Manchmal sagt jemand: Wenn ich in mich hineinhorche, spüre ich nichts. Meist sind das nüchterne und trockene Menschen, die sich für ausgeglichen halten und von anderen für langweilig oder farblos eingeschätzt werden. Sind solche Menschen einfach so, oder drückt sich in dieser Charakterverfestigung ein Thema aus, mit dem sich mehr oder weniger jeder Mensch im Zug seines Aufwachsens in der einen oder anderen Weise auseinandersetzen muss?
Die Bedürfnismanipulation
Es gibt einen einfachen und nachdrücklich wirksamen Ablauf, der solche Muster prägen kann. Von Anbeginn sind die Menschenwesen mit der Fähigkeit ausgestattet, ihre Bedürfnisse zu spüren und zu wissen, worin die Befriedigung besteht. Diese Fähigkeit ist zentral dafür, überhaupt über- und weiterleben zu können. Dennoch passiert es häufig, dass Bedürfnisse von den zuständigen Personen, meistens den Eltern, „falsch gelesen“ werden, also missverstanden werden. Dann werden die kindlichen Bedürfnisse entweder gar nicht, unzureichend oder auf anderer Ebene befriedigt. Für den letzteren Fall ist das klassische Beispiel, dass auf das Bedürfnis nach Zuwendung als Befriedigung Nahrung angeboten wird.
Ein zweiter Prozess aktiviert sich nun: Wenn etwas nicht stimmt, wenn sich also die Bedürfnisbefriedigung mangelhaft oder falsch anfühlt, nehmen Kinder an, dass es an ihnen liegt. Sie haben einen Fehler gemacht, es können ja nicht die allmächtigen und allwissenden Erwachsenen sein, die sich irren. Also gelangen sie zu dem Schluss: Es ist nicht die Bedürfnisbefriedigung, die fehlerhaft ist, sondern das Bedürfnis. Damit entwickeln sie ein Misstrauen in die eigenen Bedürfnisse im Speziellen und in das eigene Spüren des Inneren im Allgemeinen.
Auf diese Weise fangen Kinder an, sich über die Großen zu erleben und zu definieren. Sie müssen ihre eigenen Bedürfnisse so zurechtbiegen, dass sie die größtmögliche Chance haben, befriedigt zu werden. Dazu müssen sie die „Befriedigungsmuster“ der Eltern studieren und die eigenen Reaktionen darauf abstimmen. Diese hohe Anpassungsleistung macht es möglich, dass Kinder auch unter emotional kärglichen und desorganisierten Umständen aufwachsen können.
Der Preis liegt in der Überbetonung der äußeren Sinne gegenüber den inneren. Vertrauen können wir hinfort nur dem, was wir sehen, hören und angreifen können. Hingegen was wir in unserem Inneren spüren, ist immer zweifelhaft, gibt uns keine Sicherheit, könnte so oder auch anders sein.
Denn wir haben gelernt, dass wir unsere Wahrnehmung primär darauf richten müssen, was um uns herum vorgeht, und nach diesen Gegebenheiten müssen wir unser Verhalten ausrichten. Wir lernen, wachsam zu sein und unsere Außenwelt daraufhin zu interpretieren, ob und wann sie uns wohlgesonnen und wann sie bedrohlich ist. Wir werden nach außen hin hypersensibel und nach innen taub, oder, im noch schlimmeren Fall, wissen wir nicht, wie wir diese beiden Kanäle voneinander unterscheiden könnten. Wir wissen nicht, was von innen und was von außen kommt.
Außerdem baut sich durch dieses Muster der Bedürfnismanipulation und der Bedürfnisinterpretations-Manipulation eine subtile, aber wirksame Abhängigkeit von den Eltern auf, die weit über das notwendige Alter hinaus prägend wirkt. Als Kinder haben wir aufgenommen, dass sie uns mitteilen, wie es uns selbst geht, und was für uns gut ist zu bekommen und zu tun. Sie wissen besser, was in uns los ist, nicht wir selber. Deshalb vertrauen wir später mehr auf das, was uns andere sagen, als auf das, was wir selber spüren, so wir überhaupt noch etwas spüren. Unbewusst übertragen wir ihnen eine Deutungsmacht über unser Leben, die schwer zu durchschauen und abzuschütteln ist, weil sie in vielen Facetten unterschwellig unser Wahrnehmen und Verhalten prägt.
Die Dominanz der äußeren Sinne, die sich auf der Unsicherheit gegenüber den inneren Sinnen entwickelt, erweitert sich zur Dominanz der Dritte-Person-Perspektive, die wir in allen Ebenen der Gesellschaft wahrnehmen können: die Deutungsmacht der Wissenschaften, die Bedürfnismanipulation durch das Konsumangebot und die Gefühlssteuerung durch die Unterhaltungsindustrie.
Postfaktische Vernebelung
Kein Ausweg ist es, die Macht dieser Wirklichkeitsdefinitionen mit Vernebelungstaktiken zu diskreditieren, nach der Art: Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Es gibt Täuschung und Betrug in der Außenwelt, aber es gibt auch Korrektur und Aufklärung. Der Erfolg der Dritte-Person-Perspektive beruht auf den Selbstreinigungskräften, die mit dieser Einstellung möglich sind und darauf achten, dass die Wirklichkeitskonstruktionen soweit zuverlässig sind, dass wir uns in der Welt zielgerichtet bewegen können.
Die Konjunktur des Postfaktischen oder besser Prä- oder Antifaktischen, also die systematische Diffamierung jeder Objektivität in der Wirklichkeitsdarstellung begünstigt nicht die Erste-Person-Perspektive und sorgt nicht für einen Ausgleich des Einflusses beider Perspektiven. Vielmehr geht es bei der Enthebelung des Faktischen zugunsten unbewiesener und unbeweisbarer Fantasien, die im Dienst politischer Propaganda betrieben wird, darum, den Unterschied zwischen der Innen- und der Außenwelt zu verwischen. Es geht also um die Förderung von psychotischen Wirklichkeitsproduktionen und psychotischen Strukturen in der Gesellschaft wie in den Individuen, mit der Hoffnung, in diesem Sumpf der erzeugten Verwirrungen für sich selber Macht und Ressourcen zu maximieren. Wo es keine Faktenbasis für die Unterscheidung von Richtig und Falsch mehr gibt, fehlt auch jede Grundlage für die Unterscheidung von Recht und Unrecht.
Die Reanimation des inneren Sinnes
Der Weg des Ausgleichs zwischen Innen- und Außenorientierung besteht in der Reanimierung und Verfeinerung des inneren Sinnes, in der Öffnung für die Signale unseres Körpers und unserer Seele. Das Wissen und die Intelligenz unserer Innenwelt gibt uns Aufschluss darüber, was stimmig ist, d.h. mit unserem Wesen im Einklang ist und was nicht. Es gilt also, dieses ursprüngliche Vertrauen auf die Weisheit des Organismus im erwachsenen Körper mit dem ausgereiften Gehirn zu nutzen. So gewinnen die äußeren Eindrücke ihre Farbigkeit, die sie lebendig und beweglich macht. Und so wächst auch die Sicherheit, dieses primäre organische Spüren von abgeleiteten Fantasien zu unterscheiden, die das Gehirn produziert.
Für die Erschließung dieses Weges ist die Arbeit an den inneren Mustern wichtig, die im Verlauf der Bedürfnismanipulation und der Abgabe der Deutungsmacht entstanden sind. In dem Maß, wie wir deren Macht abbauen können, gewinnen wir einen authentischen Zugang zu unserem Inneren, wir öffnen den Kanal, der uns klare Informationen und Bewertungen liefert. Mit diesem Rüstzeug können wir die äußeren Wahrnehmungen nutzen, um die inneren auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen, und die inneren dazu, den Augenschein der äußeren Wirklichkeit zu durchleuchten. Im Zusammenspiel beider Wahrnehmungsformen verbindet sich das Innere und das Äußere zu einer fließenden Ganzheit und Einheit, die sich weder täuschen noch verführen lässt.
Vgl. Der Vagus und die Selbstheilkraft
Funktional und fließend wahrnehmen
Das innere Wissen
Wenn wir ein Phänomen der Wirklichkeit nicht akzeptieren können, sind wir im Widerstand. Etwas soll nicht so sein, wie es ist, sondern anders, wie es für uns angenehmer ist. Heute will ich einen Ausflug machen, also soll das Wetter entsprechend sein, wenn es nicht so ist, muss ich damit hadern; solange ich darin feststecke, solange bin ich im Widerstand und leide daran.
Der Widerstand kann sich auf Aspekte der äußeren wie auch der inneren Wirklichkeit beziehen. Ich kann auch Gefühle in mir ablehnen, weil sie nicht zu meinem Selbstbild passen, z.B. wenn ich mich für einen großzügigen Menschen halte und deshalb Neidgefühle in mir nicht akzeptieren will. Etwas, was da ist, soll nicht so da sein, wie es ist, sondern so, wie es in den Rahmen meiner Vorstellungen passt.
Damit bin ich im Widerspruch zur Wirklichkeit, in einer dualen Spaltung: Ich (meine Vorstellungen) gegen die Welt. Ich bin geleitet von der Überzeugung, dass sich daran nur etwas ändern kann, wenn sich die Welt ändert. In diesem Fall geht es uns wie bei einem Streit: wenn sich der andere in meinem Sinn ändert, wenn er mir rechtgibt, dann kommen wir wieder zusammen, sonst gibt es keine Möglichkeit. Wenn wir es mit anderen Menschen zu tun haben, kann es manchmal vorkommen, dass der andere nachgibt; wenn wir es jedoch mit der restlichen Wirklichkeit als ganzer zu tun haben, setzt sich unweigerlich diese durch; erstens ist sie unendlich mächtiger als unser kleines Ego und zweitens hat sie ja nicht einmal ein Problem damit, dass jemand ein Problem mit ihr hat. Das Problem ist nur intern, in unserem verworrenen Egogefüge.
