Abstand beobachten.
Gedankenwandern und Unterbrechungen
Soweit die Ergebnisse der zitierten Forschungsarbeiten. In einem früheren Blogartikel habe ich die Erklärungen von Thomas Metzinger zum Gedankenwandern vorgestellt. Vieles, was hier oben angesprochen wurde, deckt sich mit den Ansichten von Metzinger, doch möchte ich auch einen wichtigen Unterschied hervorheben. Das Gedankenwandern, dem wir den Großteil unserer wachen Zeit unterliegen, kann gut aus unbewusst ablaufenden Prozessen erklärt werden. Die Phänomene des Meta-Bewusstseins allerdings passen dann nicht mehr in das Schema. Wir können mentale Abläufe durch bewusste Intentionen beeinflussen. Z.B. können wir Gedankenketten unterbrechen, indem wir „absichtlich“ an etwas anderes denken. Wir können mit Gedanken spielen, indem wir sie als Objekte verkleiden oder ihnen Farben geben. Wir können uns in Zustände der Gedankenfreiheit durch Meditation begeben usw.
Zu diesen Akten des Meta-Bewusstseins zählt auch die Reflexion, das Sich-Bewusst-Machen dessen, was gerade ist. Auch hier wird der rastlose Ablauf der Gedanken unterbrochen und durch eine übergeordnete Perspektive ergänzt und relativiert. Wir erleben uns als aktiv in die innere Wirklichkeit eingreifendes Ich.
Zwar könnte es sein, dass auch die Mentalhandlungen des Meta-Bewusstseins von unbewusst ablaufenden Gehirnprozessen vordeterminiert sind, aber in diesen Fällen ist es wichtig, der Phänomenologie den Vorrang vor der Empirie zu geben. Die subjektive Erfahrung der Autonomie, also des ohne kausale Ursache Beginnens einer Aktivität, gibt sich selbst die Priorität vor jeder möglichen nachträglichen Kausalerklärung dessen, was vorher abgelaufen sein kann. In der reflexiven Selbstvergewisserung verlassen wir die empirische Beobachter- und Forscherposition und werden zu aktiv handelnden Personen, die in der Lage sind, für sich selber das Zentrum und den Ausgangspunkt des Denkens und Handelns zu definieren.
Die Relativierung dieser pragmatischen Position, ohne die kein soziales Zusammenleben funktionieren könnte, ist ein wertvolles Unterfangen, weil es uns hilft, mehr von der Komplexität unseres Inneren zu verstehen und Fehlannahmen über diese Vorgänge zu korrigieren, die sonst in sozialen Zusammenhängen zur Grundlage von Ideologien werden können. Je mehr wir verstehen, wie stark unser Unbewusstes unser Leben lenkt, desto leichter können wir uns dort entspannen, wo wir uns Fehler vorwerfen und desto besser können wir unsere reflexiven metabewussten Mentalhandlungen kultivieren. Denn deren letztlicher Zweck liegt darin, zu erkennen, dass jede Form unseres Zutuns ein Geschehen ist, dem wir uns hingebungsvoll überlassen können.
Auf dieser Ebene begegnen sich dann die Erkenntnisse der Neurowissenschaften mit den Weisheiten des spirituellen Bewusstseins - die einen kommen von außen und die anderen von innen.
Zum Weiterlesen:
Geistwandern und mentale Autonomie
Die Illusion des bewussten Selbst
Was können wir aus dem Gedankenwandern (mind wandering) lernen? Das ist doch etwas, was wir beim Meditieren loswerden wollen, weil es uns im Alltag auf die Nerven gehen kann und dafür prädestiniert ist, Missstimmungen zu erzeugen. Die Buddhisten sprechen vom Affengeist. Häufig leiden wir unter der Maschine in unserem Kopf, die dauernd neue oder immer gleiche Gedanken produziert, die uns in Unruhe versetzen.
Das Verständnis des inzwischen fleißig beforschten Phänomens kann uns helfen, uns selber besser zu verstehen und Wege zu unserer mentalen Autonomie zu finden, also zu der Fähigkeit, beeinflussen und bestimmen zu können, was in unserem Kopf abläuft. Damit beschäftigen sich Psychologen und Philosophen. Im Folgenden fasse ich einen informativen Artikel des Philosophen Thomas Metzinger zu dem Thema zusammen.
Was ist Autonomie? Metzinger definiert sie als rationale Selbstkontrolle, als Fähigkeit, das eigene Verhalten in Abstimmung mit Gründen und rationalen Argumenten zu kontrollieren. Zweitens ist Autonomie die Unabhängigkeit bei der Ausbildung des eigenen Willens, vor allem die Unabhängigkeit von der eigenen inneren Umgebung (z.B. Bedürfnisse, Vorurteile, Konditionierungen). Dazu kommt die Idee der "Selbstgesetzgebung", die Unabhängigkeit von einer äußeren Umgebung mit ihren Standards und Zwängen. Das dritte semantische Element der Autonomie ist die Selbstbestimmung: Die Fähigkeit, die eigenen Handlungen und die dazu führenden Entscheidungen kausal bestimmen zu können. Viertens geht es um Selbstbildung: Die Autonomie wird in einem fortlaufenden Prozess aufgebaut und ausgebaut, sie ist also nicht eine ein für alle Mal erworbene Eigenschaft. In diesem Prozess werden wir Personen, d.h. rationale Individuen mit einer kohärenten und bewussten Selbstrepräsentanz, d.h. wir wissen, wer und was wir sind.
Das mentale Handeln
Es gibt nicht nur körperliche, sondern auch mentale Handlungen, z.B. das absichtliche Fokussieren auf einen Gegenstand oder das bewusste Ziehen von logischen Schlussfolgerungen. Diese Handlungen sind mit Belohnungsbedingungen verbunden, weil sie auf einen Zielzustand ausgerichtet sind. Sie können absichtlich behindert oder beendet werden und verfügen über den subjektiven Charakter des Selbstvollzugs: Wir wissen, dass wir es selbst sind, die diese Handlungen vollziehen.
Metzinger unterscheidet zwei wichtige Typen der mentalen Handlung, die beide sukzessive im Lauf der Kindheit erworben werden und durch Gehirnverletzungen oder Alterungsprozesse eingeschränkt werden oder verloren gehen können:
• Die Aufmerksamkeitsaktivität (AA) und
• die Kognitionsaktivität (CA).
Die AA ist vermutlich die älteste und einfachste Form, sich selbst als wissendes Selbst zu erleben. Wir erleben uns in diesem Modus, wenn wir merken, dass wir unsere Aufmerksamkeit bewusst von einem Objekt auf ein anderes verschieben können.
Die CA ist ein Komplex von funktionalen Fähigkeiten, die mit der Erfahrung als kognitiv Handelnder verbunden sind, z.B. wenn jemand berichtet: "Ich denke gerade darüber nach" oder "Ich bin zu folgender Schlussfolgerung gelangt".
Beim Gedankenschweifen kollabieren diese Fähigkeiten. Es ist eine Form des unabsichtlichen Verhaltens, die allerdings nicht automatisch unintelligent oder behindernd sein muss. Kreativität, die Einprägung von Inhalten des Langzeitgedächtnisses und eine sorgfältige Zukunftsplanung können durch das mind wandering unterstützt werden.
Die Meta-Bewusstheit
Sie äußert sich bei der Beeinflussung von anderen mentalen Handlungen und bewirkt Mentalhandlungen der zweiten Ordnung. Diese Handlungen sind wesentliche Werkzeuge für das Erreichen höherer Stufen der M-Autonomie. Sie können andere mentale Aktivitäten beeinflussen. Beispiele dafür sind das Beenden von Gewaltfantasien oder das bewusste Aufrechterhalten eines spontan auftauchenden Tagtraumes.
Unter "Vetoautonomie" versteht Metzinger Fähigkeit der absichtlichen Hemmung von Handlungen, die wir nicht dem Gehirn, sondern der ganzen Person zuschreiben. Wir können nur rational sein, wenn wir über diese Fähigkeit verfügen. Es können jedoch hohe Grade der mentalen Autonomie ohne diese rationale Selbstkontrolle erreicht werden.
Die M-Autonomie
Unter mentaler Autonomie kann die Fähigkeit verstanden werden, den bewussten Inhalt des eigenen Bewusstseins zielgerichtet zu kontrollieren, mit Hilfe von AA oder CA. Entscheidend dafür ist die "Vetokomponente": Alle ablaufenden Prozesse können prinzipiell aufgeschoben oder beendet werden. Diese Fähigkeit ist sicher sehr unterschiedlich ausgeprägt, und Menschen verfügen über sie nur ungefähr ein Drittel ihrer bewussten Lebenszeit. Während dem Gedankenwandern fehlt die mentale Autonomie, weil wir nicht über die Veto-Komponente verfügen.