Widerstände verstehen
Wo eine Spaltung besteht, kann sie nur durch Verständnis überwunden werden. Verständnis setzt die Fähigkeit voraus, aus der eigenen Selbstbezüglichkeit auszubrechen und eine überpersönliche Perspektive einzunehmen. Diese Fähigkeit ist mit der Instanz in uns verbunden, die erkennt, dass wir selber für den Widerstand verantwortlich sind. Es ist die Instanz, die an der Trennung leidet und zurück zur Einheit strebt. Dazu braucht es eine hohe Kompetenz, verbunden mit einer klaren inneren Kraft, die Macht der Akzeptanz. Sie wendet sich dem Widerstand mit der Haltung der Bedingungslosigkeit zu.
Im Umgang mit Widerständen macht es keinen Sinn, Druck auszuüben, Forderungen zu stellen, Drohungen zu äußern (wie auch sonst im Leben selten). Jeder Druck verstärkt den Widerstand: Druck erzeugt Gegendruck, starker Druck starken Gegendruck. Dazu kommt, dass der Widerstand noch andere Strategien auf Lager hat: er kann ausweichen, sich scheinbar zurückziehen oder scheinbar aufgeben. All das verschlimmert nur das Problem und vertieft die Spaltung. Scheinlösungen führen zu einem faulen Frieden, der bei jedem Anlass sofort zerbricht.
Wenn wir uns mit jemandem anfreunden wollen, wollen wir die andere Person kennenlernen. Wir beginnen klugerweise nicht damit, dem anderen vorzuschreiben, wie er sich verhalten soll, was er denken und sagen soll und was nicht usw. Kommen wir so, zieht die andere Person schnell vor uns zurück oder tritt uns mit Abwehr entgegen. Statt Freundschaft zu stiften, haben wir einen neuen Feind gewonnen.
Freundschaft knüpfen wir, wenn wir unser Gegenüber so akzeptieren wie sie ist, statt sie verändern zu wollen. Wir wenden uns ihr zu, indem wir unsere eigenen Wünsche, Erwartungen und Intentionen beiseite stellen. Wir machen uns bereit, in die Welt des anderen einzutreten und sie mit Interesse zu erforschen, geradezu neugierig auf das Unbekannte, das sich dort verbirgt. Mit dieser Haltung gewinnen wir Freunde, und mit ihr kommen wir auch unseren Widerständen nahe, sodass sie von Feinden zu Freunden mutieren.
Widerstand=Schutz
Was zu verstehen ist, ist die ursprüngliche Sinnhaftigkeit jeder Widerstandsreaktion in uns. Sie diente irgendwann einmal als Schutz. Es gab in unserer Lebensgeschichte Ereignisse, sie so bedrohlich waren, dass ein Schutz davor errichtet werden musste, um das Überleben zu sichern.
Jeder Widerstand hat diese Wurzel: Irgendwann diente er als sinnvoller Schutz, als intelligente Überlebensstrategie. Er ist wie ein treuer Diener, der nur unser Bestes im Sinn hat. Diese Tatsache sollte gesehen und mit Dankbarkeit anerkannt werden. Auch wenn der Widerstand in der Gegenwart offensichtlich zu nichts mehr gut ist, trägt er in sich noch immer die Wichtigkeit und Bedeutsamkeit der einstigen lebensrettenden Funktion wie eine Fahne vor sich her. Und diese Auszeichnung will erkannt und gewürdigt werden.
Zur Versöhnung
Auf einem solchen Weg kann der Prozess der inneren Versöhnung in Gang kommen. Er braucht zwei Komponenten, um zurück zur Einheit zu führen: Aktiv muss sich das Bewusstsein dem Widerstand in bedingungsloser Weise widmen, ihm Raum geben, in dem er anerkannt werden kann. Aktiv werden alle Störsignale ausgeblendet, alles, was Druck ausüben will, was also in Widerstand zum Widerstand gehen möchte. Erst in der Atmosphäre der bedingungslosen und erwartungslosen Annahme kann der Widerstand weich werden. „Kann“ heißt in diesem Zusammenhang nicht „muss“. Denn jedes Müssen nimmt die Freiheit, die bei diesem Prozess notwendig ist.
Dort ist die Grenze der zielgerichteten Aktivität und des eigenen Wollens: Ob der Widerstand nachgibt, liegt an ihm. Da geht es um etwas, das geschieht oder eben nicht. Die Geduld, die aufgebracht werden muss, heißt Erwartungslosigkeit, das Loslassen aller Konzepte darüber, wie die Wirklichkeit sein sollte: Erst wenn sich der eigene kleinere Wille zurückzieht, kann ein größerer Wille geschehen.
Deshalb gleicht die Verabschiedung eines Widerstandes einem Wunder: Obzwar der Einsatz notwendig ist, der die Hindernisse beiseite räumt, ist sie nicht durch Leistung oder Anstrengung herstellbar, nicht durch Machtausübung und Druck erzwingbar, sie tritt ins Offene, wenn es eine geheimnisvolle Quelle zulässt.
Die Verwandlung
Was sich dann zeigt, ist genauso wunderbar: Der Widerstand verabschiedet sich nicht eigentlich, genauso wenig löst er sich auf; vielmehr verwandelt er sich in eine Kraft, bzw. gibt er die Kraft frei, die in der Aufrechterhaltung der Abwehr investiert und gebunden war. Die gefesselte und eingefrorene Kraft wird zur freien, kreativ wirksamen Energie, die für die Bewältigung neuer Lebensaufgaben zur Verfügung steht.
Das ist die Alchemie des Lebens, das immer ein Weiterwachsen beinhaltet: Die Macht der Verwandlung des Behindernden ins Befördernde, der Blockade in vorwärtstreibende Kraft. Etwas Verhärtetes und Hartnäckiges wird ins Fließen gebracht. Im Fließen verschwindet die Dualität, es gibt nichts Abgespaltenes mehr, sondern nur die Einheit.
Es zeigt sich, dass die Verwandlung ein gutes Zusammenspiel braucht: Zwischen Tun und Gewährenlassen, zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Sympathikus und Parasympathikus. Wir müssen zunächst das Unsere tun, mit der Kompetenz der bedingungslosen Zuwendung und Akzeptanz, und treten dann zurück, damit geschehen kann, was geschehen soll. Wir atmen ein und geben Raum, damit das Ausatmen geschehe.
Vgl. Weiches besiegt das Harte
Musterverändung - aber wie?
Sind narzisstische Manipulationskünstler klüger und intelligenter als empathische Menschen? Nicht notwendigerweise, und sie sind weder zu bewundern noch zu tolerieren in dem Sinn, dass ihr Treiben widerspruchs- und widerstandslos bleibt. Unsere Zeit mit ihrem medialen Überangebot und ihrer Marketing-Fixiertheit fördert solche Menschen und katapultiert sie bis an die Spitzen von Großkonzernen, Großbanken und Großmächten. Sie brauchen die Bewunderer um sich herum wie der Fisch das Wasser. Wir müssen nur aufhören, solche Menschen, die die Destruktivität ihres Sozialverhaltens nicht erkennen, zu unterstützen, wenn wir nicht wollen, dass sie die Machtpositionen einnehmen und die Gesellschaft in ihrem Sinn beeinflussen.
Was können empathische Menschen den Soziopathen und Narzissten entgegensetzen, fragt sich Sacha Slone auf ihrer Webseite „Selfknowledge daily“. Sie sind in der Realität verankert, fähig zu abstraktem Denken, und sie sind kreativ. Den Manipulatoren fehlen diese drei Qualitäten. Sie weisen also mehrfache Defizite im Sozialverhalten auf, die eigentlich dafür ausreichen müssten, dass sie in eine Außenseiterposition gelangen. Autisten, denen es ebenfalls an sozialen Fähigkeiten mangelt, müssen schauen, wie sie am Rand leben können, Soziopathen dagegen etablieren sich in der Mitte der Gesellschaft und drehen dort auf und rühren um, ohne dass es nennenswerte Gegenreaktionen gibt.
Sacha Slone vertritt die Meinung, dass empathische Menschen Narzissten nicht in die Schranken weisen, weil sie moralischen Werten folgen wollen. Sie wollen auch nicht anderen Schaden zufügen. Sie sind tolerant und rücksichtsvoll. Und deshalb lassen sie sich nicht auf die Machtspiele der Manipulatoren ein. Das führt aber häufig dazu, dass diese dann niemanden haben, der sich ihnen in den Weg stellt, und die toleranten Empathiker werden folglich indirekt zu den Opfern der Manipulatoren, die an den Hebeln der Macht schalten und walten.
Deshalb gilt es ein Missverständnis aufzuklären, wie schon in dem Artikel über die Grenzen der Toleranz erklärt wurde. Toleranz muss sich schützen, sonst wird sie von den Intoleranten hinweggefegt. Und dazu muss sie sich ihrer sozialen Intelligenz bedienen, die genauso manipulativ sein kann, wie die der Manipulatoren. Sie muss sich nur selbst erlauben, sich dieser Mittel zu bedienen und das schlechte Gewissen, das damit verbunden ist, beiseitelassen.
An dieser Grenze scheiden sich die Gutmenschen von den Menschen guten Willens. Die Gutmenschen wollen niemandem wehtun. Sie sind überempathisch, indem sie sich selber übersehen und übergehen. Damit werden sie zu den Opfern der Rücksichtslosen. Die Menschen guten Willens wissen, dass es Situationen gibt, in denen sie andere verletzen müssen, um sich selbst und die eigenen Werte zu schützen. Sie wissen, dass sie eine Verpflichtung haben, ihre Kompetenzen einzusetzen, um ein Verhalten einzudämmen, das den Zusammenhalt der Gesellschaft schädigt und die menschliche Solidarität untergräbt, um eigene egoistische Ziele zu fördern. Menschen mit mangelhaftem Sozialverhalten müssen aus den Zentren der Gesellschaft gedrängt werden, weil sie nicht in der Lage sind, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Und um das zu erreichen, müssen die Waffen, die sie einsetzen, gegen sie selbst gerichtet werden. Ähnlich wie ein Tai-Chi-Kämpfer die Aggression des Angreifers gegen diesen selbst lenkt, braucht es Strategien der intelligenten und kreativen Gegenmanipulation.