Das Gedankenwandern kann als Grundaktivität verstanden werden, die wir nutzen, um eine Minimalversion von Kontinuität als Plattform für längerfristige Motivation und Zukunftsplanung aufrechtzuerhalten. Da Metzinger der Meinung ist, dass wir über kein identisches Selbst verfügen, müssen wir dieses durch automatische Narrative virtuell erzeugen. Gewissermaßen erzählen wir uns immer wieder, dass wir sind, wer wir sind, und bringen uns damit dazu, das auch zu glauben.
Wenn wir Tagträumen nachhängen, Fantasien, Selbsterzählungen und depressiven Grübeleien, was wir bis zu zwei Drittel unserer bewussten Lebenszeit „tun“, denken wir nicht, sondern dann geschieht oder widerfährt uns das Denken. Allerdings vergewissern wir uns dabei, dass wir über die Zeit identische Wesen sind.
Folglich kann also das Gedankenwandern als Verlust von M-Autonomie verstanden werden, weil es mit einem unbemerkten Verlust von mentaler Selbstkontrolle und epistemischer Handlungsfähigkeit verbunden ist, entweder auf der Ebene der Aufmerksamkeit oder der Kognition. Unbeabsichtigt ablaufend, ist es nicht rational geleitet und kann nicht willentlich beendet werden. Auch wenn Aspekte dieser Tätigkeit funktional brauchbar sind, sind die insgesamten Kosten und allgemeinen negativen Effekte auf das subjektive Wohlbefinden offensichtlich und gut dokumentiert, z.B. in Hinblick auf Leseauffassung, Gedächtnis und anhaltender Aufmerksamkeit. Zugleich konnte die Forschung nachweisen, dass das Phänomen allgegenwärtig ist.
Also sind Menschen ungefähr zwei Drittel ihrer Lebenszeit keine autonomen mentalen Subjekte, auch wenn sie von außen betrachtet bewusst präsent sind und üblicherweise auch von ihren Mitmenschen als solche behandelt werden. Denn die Zurechnung von Verantwortung gilt weiter, selbst für Zustände des inneren "Entrücktseins."
Das Gedankenschweifen kann allerdings auch ganz zum Stillstand kommen, entweder bei Übenden von Achtsamkeitsmeditation oder als Folge einer Verletzung im medialen frontalen Kortex.
Weiters folgt aus den Erkenntnissen, dass das bewusste Denken primär und vorherrschend ein automatischer subpersonaler Prozess ist, wie der Herzschlag oder die Immunregulation. Es ist empirisch plausibel anzunehmen, dass ein beträchtlicher Teil unserer eigenen kognitiven Phänomenologie einfach durch einen häufigen Fehler in der exekutiven Kontrolle bewirkt wird. Menschen sind dadurch charakterisiert, dass eine nahezu konstante subpersonale und automatisch erzeugte mentale Aktivität durch das Default-Mode-Netzwerk (im Deutschen etwas irreführend als Ruhezustandsnetzwerk übersetzt) abläuft, verbunden mit einer häufigen Unfähigkeit des ausführenden Kontrollsystems, zentrale Leistungsaufgaben vor einer Störung durch diese unterpersönlichen Denkprozesse zu schützen. Offenbar ist das Gedankenwandern eine Art „Standardeinstellung“ des Gehirns, zu dem es zurückkehrt, wenn nichts anderes von ihm verlangt wird (Harrer, Weiss 2016, S. 96). Und wir können uns schwer gegen seine überraschenden Überfälle auf unsere geordneten Denkvorgänge zur Wehr setzen.
Deshalb meint Metzinger, dass die autonome kognitive Selbstkontrolle die Ausnahme und nicht die Regel darstellt. Das Ideal des kognitiv geleiteten Menschen, der autonom und selbstkontrolliert rational denkt, ist dann nur ein Mythos, der von schwerdenkenden Philosophen über die Jahrhunderte verbreitet wurde, die sich und ihre Zunft dadurch selbst beweisen und rechtfertigen wollten.
Denken wie Atmen
Jede Metabewusstheit des ablaufenden Gedankenschweifens ist vergleichbar mit einer Metabewusstheit unseres Atems oder Herzschlags. Metabewusstheit ist das, was wir bei einer Achtsamkeitsübung oder einer Meditationsanleitung als „Beobachten“ beschreiben: Beobachte deine Atmung, beobachte deine Gedanken.