Was braucht ein guter Tai-Chi-Kämpfer? Er muss mit seinem „Chi“ in Verbindung sein, mit seiner inneren Kraft und seinen inneren Werten, die daraus erwachsen. Er braucht den klaren Bezug zur Realität, zur äußeren Wirklichkeit, und er kann dabei unterscheiden zwischen Fakten und Illusionen, zwischen dem, was der eigene Kopf produziert und das, was sich außerhalb von ihm befindet. Er weiß also, dass der Aufenthalt in „postfaktischen“ Gefilden riskant ist für die innere Befindlichkeit und die äußere Sicherheit. Er verfügt über ein klares Denken, das ihm hilft, die eigenen Ressourcen und die des Gegners abzugleichen sowie das eigene Verhalten schnell zu korrigieren, wenn es nichts fruchtet. Seine Empathie ermöglicht ihm, abzuschätzen, was im Anderen vor sich geht, und wo seine Schwachpunkte sind. Er kann auch rechtzeitig innehalten, wenn der Gegner bezwungen ist, ohne ihn herabzuwürdigen.
Und er braucht Humor, der sich auch in einem inneren Lächeln ausdrücken kann. Was Narzissten am wenigsten aushalten, ist, wenn das Lächerliche an ihrem Verhalten als solches dargestellt wird. Wer die Lacher auf seiner Seite hat, hat dann recht, wenn er ein komisches oder absurdes Verhalten aufzeigt, ohne dabei die Person lächerlich zu machen. Die Härte, mit der die Manipulation zumeist auftritt, wird mit Humor am besten durchbrochen.
Manipulation von Emotionen
Narzissten wollen Emotionen manipulieren. Unbewusst schicken sie ihre Projektionen aus, indem sie z.B. vorgeben zu wissen, was in der anderen Person vor sich geht. Damit wollen sie die andere Person in ein inneres Drama, das gerade in ihnen abläuft, einbinden, damit das Drama im Außen ausgetragen werden kann. Natürlich können sie sich nicht in die andere Person hineinversetzen, sondern folgen einer inneren Realität, die sie jedoch für äußerlich voll verbindlich erachten und die sie deshalb unbedingt verteidigen wollen.
Deshalb macht es keinen Sinn, der anderen Person ihre Sichtweise abzusprechen, auch wenn sie einem selber als falsch und übergriffig erscheint; das ist ja genau das, was sie selber tun, und sie merken es sofort, wenn jemand mit ihnen macht, was sie, ohne es zu merken, anderen antun. Statt dessen kann man ihnen ihre Sichtweise zugestehen, aber zurückweisen, dass sie für einen selber richtig ist. Etwa in der Art: „Wenn du dich so fühlst, tut es mir leid. Ich kann akzeptieren, dass du mich so wahrnimmst. Das entspricht aber nicht meiner Wahrnehmung über mich. Und für deine Gefühle übernehme ich keine Verantwortung.“
Dabei ist es hilfreich, den eigenen Atem zu spüren und in sich selber verankert zu bleiben. Auch wenn vielleicht zunächst Ärger entsteht, wenn eine narzisstische Projektion von außen trifft, darf sich das Innere beruhigen. Dann kann das Problem dort belassen werden, wo es ist: In der anderen Person. Der Versuch der Unterschiebung des Problems ist gescheitert. Der Narzisst muss schauen, wie er mit seinen Gefühlen zurechtkommt.
Vgl. Über die Grenzen der Toleranz
Die Unausweichlichkeit der offenen Gesellschaft
Seit ein paar Monaten bin ich Besitzer eines Hörgerätes. Die Entscheidung dazu war rational einfach: Durch die Verwendung von Hörgeräten wird nicht nur die akute Hörfähigkeit erhöht, sondern auch langfristig das Hörvermögen verbessert. D.h. das Innenohr kann sich durch die Geräte regenerieren und das Hörzentrum im Gehirn wird entlastet. Emotional musste ich eine Hürde überwinden, eine narzisstische Kränkung verarbeiten.
Zumindest in meiner sozialen Wahrnehmung ist das Tragen einer Brille, also eine Sehschwäche, nichts besonderes und wirkt manchmal auch intellektuell oder chic. Das Tragen eines Hörbehelfes dagegen gehört in dieser meiner Sichtweise ins hohe, wenn nicht ins Greisenalter, und wer schon früher solche Behelfe braucht, leidet unter einer anderen Kategorie der Behinderung als jemand mit schwachen Augen. Natürlich gibt es junge Leute, die Hörgeräte brauchen, aber im allgemeinen gilt es als Indiz des Alterns. Und ein zentraler Aspekt des Alterns liegt darin, dass Fähigkeiten schwächer werden, und jedes Schwächerwerden führt in der Tendenz, die unser Denken vorausberechnen kann, gegen Null. Das ist die Angst hinter der Kränkung: Jede Schwächung, vor allem eine solche, die jedem auffällt, der genau hinschaut, erinnert an die eigene Vergänglichkeit, und der Narzissmus dient uns dazu, uns über die Endlichkeit als Teil unserer Unendlichkeit hinwegzutäuschen.
Hier noch eine aktuelle interessante Studie zum Hören in den Städten dieser
Welt: Wir sollten alles tun, um den Verkehr zu beruhigen, denn das Hören ist
ein Teil dessen, was uns zu Menschen macht.
Die Hörspezialisten von Mimi Hearing Technologies haben anlässlich des
Welttags des Hörens einen Bericht veröffentlicht, der detailliert Aufschluss
über den weltweiten Hörverlust gibt. Es wurden Daten aus den Hörtests von über
200.000 Nutzern der Mimi Hörtest-App ausgewertet und mit statistischen
Erhebungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie Daten zum weltweiten
Hörverlust aus dem SINTEF-Bericht verglichen, um zu erforschen, wie weit die
städtische Lärmbelastung und das abnehmende Hörvermögen zusammenhängen. Damit
möchte das Unternehmen nicht nur über die weltweite Hörminderung informieren,
sondern auch deutlich machen, dass sowohl bei jedem Einzelnen als auch im
Gesundheitssystem Handlungsbedarf besteht, mehr in präventive Maßnahmen zu
investieren.
Dr. Manfred Gross von der Charité in Berlin erklärt: “Während für die
meisten Menschen ein Sehtest Routine ist, kümmert sich niemand um sein Gehör.
Das wird zum Problem, denn je früher man einen Hörverlust feststellt, umso
besser sind die Chancen, weiteren Schäden vorbeugen zu können.”
Für den Hörtest von Mimi geben Teilnehmer ihr Alter und ihr Geschlecht an
und testen dann ihr Gehör. Basierend auf diesen Daten wurde der Weltweite
Hörindex 2017 erstellt, der am jeweiligen Ort den durchschnittlichen Unterschied
zwischen dem Alter der Teilnehmer und ihrem ermittelten Höralter
beschreibt.
Der durchschnittliche Hörverlust-Index zeigte eine positive Korrelation von
64 Prozent mit dem Grad der Lärmbelastung in den verschiedenen Städten an,
woraus sich schließen lässt, dass der Hörverlust direkt oder indirekt durch die
Lärmbelastung an den Wohnorten beeinflusst wird. Um sowohl den Hörverlust-Index
einer jeden Stadt, als auch den Grad der Lärmbelastung einzubeziehen, wurde für
beide Parameter eine Skala von 0 bis 1 angewendet. Die Summe beider Werte
ergibt den Zusammengefassten Hörverlust, nachdem die Städte im finalen Ranking
sortiert wurden.
Die fünf Städte mit dem geringsten zusammengefassten Hörverlust:
Zürich, Wien, Oslo, München, Stockholm.
Dabei weist Wien den geringsten Hörverlust auf: In Wien weicht das Höralter
am geringsten vom tatsächlichen Alter der Menschen ab.
Hier zum Gesamtergebnis der Studie.
Das Enneagramm ist eine Typenlehre, die neun verschiedene Ausprägungen des menschlichen Charakters kennt und in den Grundzügen beschreibt. Dieses System wird
seit nicht allzu langer Zeit in verschiedenen Bereichen zur Charakteranalyse,
Selbsterkenntnis und für das innere Wachstum angewendet. Außerdem dient es
dazu, Menschen, mit denen man zu tun hat, besser einschätzen zu können.
Ein Charakteristikum dieses Systems im Vergleich zu anderen Typologien besteht darin, dass es davon ausgeht, dass jeder Mensch einem Typus zugehört, dass es also keine Mischtypen gibt und auch keine Varianten zwischen Männern und Frauen. Damit wird es notwendig, dass jeder Mensch, der mit dem Enneagramm arbeiten möchte, erkennt, welchem Typ er angehört.
Und das ist schon der erste Schritt der Arbeit mit diesem Konzept. Denn häufig geschieht es, dass beim Studium der einzelnen Typen der Eindruck entsteht, von jedem ein Stück bei sich zu erkennen, sich aber nicht festlegen zu können, zu welchem man wirklich gehört. Es braucht oft einige Zeit, bis sich eine engere Wahl herausfiltert, aber selbst dann kann es schwer sein, sich innerlich für einen Typ zu entscheiden.
Die Auswirkung früher Prägungen auf die Verstellung des Charakters
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einen Aspekt eingehen, der bei dieser Schwierigkeit mitspielt. Laut der Theorie des Enneagramms liegt der Typ schon ganz am Anfang des individuellen Lebens, also bei der Zeugung fest. Es gibt keine Antwort auf die Frage, wie das geschieht, sondern es ist eine der Grundannahmen, die auch die besondere Kraft dieses Ansatzes ausmacht.