Diese drei Phänomene, Atmen, Herzschlag und spontanes aufgabenfreies Denken sind keine psychologischen Prozesse auf der Persönlichkeitsebene, sie sind vielmehr identisch mit unterschwelligen physiologischen Prozessen im biologischen Körper. Wenn die Gedanken zu schweifen beginnen, handelt es sich um einen physiologischen Ablauf mit einem spezifischen, weitgestreuten Muster der neuronalen Aktivität, der sich zu weiten Teilen mit dem Default-Mode-Netzwerk überlappt. Gedankenschweifen ist also einfach die erlebte Bewusstheit eines lokal ablaufenden körperlichen Prozesses.
Sind wir die Täter unserer Erkenntnisse?
Warum aber erleben wir subjektiv einige unserer kognitiven Prozesse als Eigenschaften der persönlichen Ebene aus der Erste-Person-Perspektive? Der Grund liegt darin, weil sie in ein EAM (epistemic agent model = Modell der epistemischen Täterschaft) eingebettet sind, das gerade in unserem Gehirn aktiv ist, und weil wir in einem Umfeld leben, in dem wir uns wechselseitig als rationale Individuen beschreiben und anerkennen, was dann wiederum das introspektive Erlebnis beeinflusst.
Metzinger ist der Auffassung, dass es das Gehirn selbst ist, das eine Komponente einrichtet, eine besondere Form der bewussten Selbstrepräsentation, die das System als erkennendes Subjekt darstellt, als Wesenheit, die ihr Wissen aktiv sucht und verbessert, z.B. durch CA und AA. Metzinger nennt diese Instanz EAM. Sie kann dazu dienen, laufende Prozesse in sie einzubauen, sodass die Erfahrung des Besitzens geschaffen wird (mein Gedanke, mein eigenes autobiografisches Gedächtnis, meine eigene Zukunftsplanung). Wenn diese Prozesse als Kontrollen auftreten, die kausale Einflüsse ausüben können, werden sie bewusst als Selbstkontrolle oder erfolgreiche mentale Selbstbestimmung erlebt. Dennoch ist ein Erkenntnismodell dieser Art kein kleiner Mann im Kopf, sondern ein gänzlich subpersonaler Prozess. Menschen werden Personen nur dadurch, dass sie sich erlebnismäßig mit dem Inhalt eines solchen Modells identifizieren können. Dazu helfen soziale Erfahrungen, z.B. jene durch den Sprachgebrauch, mit dem sich selbst und anderen ein Personenstatus zugeschrieben wird.
Die Abkürzung PSM (phenomenal self model = phänomenologisches Selbstmodell) bezeichnet eine bewusste Repräsentation des Systems als Ganzem, körperlich, psychologisch, sozial und persönlich. Unter Normalbedingungen ist ein großer Teil des menschlichen PSM „durchsichtig“, weil wir nicht in der Lage sind, es als Modell zu entlarven, sodass wir uns deshalb voll mit seinem Inhalt identifizieren.
Der Selbstrepräsentanz-Blink
Wir wissen nicht, warum eine Episode des Gedankenwanderns gerade begonnen hat, und typisch ist, dass das ganz erste inhaltliche Element als Überraschung kommt. Manchmal haben wir eine Metabewusstheit zum zweiten "Waggon" im Zug des Schweifens, aber das erste Element ist unvorhersehbar und trägt zum subjektiven Gefühl bei, die Kontrolle zu verlieren und uns in einem unbeabsichtigten mentalen Verhalten zu befinden. Das könnte man als systematische Blindheit der autobiografischen Selbstrepräsentation verstehen, denn das aktuelle Element des Übergangs in den Wanderzustand ist nichts, an das wir uns erinnern können, ist kein Teil unseres bewussten mentalen Lebens.
Metzinger nennt dieses Phänomen "Selbstrepräsentations-Blink" (SRB) - Blink heißt so viel wie Blinzeln, weil es so schnell geht wie ein Lidschlag. Der Vorgang kann auch als Versagen der Selbstkontrolle verstanden werden, die vielleicht durch eine Erschöpfung von neuronalen Ressourcen entsteht. Die Blindheit besteht vor allem gegenüber den selbstbezogenen Reizen, also den aktuellen Körperempfindungen. Es wechseln in diesem Moment zwei PSMs: Der vorige war noch mit der gegenwärtigen Umgebung verbunden, der neue ist nur mehr selbstbezogen.
Die Identifikationseinheit (UI) ist jene Eigenschaft, mit der wir uns gerade identifizieren und die zur Erfahrung von "Ich bin das!" führt. Wenn man das Geistwandern als Umschalten der Identifikationseinheit versteht, dann erkennt man, dass es in einen entkörperten Zustand führt, indem es von der aktuellen Körperwahrnehmung distanziert. Obwohl ein Zeitgefühl bleibt, geht dadurch das Raumgefühl verloren.