Wir kommen als völlig neue Wesen zur Welt, eine einmalige Kombination aus unterschiedlichen Erbanlagen. Allerdings nehmen wir auch Lasten aus dem Leben der Eltern und deren Vorfahren mit. Dennoch haben diese nach gängiger Theorie keine Auswirkung auf den Enneagrammtyp, sondern nur auf die individuelle Ausgestaltung, die natürlich jeden Menschen gleich welchen Typs zu einem einzigartigen Individuum macht.
Zur Belastung durch Vorfahren kommt, dass wir als Kinder abhängig von der Bestätigung durch unsere Elternsind. Wir wissen nur durch ihre Rückmeldungen, ob wir so gut sind wie wir sind. Sonst haben wir keine Informationsquelle für unseren Selbst-Wert. Schnell passiert es, dass wir uns an die Erwartungen unserer Umgebung anpassen und unser Verhalten in eine Richtung modellieren, die uns ein Maximum an Erfolg verspricht, nämlich ein Maximum an Anerkennung bzw. ein Minimum an Ablehnung und Zurückweisung. Wir versuchen herauszufinden, was „Bravsein“ (=sich so verhalten, dass wir die Liebe unserer Eltern erhalten) bedeutet und lernen durch Versuch und Irrtum, bis wir es schaffen, soweit zu funktionieren, dass wir nicht dauernd in den Abgrund des Liebesentzugs abstürzen müssen.
Damit verschiebt sich unser innerer Schwerpunkt vom Spüren der eigenen Bedürfnisse auf die Entwicklung von Fähigkeiten der Anpassung an die Bedürfnisse der Eltern. Der Fokus der sinnlichen Wahrnehmung verlagert sich von innen nach außen, und der innere Sinn beginnt zu verkümmern. Zunehmend definieren wir uns über die Rückmeldungen, die wir bekommen; sind sie positiv, sind wir auch positiv, sind sie negativ, sind wir auch negativ. Wir haben verlernt, auf uns selber zu hören und unserer inneren Stimme zu vertrauen. Wir sind in unserer Wirklichkeitskonstruktion von den Erwartungen unserer sozialen Umwelt abhängig geworden. Die Dimension der inneren Wirklichkeit ist bedeutungslos geworden.
Damit legt sich, aus der Sicht des Enneagramms betrachtet, ein Schleier oder ein Schutzmantel um den Persönlichkeitskern. Wir wissen selber nicht mehr genau, wer wir eigentlich sind, weil wir gelernt haben, unsere eigene Wirklichkeit allein an den Maßstäben anderer zu messen. Das äußert sich darin, dass wir uns später in unserem Enneagrammtyp irren können. Wir sehen uns noch immer mit den Augen unserer Eltern und deren Verhaltenserwartungen. Erst wenn wir lernen, hinter diese Schale zu spüren und tiefer wahrzunehmen, wo unsere eigentlichen Triebkräfte, Ressourcen und Potenziale liegen, erkennen wir, was unsere Grundanlage ist.
An diesem Punkt brauchen wir manchmal die Unterstützung von außen, um den Blick in die richtige Richtung zu lenken, also reicht es nicht, sich nur von Büchern und anderen Informationsquellen inspirieren zu lassen. Allzu leicht können uns unsere Ängste täuschen und ablenken. Wir schauen dann auf etwas, das uns wichtiger erscheint, obwohl es in Wirklichkeit nebensächlich ist. Denn unser schützendes Unterbewusstsein signalisiert uns, dass wir uns genau dort in Acht nehmen sollen, wo die zentralste Heilungsmöglichkeit verborgen ist, weil dort auch am meisten Angst und Schmerz gespeichert ist. Eine helfende und erfahrene Person kann uns auf diese Punkte aufmerksam machen und uns zur Seite stehen, wenn wir in sie hineingehen. Und dann wird es klar, welche genau unsere Position im Zyklus des Enneagramms ist, und wir können deutlicher die Kraft spüren, die sie anbietet.
Was bringt die Erkenntnis des Enneagramm-Typs?
Was haben wir davon, wenn wir wissen, welcher Typ im Enneagramm der unsere ist? Sind wir dann für immer fixiert und festgelegt, haben wir unsere Freiheit und Veränderungsfähigkeit eingebüßt? Solche Ängste können wir getrost weglassen. Wir haben nur einen zusätzlichen Orientierungspunkt gewonnen, der uns helfen kann, wenn wir in die Zukunft schauen, wenn wir also neue Aufgaben anpacken, und wenn wir zurück schauen, um unsere hinderlichen Muster zu durchschauen.
Zum einen wird uns deutlich, welche Strategien, Einstellungen und Bestrebungen uns entsprechen. Wir verstehen dann besser, warum uns bestimmte Handlungen leicht fallen und andere immer wieder auf Widerstand stoßen. Damit kann die Erkenntnis unseres Typs der Verbesserung unserer Leistungsfähigkeit in allen Belangen des Lebens dienen. Wir arbeiten mit unseren Grundanlagen und nicht gegen sie.
Aus dem Verstellungsmodus kommend, neigen wir dazu, uns mit anderen zu vergleichen. Z.B. meinen wir, Führungsaufgaben so erledigen zu sollen, wie es andere machen, die wir als Führungsfiguren bewundern. Oder wir wollen so kommunizieren, wie andere es tun, die uns gut gefallen. Wir bemühen uns redlich, aber letztlich erfolglos, so zu agieren, wie es jemand anderer macht. Wir können uns allerdings nur bis zu einem gewissen Grad verbiegen, dann drohen wir zu brechen.
Diese Arbeit gegen uns selbst können wir aufhören, sobald wir wissen, wie wir selber funktionieren, und dazu kann uns helfen, draufzukommen, wie unsere Grundstrukturen beschaffen sind. Wir kommen damit leichter in den Flussmodus und können unsere Kreativität ohne innere Hindernisse mit der Welt teilen.
Die andere Richtung weist uns darauf hin, wo unsere Hauptblockierungen für eine Weiterentwicklung liegen. Jeder Enneagrammtyp ist mit einem bestimmten Schattenmuster verbunden, in dem die speziellen Ängste wirken, die in jeder Prägung stecken. Wir wissen damit, wo wir hinschauen müssen, wenn sich ein Widerstand im Lebensfluss zeigt, wenn wir auf ein Leiden stoßen oder auf Konflikte mit unserer Umgebung. Wo immer wir mit dem Leben auseinanderfallen, wo immer wir die Wirklichkeit nicht so akzeptieren können, wie sie ist, dort meldet sich der Schattenbereich unseres Typs, den wir mit Hilfe des Modells deutlicher ins Visier nehmen können.
Das Enneagramm ist ein bewertungsfreies System. Jeder Typ ist gleich viel wert, jeder hat seine Vorzüge und Lernaufgaben. Mit ihm üben wir uns auch darin, uns selbst wahrzunehmen und anzunehmen: Mit einer Prägung, die spezielle Vorzüge und spezielle Verengungen aufweist. Damit wissen wir, worauf wir aufbauen können und in welche Richtung wir uns weiter entwickeln können. An der Schwelle zu dieser Richtung warten Ängste auf uns, aber das Enneagramm kann uns helfen, sie zu benennen und überall zu identifizieren, wo sie im Leben behindernd auftreten. Dadurch fällt ihre Auflösung leichter.
Mit der Befreiung von Ängsten schaffen wir Raum für Liebe und innere Ruhe. Indem wir die aus unserer Biographie entstandenen Schutzhüllen auflösen, stoßen wir zu dem innersten Kern vor, der unbeschädigt ist – und der sich letztlich selber als Illusion erweist. In diesem Sinn erweist sich die Suche nach dem Enneagrammtyp als spiritueller Reinigungsweg.
Vgl. Typenwahl im Enneagramm
Frühkindliche Prägungen
Erfolg heißt, ich schaffe es, trotz Widerstand und Schwierigkeiten doch noch zu dem zu kommen, was ich ersehne und wodurch ich hoffe, der Ganzheit näher zu kommen. Aus der kindlichen Perspektive ist das, wonach ich mich sehne, das, was ich brauche, und das ist mein Recht, deshalb spricht die Psychologie auch von Entwicklungsrechten. In der Sicht des Kindes ist es ein Recht, das zu bekommen, was zum Überleben notwendig ist. Das Kind klagt in seinem Schreien aus Bedürfnisnot sein Existenzrecht ein: Wenn ich das, was mir jetzt gerade fehlt, nicht kriege, dann wird mein Menschenrecht auf Existenz nicht geachtet.
Wenn die Erfüllung der Bedürfnisse selbstverständlich und bedingungslos gewährt wird, folgt also auf die Bedürfnisäußerung in angemessener Zeit die entsprechende Befriedigung, dann schließt sich die Gestalt, die Spannung schwindet und Wohlgefühl macht sich breit. Unter dem aktuellen Ereignis wächst das Fundament an Vertrauen, in die Menschen, in die Welt und in sich selbst: Ich bin mit der Welt in gutem Kontakt so wie sie mit mir, ich haben meinen Platz, von dem aus ich wachsen kann.
Kommt es aber zu Störungen und Unterbrechungen im Zyklus zwischen Bedürfnis und Erfüllung, so entsteht statt Entspannung Frustration. Und jede Frustration bewirkt Enttäuschung und Misstrauen und verunsichert die Einstellung zur Umgebung und zu sich selbst. Jede Frustration führt zu einer inneren Verhärtung, und sucht sich eine Kompensation.
Erfolge als Kompensation
Kompensation heißt, dass etwas Eigentliches, Authentisches, auf organischer Ebene Stimmiges und Gesundes durch etwas Zweitrangiges ersetzt wird, gewissermaßen eine falsche Kopie für das Original, der Schnuller für die Mutterbrust. Wir können die gefälschte Version der Wirklichkeit akzeptieren, weil sie der eigentlich stimmigen Befriedigung ähnlich ist und weil sie einen gewissen Grad an Befriedigung bedeutet. Wir täuschen uns selber über die Frustration und ihren Schmerz hinweg und trösten uns mit einem Ersatz. Diese Figur bestimmt hinfort unser Streben in der Welt.
Denn die moderne Lebenswelt in ihrer Üppigkeit und Buntheit bietet uns eine nahezu unendliche Fülle an Kompensationen an: Konsumartikel und Erfolgschancen. Beide sind ineinander verschachtelt: Wir wollen konsumieren, um innere Mängel zu kompensieren. Dafür brauchen wir Erfolg, für den wir uns anstrengen müssen, und wir strengen uns deshalb an, weil wir dann ungehemmt konsumieren können, also alle Mängel auffüllen können. Der Mangel dient dann wieder als Antrieb für das Erfolgsstreben. Konsum ist die passive und Erfolg die aktive Seite der Lebensbewältigung, solange sie nur von unerfüllten Kindheitsbedürfnissen gelenkt wird.
Das ist der Motor des materialistischen Bewusstseins: Jedem wird eine Karotte vor die Nase gebunden, die er zu erhaschen strebt, weil sie ihm die Erfüllung jedes inneren Mangels verspricht. Sie sagt: „Verspeise mich, dann bist du für immer glücklich, aber erst musst du mich mal erwischen.“ Und jetzt glaubst du, du hast sie geschnappt und das Glück ist dein – aber nein, da baumelt schon wieder eine vor der Nase, oder ist das noch immer die alte?
Die unbarmherzige Herrschaft des Zahlenprinzips schlägt auf dieser Bewusstseinsebene zu: Welche Zahl du auch nimmst, es gibt unendlich viele, die mehr davon sind. Wie viele Erfolge du auch hast, es gibt unendlich mehr von denen, die du nicht hast. Wie viel Geld du hast, es gibt unendlich mehr, das du nicht hast. Alles, was du erreicht hast, findet sich inmitten einer bis an den Horizont reichenden Wüste des Mangels. Dennoch ist es keine Wahl, aufzugeben, denn Aufgeben bedeutet den Untergang.
Es heißt so schön: Ohne Fleiß kein Preis. Ohne Anstrengung gibt es keine Auffüllung des Mangels. Solange der Mangel herrscht, war die Anstrengung noch zu gering. Wer erfolgreich sein will, muss hart arbeiten. Das zeigen uns die, die es geschafft haben, die uns auf den Hochglanzbildern gütig zulächeln: Sie haben ihren Mangel gestillt und schweben deshalb nahe am Himmel, badend in ihrem märchenhaften Reichtum, millionenfach bewundert und beneidet.
Bedingungsloses Schaffen
Im anderen Fall, also wenn die Aktivität nicht aus den unerfüllten emotionalen Bedürfnissen der Kindheit kommt, sprießt sie aus kreativen Gestaltungsbedürfnissen, die ungehindert und ungeplant aus dem Lebensvertrauen sprudeln und sich entfalten wollen. Hier geht es nicht primär um den Erfolg, sondern um den Selbstausdruck, um das Teilen des Eigenen und Individuellen mit dem Ganzen, also um ein Geben, das nicht auf das Zurückbekommen fixiert ist. Die Aktivität macht schon in sich Sinn, gleich was danach kommt, ob sie mit frenetischem Applaus von Menschenmassen bedacht wird oder im Stillen blüht, von niemandem bemerkt und bestaunt. Es beinhaltet auch die Freude über Anerkennung, denn das Teilen ist erst wirklich ein Teilen, wenn es von jemandem angenommen wird. Was fehlt, ist die Abhängigkeit vom Rücklauf, von der Reaktion der Menschen auf das Geschaffene. Das ist es, was die Freiheit im Schaffen bewirkt.
Diese Freiheit entsteht, wenn wir erkennen, dass ein innerer, emotionaler Mangel nicht durch äußere, materielle Erfolge wettgemacht werden kann, so üppig diese auch ausfallen mögen. Wir müssen uns den Gefühlen stellen, die durch die fehlende Bedürfnisbefriedigung in uns entstanden sind und weiter wirken. So entkommen wir den Schleifen der Erfolgsabhängigkeit und werden frei für ein bedingungsloses Schaffen, für ein Geben aus dem Vertrauen heraus, dass alles, was wir brauchen, uns in der rechten Form zukommt.
Vgl. Wozu brauchen wir Erfolge?
Im Repertoire unserer Gefühle hat die Wut einen besonderen Stellenwert, wie schon im früheren Artikel zu diesem Thema beschrieben. Denn es ist offensichtlich, dass wir als Individuen wie als Gesellschaft nur schwer mit dem Zorn zurecht kommen. Wenn jemand weint, wissen wir, dass wir trösten sollen, wenn jemand Angst hat, versuchen wir zu beruhigen und Sicherheit zu geben. Wenn jemand in der Wut ist, tun wir uns schwerer. Denn dieses Gefühl bedroht und fordert dazu heraus, sich zu schützen.
Allzu schnell kann es passieren, dass unsere Reaktion die Wut nur vermehrt: Beschwichtigung, Rechtfertigung, selber zornig werden, auf Distanz gehen, zur Vernunft mahnen, etc., all dies kann die zornige Person noch aggressiver machen. Eltern fühlen sich oft hilflos mit den Wutausbrüchen ihrer Kinder, Lehrer mit denen der Schüler, und die Ereignisse die der näheren und ferneren Umgebung, die mit Gewalt zu tun haben, füllen die Seiten der Zeitungen, Tag für Tag - Anzeichen der kollektiven Unfähigkeit der Menschheit, mit dem Gefühl der Wut umgehen zu können.
Die Wut ist ein notwendiges Gefühl, nicht umsonst hat uns die Evolution damit ausgestattet. Wenn jemand in unseren Raum eindringt, ohne dass wir das wollen, müssen wir uns wehren können, weil sonst unsere Integrität oder sogar unsere Identität zerstört werden könnte. Die Wut ist das Gefühl, das die Energien mobilisiert, die für die Verteidigung gebraucht werden. Wenn wir keinen Zugang zu unserem Zorn haben, sind wir den Machteinflüssen, die von außen kommen, wehr- und hilflos ausgeliefert. Unsere Grenzen werden überrannt, ja es ist geradezu so, dass wir, ohne es zu wollen, andere, die ihren Machtraum ausdehnen wollen, einladen, diesen unseren Raum für sich in Besitz zu nehmen.
(Das mit der Wut verbundene Phänomen der Macht können wir so verstehen, dass sich die Macht, ähnlich der Luft oder dem Wasser, immer dorthin ausbreitet, wo ein Mangel ist, ein Vakuum. Macht hat die Tendenz, sich so weit auszudehnen, bis sie auf eine Grenze stößt, wie ein Hochwasser, das allen Raum einnimmt, wo noch kein Wasser ist, bis eine wasserfeste Grenze Einhalt gebietet. Dazu kommt, dass die Macht, wie die Wut, im vorrationalen Bereich angesiedelt ist, dass also Argumente gegen ihren Expansion nichts ausrichten können.)
Wie kann die Regulation von Wut gelernt werden?
Die Wut als "reines" Gefühl zeigt sich im 2. Lebensjahr. Entwicklungsdynamisch geht es in dieser Phase darum, dass sich das Kleinkind aus der Abhängigkeit von den Elternpersonen lösen muss. Es sucht die Lösung aus der Bindung, um ein eigenes autonomes Individuum werden zu können. Nur kann die Lösung aus der Bindung in diesem Alter nur innerhalb der Bindung erfolgen, also innerhalb eines Rahmens von Sicherheit. Wird jedoch die Bindung von den Erwachsenen in Frage gestellt oder abgebrochen, sobald sich das Kind "daneben benimmt", gerät das zornige Kind in eine Falle: Bin ich zornig, verliere ich jede Sicherheit, bin ich nicht zornig, kann ich nicht zur Autonomie kommen. Es bleiben nur zwei Möglichkeiten, und aufgrund verschiedener Umstände wählen die einen die "progressive" Alternative, indem sie immer wieder wütend werden, bis die Erziehungspersonen resignieren. Sie lernen, dass sie nur über Wut ihren Willen durchsetzen können. Die anderen versuchen, das Gefühl der Wut zu unterdrücken, oft bis zu dem Punkt, dass sie später gar nicht mehr wissen, dass sie so ein Gefühl jemals hatten, und sie wundern sich, wenn andere wütend werden. Sie passen sich an und werden brave, nach Alice Miller "begabte" Kinder, also Kinder, die darauf dressiert sind, alles zu vermeiden, was die Eltern unzufrieden machen könnte. Diese Kinder verhalten sich regressiv, weil sie auf die Entwicklung ihrer Autonomie verzichten, während die anderen ihre Autonomie nur mittels Gewalt behaupten können. Die einen gehen den Weg des geringsten und die anderen den des maximalsten Widerstandes. Beide Wege sind gleichermaßen ungesund für das innere Wachstum.
Der Wütende ist in seiner Wut hilflos. Das ist die Erfahrung des Kleinkindes, und es signalisiert auch: Ich kann jetzt nicht anders, helft mir, dass ich wieder rauskomme. Die kindliche Wut enthält einen starken Appell, der oft mit einer enormen Wucht und Lautstärke zum Ausdruck kommt und den ganzen Passagierraum eines Flugzeugs oder Bahnwaggons ausfüllt.
Es ist die Verantwortung der Großen, dem Kind einen Weg zu zeigen, wie es selber eine Wut regulieren kann. Dazu brauchen die Erwachsenen für sich eine Wutkompetenz, also die Fähigkeit, aus der Kenntnis dieser Emotion ihre Kraft und ihre Grenzen zu kennen und damit so umgehen zu können, dass das Gefühl weder unterdrückt noch explosiv ausgedrückt werden muss. Sie brauchen also selber genügend Erfahrungen im druckfreien und selbstverantwortlichen Umgang mit der Wut.