Wie endet eine Episode des Gedankenwanderns?
Weil Achtsamkeit und Gedankenwandern entgegengesetzte Phänomene sind (mindfulness ist das Gegenteil von mind wandering), kann der Prozess des Verlierens und Wiedergewinnens der Meta-Bewusstheit am eingehendsten in verschiedenen Stufen einer Achtsamkeitsmeditation erforscht werden. In frühen Phasen einer objektorientierten Meditation wird es zu zyklischen Verlusten der M-Autonomie kommen, und dazu der wiederkehrenden mentalen Handlung als Entscheidung, den Fokus der Aufmerksamkeit wieder zum Gegenstand der Meditation zurückzubringen, z.B. zum Atmen. Die Erfahrung wird als zielgerichtet und leicht angestrengt erlebt. In fortgeschrittenen Phasen der Meditation hat sich die Aufmerksamkeit geweitet, sodass die Bewusstheit im gegenwärtigen Moment als Ganzem ruhen kann. Solche stabilen Zustände der Meta-Bewusstheit können als Zustände ohne Identifikationseinheit verstanden werden. Während sich der beginnende Meditierer mit einem internen Modell eines mentalen Agenten identifiziert ("das meditative Selbst"), wird die Meta-Bewusstheit der zweiten Art als anstrengungslos und handlungsfrei beschrieben.
Achtsamkeit und Geistwandern
Das Geistwandern ist kein an sich schädlicher Vorgang. Aber es schränkt den Raum unserer Bewusstheit ein und kann uns emotionalen Zuständen ausliefern, die uns nicht guttun. Deshalb ist es ratsam zu lernen, den Anteil dieser Unbewusstheit zu reduzieren und dadurch Grade an innerer Freiheit und Autonomie dazuzugewinnen.
Worauf Metzinger nicht verweist, was aber durch Forschungen belegt ist: Jedes Unterbrechen des stream of consciousness, der schweifenden Gedankenaktivität, und jedes bewusste Zurücklenken der Aufmerksamkeit auf einen körperlich aktuellen Zustand stärkt die innere Autonomie, indem die präfrontalen und mesolimbischen Areale gestärkt und die limbischen Bereiche, vor allem die Amygdala geschwächt werden, also die Top-Down-Kontrolle verbessert wird. Wir können schneller erkennen, wann wir im unbewussten Gedankenschweifen unterwegs sind, und unsere Aufmerksamkeit schneller und leichter zurück in den Moment bringen. Das ist die Botschaft der Achtsamkeitsbewegung. Übung macht den Meister, und jede Meditation ist ein Schritt auf dem Weg, jeder Moment der Atembewusstheit und alle Zeit, die wir der Innenschau widmen.
Abkürzungsverzeichnis:
AA = attentional agency = Aufmerksamkeitstäterschaft (Selbsterleben mit Bezug zum eigenen Körper und einem hohen Niveau an Kontrolle der eigenen Aufmerksamkeit – wenn jemand sagt: „Ich bin ein Selbst, das gerade den Fokus meiner Aufmerksamkeit kontrolliert“)
CA = cognitive agency = kognitive Täterschaft (Selbsterleben mit Bezug zum eigenen Körper und einem hohen Niveau an kognitiver Kontrolle – wenn jemand sagt: „Ich bin ein denkendes Selbst“)
PSM = phenomenal self model = phänomenologisches Selbstmodell (die bewusste umfassende Repräsentation des eigenen Denkens als Ganzes – wenn jemand sagt: „Ich bin ein Selbst“)
EAM = epistemic agent mode l= Modell der epistemischen Täterschaft (die Annahme, dass wir Urheber unserer Erkenntnisse sind – wenn jemand sagt: „Ich bin ein wissendes Selbst“)
SRB = Selbstrepräsentanz-Blink (Augenblick, in dem die Aufmerksamkeit unwillkürlich von außen nach innen zum Gedankenwandern schwenkt)
UI = Unit of Identification = Identifikationseinheit (der Inhalt, mit dem sich das Ich gerade identifiziert)
Vgl. Thomas Metzinger: Kognitive Täterschaft. In: Welche wissenschaftliche Idee ist reif für den Ruhestand? Hg. von John Brockman. Fischer Taschenbuch 2016
Literatur: Harrer, Michael E., Weiss, Halko: Wirkfaktoren der Achtsamkeit – wie sie die Psychotherapie verändern und bereichern. Stuttgart: Schattauer 2016