Im günstigen Fall bleiben die Eltern in kommunikativem Kontakt mit dem Kind. Das kann nonverbal oder verbal sein. Sie lassen sich nicht in Stress bringen, auch wenn das Kind im Stress ist. Sie geben dem Kind die Rückmeldung, dass sie bei ihm bleiben, ohne aber dem Inhalt der Wut nachzugeben. Erst wenn sich das Kind beruhigt hat, kann auf den Anlass des Gefühlsausbruches eingegangen werden.
Wird das Kind beispielsweise wegen eines Verbots zornig, so macht es keinen Sinn, während des Wutprozesses zu erklären, warum das Verbot notwendig ist. Vielmehr kann das Kind erst verstehen, was gemeint ist, wenn es sich wieder beruhigt hat.
Hilflose Kinder und hilflose Eltern
In vielen Fällen allerdings geschieht das Gegenteil: Die hilflos wütenden Kinder machen die Eltern hilflos. Beide Seiten verzweifel, und die Eltern erscheinen gleich inkompetent wie die Kinder. Das ist natürlich nicht deren Schuld, weil sie selber als Kinder keine Wutregulation lernen konnten, und auch in den Schulen kein Unterrichtsgegenstand dafür vorgesehen ist. So retten sich die meisten mit der Wutstrategie, die sie im Überlebenskampf der frühen Kindheit erworben haben, durchs Leben, bis sie selber wieder Eltern werden - ein Staffellauf der missglückten Wutintegration. Die Einzelschicksale summieren sich in der gesellschaftlichen Manifestation der Unfähigkeit gegenüber dem Phänomen der Wut.
Wutregulation als gesellschaftliche Aufgabe
Das Problem der Wutregulation ist kein triviales und auch nicht nur ein privates, sondern, wie eingangs erwähnt, es formuliert eine zentrale Aufgabe für jede Gesellschaft. Denn die Energien, die in der Wut stecken, können Gesellschaften von ungerechten Strukturen befreien, aber auch ins Chaos stoßen, wie wir an vielen Beispielen aus Vergangenheit und Gegenwart sehen können.
Aus der therapeutischen Arbeit wissen wir, dass viele Menschen, wenn sie tiefer in sich hineinspüren, auf eine immense Wut stoßen, eine, von der sie meinen, dass sie, wenn ausgedrückt, alles zerstören würde.
Es ist die Wut des Kleinkindes, das sich der Macht des Gefühls hilflos ausgeliefert fühlt und dem der Rahmen für ein Verstehen fehlt, wenn ihn die Eltern nicht bieten können. Bei erwachsenen Menschen kann sich diese hilflose und zugleich ungeheure Wut ausdrücken, wenn es dafür eine Rechtfertigung gibt, wenn also die gesellschaftliche Hemmung der Aggression durch eine andere gesellschaftliche Kraft aufgehoben wird. Denken wir an die angepassten Kleinbürger, die in der SS-Uniform zur Bestie wurden.
Die Terroristen unserer Zeit ziehen die Rechtfertigung ihrer öffentlich inszenierten Wutausbrüchen aus der Identifikation mit einem Kollektiv und einer Ideologie: Meiner Gemeinschaft, meinem Volk, meiner Religion wurde so viel angetan, dass ich in meiner immensen Wut darüber nur einen Bruchteil davon ausgleichen kann, indem ich einige Dutzend Menschen umbringe. Das reicht lange nicht dafür, dass der Schaden, der mir und meiner Gemeinschaft zugefügt wurde, wieder gutgemacht werden könnte. So unschuldig, wie ich und mein Kollektiv zum Opfer wurde, so unschuldig können und sollen die Opfer meiner Wut sein. Die Schuld liegt bei den anderen und muss durch Opfer gesühnt werden. Auf diese Weise gelingt es auch, mit dem Widerspruch zurecht zu kommen, der entsteht, wenn die Opfer Angehörige der eigenen Gruppe, Religionsgemeinschaft oder Nation sind.
Der Terrorist sieht sich als legitimer Vertreter einer Gemeinschaft, für die er mit seiner Gewalttat etwas zum Ausgleich bringen will, was durch Gewalt verursacht wurde. Er darf, ja, er muss tun, was als einzige Möglichkeit zur Verfügung steht: Gewalt durch Gewaltausübung auszugleichen. So wie ihm kein Mitgefühl zuteil wurde, so braucht er kein Verständnis für die Opfer seiner Taten haben.
Alles an Grausamkeit, was ihm als Kleinkind widerfahren ist, wird der Welt angetan, denen, die nichts von diesem Leid wissen, aber durch das Leid, das ihnen zugefügt wurde, verstehen sollen, worin ihr Verschulden liegt.
Die kollektive Wutregulation
Trivial ist die Frage der Bildung im Bereich der Wut auch deshalb nicht, weil die Flexibilität der Gesellschaft davon abhängt, wie weit die kollektive Wutregulation funktioniert. Wenn z.B. unserer Gesellschaft durch Zuwanderung neu aufgemischt wird, löst die Verunsicherung im bestehenden System Ängste und darauf aufbauend Wut aus. Die Zunahme von Hass in sozialen Netzwerken ist ein Symptom dafür, wie fragil das Wutmanagement in einer Gesellschaft ist, in der die Wutunterdrückung nur notdürftig geregelt ist. Kaum tritt ein neuer Faktor auf, der destabilisierend wirken könnte, verschaffen sich die in den Tiefen der Seele schlummernden Wutgefühle ein Ventil. Hass schwabbert hoch, sobald Menschen ihre Grenzen bedroht fühlen, Ohnmacht und Hilflosigkeit erleben. Auch sie meinen, dass die Wut- und Hassgefühle angesichts objektiver Faktoren berechtigt sind, ohne zu merken, dass sich in ihnen die ohnmächtigen und hilflosen Kleinkinder melden und nach Verständnis, Schutz und Ausgleich verlangen.
Wut im kommunikativen Rahmen
Was wir lernen müssen, als Individuen, in Gruppen und in der Gesellschaft, ist die Einbeziehung der Wut in die Kommunikation. Hier ist der Raum, in dem wir sie zähmen können, ohne sie zu unterdrücken. Die Wut kann im Rahmen bleiben, wenn der Kontakt nach außen weiter besteht. Die isolierte Wut ist es, was nach innen und nach außen zerstörerisch wirkt. Wutmanagement besteht also darin, die Wut in den Austausch und in den Kontakt einzubinden. Damit wird dem wütenden inneren Kind signalisiert: Du darfst deine Wut haben, sie ist weder gut noch böse, sondern ein Ausdruck dessen, was in dir gerade vorgeht. Die Wut kommt und sie geht auch wieder, und ich bleibe die ganze Zeit, die es dafür braucht, bei dir und mit dir. Ich kenne diese Wut und ich weiß, was es braucht, damit sie da sein kann und gut wieder abfließen kann. Die Angelegenheit, um die es geht, kann besser im ruhigen Gespräch geklärt werden, so dass eine Lösung gefunden werden kann, mit der beide Seiten gut leben können.
Es ist auch wichtig, dass die Hassposter nicht in ihrer Blase bleiben, indem sich andere einmischen, die andere Meinungen vertreten, ohne die aggressive Sprache zu teilen. Dann kann deutlich werden, dass der Hass ein Randphänomen in einer Gesellschaft ist, die (noch) ihre Auseinandersetzungen kommunikativ, im Diskurs auflösen kann. Der Hassposter kann sich dann selber entscheiden, sich vom Rand weg zu bewegen in einen Bereich, wo seine Ansicht Gewicht bekommen kann, indem sie in einer respektvollen Sprache abgefasst ist, oder am Rand zu bleiben, wo er Außenseiter und Minderheit bleibt.
Alle also, die nicht wollen, dass die Ränder ins Zentrum drängen und statt dessen eine gesellschaftliche Mitte wünschen, in der die Vernunft im Sinn der gewaltfreien Kommunikation einen bestimmenden Rang behält, müssen auch das Ihre dazu beitragen, dass den Ausbrüchen unzivilisierter und respektloser Wut ziviler Widerstand entgegengesetzt wird. So kann die Gesellschaft offen bleiben und ihre seit Jahrhunderten erkämpften Freiheiten aufrecht erhalten.
Zum Weiterlesen:
Der Bösewicht in uns
Was tut gut an der Wut?
Die passive Aggressivität
Wie stellen wir es an, eine neue Gewohnheit zu etablieren, wenn wir merken, dass wir mit einem bestimmten Aspekt unseres Lebens unzufrieden sind? Z.B. fühlen wir uns gestresst und wissen, dass wir mehr Entspannung im Leben brauchen, merken aber, dass wir uns gerade dann besonders unruhig und gestresst fühlen, wenn wir uns entspannen wollen.
Um eine Veränderung unserer Gewohnheiten zu erreichen, ist ein bewusster Einfluss notwendig. Erfordert ist der Einsatz des Willens, also die Mobilisierung der inneren Bereitschaft, etwas zu ändern. Damit versuchen wir, eine bewusste Kontrolle der oberen Zentren unseres Gehirns über die unteren, unbewussten, auszuüben (top-down). Unser Wollen gibt die Richtung vor, in die es gehen soll.
Die Erfahrung zeigt uns allerdings häufig, dass sich das alte Muster zurückmeldet, sobald wir unsere Aufmerksamkeit abziehen, oder kurz danach – oder bei nächster Gelegenheit, bei der ein äußerer Anreiz das alte Muster aktiviert. Die neue Übungsform erscheint nun beschwerlich, anstrengend, unbequem, während uns das alte Muster Bequemlichkeit und Vertrautheit suggeriert.
Daran zeigt sich die verführerische Macht der Gewohnheit. Unser Unterbewusstsein hat die „Erfolgsmasche“, Strategien, die lange Zeit eingeübt sind, für sinnvoll zu halten, auch wenn sie uns selber, unserer Gesundheit oder unserem Sozialleben nicht gut tun. Es nimmt eine neue Form, die wir üben, zunächst als netten Ausflug in ein unbekanntes Terrain, von dem schnell der Weg zurück ins bequeme altbekannte Muster gesucht wird. Dort fühlen wir uns sicher, weil wir in vertrauter Umgebung sind, so sehr wir auch immer wieder daran leiden mögen. Meistens ziehen wir – sprich unser Unterbewusstsein – die Sicherheit der Stimmigkeit vor, denn die Unsicherheit grenzt schnell an die Überlebensfrage an, und so zieht uns unser innerer Wächter von der gefährlichen Klippe zurück in die bewährte Komfortzone, in der wir uns schon sicher eingerichtet haben – Sicherheit um jeden Preis. Das Gewohnte dem Neuen vorgezogen, auch wenn es uns oft mehr Belastung, Verunsicherung oder Stress beschert als die neue Strategie.
Deshalb gelingt es uns nur, neue Muster zu etablieren, wenn wir sie beständig einüben. Dazu brauchen wir den klaren inneren Entschluss, die klare Ausrichtung und die Bereitschaft, gegen alle Widerstände und Bequemlichkeiten dranzubleiben. Auch hilft uns die Meta-Bereitschaft, beim Einknicken der Übungspraxis als ganzer einfach wieder anzufangen, ohne uns selbst wegen unserer Inkonsequenz abzuwerten.
Auf diese Weise schwächen wir langsam und Schritt für Schritt die Macht der alten Gewohnheit. Wir können uns unser Gehirn vorstellen wie einen Wald. Tiere und Menschen nehmen dort einen bestimmten Weg, der langsam ausgetrampelt wird. Weil es einfacher ist, ihn entlang zu gehen als im Dickicht daneben, nehmen alle, die den Wald durchqueren wollen, diesen Weg. Die Pflanzen haben keine Chance, am Weg zu wachsen, und so entsteht die kleine Schneise durchs Unterholz.
Ähnlich läuft es in unserem Gehirn: Pfade, die wir immer wieder benutzen, werden stärker mit Neuronen besetzt, und diese werden leichter mit anderen vernetzt als jene, die wir kaum nutzen. Also kommen wir schnell aufs immer wieder gleiche Gleis, wenn eine Information von außen oder von innen dorthin steuert, und ab geht die Post.
Bahnung
Beim Üben machen wir es umgekehrt. Wir legen einen neuen Pfad an. Zunächst wird er zugewachsen sein, wenn wir ihn am nächsten Tag suchen. Aber wir kennen die Richtung und gehen einfach wieder aufs Neue los. Manchmal wird es passieren, dass wir den alten Weg wählen und erst mittendrin draufkommen, was wir eigentlich wollten. Dann wechseln wir auf den neuen Weg und gehen ihn mit Bewusstheit. Stetig wird der neue Weg gebahnt, wir haben eine Bahnung (Priming) geschafft, wie das in der Gehirnforschung bezeichnet wird, eine kleine Autobahn im Gehirn, der die Neuronenfeuerungen entlang rasen.
Wir erleben, dass es uns leichter fällt, die neue Verhaltensweise anzuwenden. Die Widerstände sind schwächer geworden oder ganz verschwunden, und wir haben Freude an der neuen Aktivität. Damit ist die positive Selbstverstärkungsschleife etabliert, die neue Tätigkeit wird zum Selbstläufer, wir vergessen kaum darauf, weil uns etwas dazu hinzieht, und wir missen es, wenn wir einmal keine Zeit haben.
Wann immer wir eine Musterveränderung in eine Richtung anstreben, die uns, unserer Gesundheit und unserem Wohlbefinden gut tut, wie z.B. das Üben einer entspannenden Atemmethode, wirken die Selbstheilungskräfte unseres Körpers mit. Es gibt ein organisches Wissen in uns, das die ideale und optimale Funktionsweise unseres Inneren kennt. Es weiß z.B. um das Gleichgewicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus in unserem autonomen Nervensystem, das unsere Leistungsfähigkeit ebenso wie unsere Regenerationsfähigkeit stabilisiert. Es strebt von sich aus zu Ausgleich und Harmonie, wenn es zu einer einseitigen Überlastung kommt. Sobald wir bewusst gelenkte Schritte in diese Richtung initiieren, wird es seine unbewussten Energien mobilisieren, um die Änderung hin zur Optimierung zu unterstützen.
Damit haben wir einen wichtigen Partner für unseren Übungsweg gefunden, der uns hilft, dass wir immer leichter und schneller zum neuen Weg finden und dass wir immer eleganter und flexibler auf ihm weiterkommen.
Soziale Verstärkung
Eine weitere Unterstützung auf dem Änderungsweg kommt aus unserem sozialen Umfeld. Menschen können uns in vielfältiger Weise helfen, die neuen Gewohnheiten fester in uns verankern, vor allem, indem sie uns positive Rückmeldungen geben, auch indem sie uns ermuntern und helfen, Widerstände zu überwinden. Am besten gelingt das Gleichgesinnten, die den Übungsweg selber kennen oder kennenlernen wollen. Deshalb ist es immer empfehlenswert, Wanderkameraden für den neuen Pfad zu finden. Wir können uns über unsere Erfahrungen austauschen und neue Impulse aufnehmen, wenn unsere inneren Antriebe erlahmen. Wir nehmen uns ein Beispiel an anderen, denen eine bestimmte Aktivität leichter fällt, und dienen als Beispiel für jene, die sich schwerer tun als wir selber.
Vom Nutzen des Wachsens
Jede neu eingeübte Fertigkeit erweitert unser inneres Repertoire und macht uns damit reicher. Wir können in irgendeiner Weise besser mit der Wirklichkeit umgehen und deren Vielfalt leichter für uns nutzbar machen. Je mehr Autobahnen wir in unserem Gehirn gebahnt haben, desto mehr Ziele können wir erreichen und desto schneller kommen wir von einem Ort zum nächsten. Der Spaß, der in dieser Beweglichkeit steckt, verlockt zu den nächsten Bahnungen, zum nächsten Abenteuer im inneren Wachsen.
Vgl. Der Vagus
Das kohärente Atmen
Widerstand und Verwandlung
Der Vagus-Nerv wird in diesem Artikel in seiner Wichtigkeit für unsere Gesundheit und Gesunderhaltung vorgestellt. Er verdient auch diese Prominenz, sodass ihn der Wiener „Hormonpapst“ Johannes Huber in seinem jüngsten Buch so vorstellen kann: „Gestatten: Dr. med. personalis Nervus Vagus, die Selbstheilungskraft jedes Menschen.“ (S. 102)
Vagus und Parasympathikus
Wer mit der Polyvagaltheorie und dem kohärenten Atmen vertraut ist, weiß schon, wovon die Rede ist. Der Vagus-Nerv ist die Hauptkomponente des parasympathischen Nervensystems, und damit der wichtigste Akteur für Ruhe, Erholung und Regeneration.
Der Vagus-Nerv beginnt im Hirnstamm, hinter den Ohren. Von dort wandert er auf jeder Seite des Nackens nach unten bis zum Bauch. Das Wort „Vagus“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie Wandern, weil sich diese Nervenbündel im ganzen Oberkörper verzweigen. Sie verbinden das Gehirn mit dem Magen und dem Verdauungstrakt, versorgen die Lungen, Herz, Galle, Leber und Nieren. Dazu kommt noch die Enervierung von Sprache, Mimik und Augenbewegungen, die bekanntlich vom neuen, smarten Teil des Vagus gesteuert wird, der vom ventralen Teil des Hirnstammes ausgeht.
80 Prozent der vagalen Nervenfasern sind sensorisch, d.h. sie übermitteln Nachrichten von den peripheren Organen ans Gehirn. Deshalb kann der Vagus als „gutmütiger Spion“ (Johannes Huber) defekte Körperfunktionen ausfindig machen und schnell Gegenaktionen in Gang setzen.
1921 hat der deutsche Arzt Otto Loewi entdeckt, dass die Reizung des Nervs den Herzschlag reduziert, indem eine Substanz ausgeschüttet wird, die er „Vagusstoff“ nannte. Später erhielt sie den Namen Acetylcholin und wurde der erste Neurotransmitter, der von den Wissenschaften entdeckt wurde. Er wirkt wie ein Tranquilizer, den wir ganz einfach selber aktivieren können, indem wir langsam und entspannt ausatmen. Das Acetylcholin wird während der Ausatemphase über den Vagus zum Sinusknoten transportiert, wo es dessen Aktivität dämpft und den Herzschlag verlangsamt. Damit nutzen wir die Kraft des Parasympathikus, um uns in den Zustand innerer Ruhe zu versetzen.
Der Vagus-Nerv arbeitet tief unterhalb unseres Bewusstseins. Er ist von zentraler Bedeutung dafür, unseren Körper gesund zu erhalten. Er ist der wesentliche Teil des parasympathischen Nervensystems, zuständig für die Beruhigung des Körpers nach Stresserfahrungen. Wenn das Vagus-Nervensystem kräftig ausgebildet ist, kann sich der Körper schneller und leichter entspannen.
Die Stärke der Vagus-Reaktion wird als vagaler Tonus bezeichnet, der über die Messung der Herzschlagvariabilität bestimmt werden kann. Forschungen haben gezeigt, dass ein hoher vagaler Tonus dazu beiträgt, dass der Körper den Glukosespiegel im Blut besser regulieren kann. Damit wird die Wahrscheinlichkeit von Diabetes, Gehirnschlag und Herzkreislauferkrankungen verringert. Ein niedriger vagaler Tonus dagegen wird mit Depressionen, getrübten Stimmungen, Herzanfälle und auch mit chronischen Entzündungen in Verbindung gebracht.
In einer Studie aus dem Jahr 2010, die in Psychological Science publiziert wurde, zeigte sich, dass ein hoher vagaler Tonus mit einer positiven Feedbackschleife zwischen positiven Emotionen, körperlicher Gesundheit und guten sozialen Verbindungen einher geht. Bei diesem Experiment wurde die Loving-Kindness-Meditationstechnik verwendet, um die Teilnehmer in eine gute Stimmung zu bringen. Es zeigte sich jedoch, dass schon die Reflexion auf positive soziale Kontakte den vagalen Tonus steigern konnte.
Der Vagus und die Entzündungen
Wenn irgendwo im Körper eine Entzündung entsteht oder sich etwas Schädliches entwickelt, sind proinflammatorische Proteine wie Interleukin 6 oder der Tumornekrosefaktor beteiligt. Sie sind in der Lage, gesunde Zellen umzubilden. Sie kommen aber auch über den Nervus Vagus ins Gehirn. Dort wird Acetylcholin gebildet, um die Entzündung an der Peripherie zu bekämpfen.
Der Vagusnerv ist also die wichtigste Kommunikationsschiene zur Aufrechterhaltung eines störungsfreien Ablaufes in unserem Organismus, für den es notwendig ist, all die potenziellen Entzündungs- und Krebszellen, die wir in uns tragen, unter Kontrolle zu halten, sodass sie ihre schädlichen Wirkungen nicht entfalten können.
Menschen, denen früher wegen Magenleiden der Nervus-Vagus durchtrennt wurde (damit wollte man die Produktion von Magensäure verringern), begannen nach der Operation Tumore zu entwickeln. Offenbar sind wir ohne Parasympathikus den Krebszellen hilflos ausgeliefert.
In einer weiteren Studie aus dem Jahr 2014 fanden die Schweizer Forscher heraus, wie der Vagus Bauchgefühle wie Angst und Furcht ins Gehirn transportiert. Wahrscheinlich spielen die Zytokine eine Hauptrolle, wenn das Immunsystem durch Stress überlastet wird. Eine verstärkte Zytokin-Produktion ist jedenfalls beteiligt an gedrückten Stimmungen und Energie- und Motivationsmangel.
Doch auch für Entzündungsvorgänge im Körper ist der Vagus zuständig. Entzündungsreaktionen spielen eine zentrale Rolle in der Entwicklung und im Weiterbestehen von vielen Krankheiten, und sie können schlimme chronische Schmerzen bewirken. In vielen Fällen sind Entzündungen die Reaktionen des Körpers auf Stress.
Zwar haben Entzündungen als Teilfunktion des Immunsystems eine nützliche Rolle, damit der Körper Verletzungen ausheilen kann, aber es können auch Organe und Blutgefäße beschädigt werden, wenn der Entzündungsprozess länger anhält als er gebraucht wird. Eine der Aufgaben des Vagus-Nervs liegt darin, das Immunsystem abzuschalten und die Produktion von Proteinen, die die Entzündung in Gang halten, zu beenden. Ein schwacher vagaler Tonus bedeutet, dass diese Regelung weniger wirkungsvoll ist, sodass Entzündungen ausufern können, wie z.B. bei der rheumatischen Arthritis.
Vor kurzem hat ein internationales Forscherteam aus Amsterdam und den USA einen klinischen Versuch durchgeführt, bei dem gezeigt wurde, dass die Stimulation des Vagusnervs mit einem kleinen implantierten Gerät signifikant Entzündungen verringert. Patienten mit rheumatischer Arthritis konnten ihren Zustand verbessern, weil die Zytokin-Produktion verringert werden konnte. Die rheumatische Arthritis ist eine chronische Entzündungserkrankung, die in den USA allein 1,3 Millionen Menschen betrifft und Milliarden an Gesundheitskosten jährlich verschlingt.
Obwohl die Studie auf Patienten mit rheumatischer Arthritis beschränkt war, ist es wahrscheinlich, dass die Resultate auf Patienten mit anderen chronischen Entzündungserkrankungen übertragen werden kann, darunter z.B. Parkinson, Morbus Crohn und Alzheimer. In diesen Fällen kann vermutlich eine solche Implantation traditionelle Therapien mit hochpreisigen Medikamenten mit vielen Nebenwirkungen überflüssig machen.
Wie können wir den Vagus kräftigen?
Es erfordert einen hohen Aufwand, ein Gerät in den Oberkörper einzubauen, das dann über elektrische Impulse den Vagusnerv aktiviert. Vielleicht ist das allerdings die einzige Hilfe, wenn die Fehlregulationen über lange Zeit so stark ausgeprägt sind, dass die Einflussnahme auf der Ebene der bewussten Selbsthilfe, also mittels Erster-Person-Perspektive keine maßgebliche Wirkung mehr erzielen kann.
Im Sinn der Vorbeugung ist aber gerade diese Ebene von zentraler Bedeutung. Gelingt es uns, durch die eigene Übungspraxis und Lebensweise einen starken vagalen Tonus in unserem Körper aufzubauen und aufrechtzuerhalten, tragen wir wesentlich dazu bei, uns die oben beschriebenen chronischen Entzündungsprozesse buchstäblich vom Leib zu halten.
In meinem Buch über das kohärente Atmen habe ich auf die Atemmethode hingewiesen, die sich für diesen Zweck hervorragend eignet, weil sie genau dafür entdeckt und entwickelt wurde. Über mehrere positive Feedbackschleifen können wir durch das langsame, regelmäßige und entspannte Zwerchfellatmen einen kohärenten Rhythmus im ganzen Organismus erzeugen und stabilisieren, der neben der Entlastung der Herztätigkeit und des Trainings der Blutzirkulation den Parasympathikus aktiviert und stärkt.
Kohärent atmen können wir immer, wenn wir nicht gerade anstrengenden Tätigkeiten nachgehen; wir müssen nur daran denken. Je mehr wir davon in unseren Alltag übernehmen, desto leichter macht es uns der Organismus, dass wir uns schnell auf diesen Rhythmus einschwingen können, weil er von sich aus nach dem Schwingungszustand strebt, der seinem Optimalzustand entspricht.
Es gibt auch noch andere Möglichkeiten zur Vagus-Stärkung. Datis Kharrazian, der Autor des Buches “Why Isn’t My Brain Working”, das sich vor allem mit der Glutenunverträglichkeit beschäftigt, hat einige Empfehlungen zur Stimulation des Vagus-Nervs vorgestellt:
Gurgeln: Mit Wasser gurgeln stimuliert den Vagus, und dadurch wieder kommt mehr Blutfluss in den Bauch. Wenn man das richtig macht, können sogar Tränen kommen, weil auch ein Gehirnbereich in der Nähe des Vagus aktiviert wird, der als der obere Speichelkern bezeichnet wird. Denn der parasympathische Anteil des Gesichtsnervs entspringt in diesem Kern (nucleus salivatorius superior) im Hirnstamm und bewirkt das Weinen. Wenn man mit einer kleinen Menge Wasser beginnt und die Dauer und Intensität langsam steigert, werden diese Neuronen trainiert und gestärkt.
Den Würgereflex auslösen: Dafür können Einweg-Zungenspateln verwendet werden, die man auf die Hinterseite der Zunge drückt, um den Würgereflex auszulösen. Dabei ist achtsam vorzugehen, sodass der rückwärtige Teil des Gaumens nicht verletzt wird. Wenn dabei Tränen kommen, ist das wieder ein Zeichen dafür, dass der Vagus-Nerv gereizt wurde.
Kaffee-Einlauf: Solche Einläufe werden vor allem zur Entgiftung genutzt. Aber sie dienen auch zur Reizung von Rezeptoren im Darmbereich, die für die Darmbewegungen zuständig sind: die nikotinischen Acetylcholin-Rezeptoren. Ein starker Kaffee-Einlauf kann einen starken Reiz zum Stuhlgang auslösen, der aber so lange wie möglich zurückgehalten werden sollte. Dabei soll es zur Aktivierung und Stärkung der Achse zwischen dem Frontallappen des Großhirns, der Pons und den Eingeweiden, also der Kopf- und Bauchhirnverbindung kommen.
Singen: Eine andere Möglichkeit, die vagalen Muskel an der Hinterseite des Gaumens zu aktivieren, besteht im wirklich lauten Singen, das ist wohl von all diesen Möglichkeiten die einfachste und angenehmste! Jetzt wissen wir auch, warum Singen glücklich macht.
Der Gesundheitsblogger Dave Asprey nennt folgende Maßnahmen zur Stärkung des vagalen Tonus:
• Kalte Thermogenese, also sich der Kälte aussetzen, z.B. durch kaltes Duschen
• Training der Herzschlagvariabilität, z.B. durch das kohärente Atmen
• Kieferregulierung: Hier geht es um den Zusammenhang zwischen dem Trigeminus und dem Vagus.
Wer im letzteren Bereich eine wirksame Atemmethode sucht, sei auf das holographische Atmen von Martin Jones verwiesen, die speziell auf den Kiefer ausgerichtet ist und chirurgische Eingriffe ersetzen kann.
Und hier schließt sich wieder ein Kreis. Wim Hof und seine Studenten konnten zeigen, dass intensive Atemübungen und Kaltwassererfahrungen die Zytokin-Produktion durch die weißen Blutkörperchen verringern konnte, was also eine entzündungshemmende Wirkung hat. Also schlagen wir mit intensivem und mit ruhigem Atmen zwei Fliegen auf einen Schlag: Wir stärken die parasympathische Kompetenz und reduzieren das Risiko für chronische Erkrankungen.
Wir sehen also: Wo immer es irgendwo zwickt oder zwackt, es kann immer hilfreich sein, bei unserer Atmung nachzuschauen, ob sie eine Abhilfe parat hält.
Literatur:
Wilfried Ehrmann: Kohärentes Atmen. Tao Verlag 2016
Johannes Huber: Es existiert. Die Wissenschaft entdeckt das Unsichtbare. edition a 2016
Datis Kharrazian: Why Isn’t My Brain Working? Elephant Press 2013
Zum Weiterlesen:
Kohärentes Atmen
Leben mit dem Bauchhirn