Die Befunde kennen wir: Die Erde erwärmt sich immer schneller und die Maßnahmen dagegen sind zu langsam, wenn sie überhaupt ergriffen werden. Wir steuern sehenden Auges auf die Destabilisierung des Klimas mit unabsehbaren Folgen zu. Jeder neue Wärmerekord, jede neue Hiobsbotschaft aus den Forschungen zum Artenschutz, jede gescheiterte Klimakonferenz, jede neue Modellrechnung zur Zukunft der Menschheit nehmen wir zur Kenntnis, mit Betroffenheit und Sorge, um dann zur Tagesordnung überzugehen. Vielleicht nehmen wir uns einen Vorsatz, z.B. ein wenig auf das Auto zu verzichten oder weniger Fleisch zu essen, um unser Gewissen zu beruhigen, und denken dann vielleicht an die anderen, mit ihren Fernreisen oder Kreuzfahrten, mit ihren teuren Autos und Schiurlauben, also an alle, die noch mehr verbrauchen als wir selber und die endlich ihre Konsumgewohnheiten verändern sollten, wo wir doch selber schon unseren Gürtel enger schnallen. Oder wir haben andere Gewissensberuhiger parat: Die Chinesen und Inder, die immer mehr Abgase in die Atmosphäre blasen, die US-Amerikaner mit ihren Spitzen-Öko-Fußabdrücken, die Schwerindustrie oder unsere Politik, die endlich aufhören sollte, klimaschädigende Unternehmen zu subventionieren. Vielleicht auch hoffen wir auf die Wissenschaften, die uns bald Technologien zur Verfügung stellen, mit denen das Klima repariert werden können, sodass wir unsere Lebensweise nicht ändern müssen.
Wir müssen also unsere kognitive Dissonanz, die innere
Spannung zwischen den Befunden und unserer Lebensweise reduzieren und haben
dafür eine Menge Argumente im Ärmel. All diese Argumente haben einen Nachteil: Sie
sind nicht stichhaltig, sondern verschieben nur die Verantwortung, aber wir
brauchen sie dringend. Denn die Alternative zum Verharmlosen oder Wegdiskutieren
oder Kopf-in-den-Sand-Stecken wäre die radikale Veränderung unserer Lebens- und
Konsumgewohnheiten: Wir müssten aufhören, der Natur mehr zu entnehmen als wir
ihr zurückgeben, als Individuen und als Gesellschaften. Wir leben in Gegenden,
in der wir nicht nur wesentlich mehr verbrauchen als weitaus die meisten
anderen Gesellschaften auf dieser Erde (v.a. der globale Süden), sondern auch,
in denen dieser Verbrauch ständig ansteigt, stärker als in allen ökonomisch
schwächeren Volkswirtschaften.
Die Hintergrunddynamik ist befeuert vom profitorientierten
Kapitalismus, der die Ressourcen dieser Welt kontinuierlich und mit beständig
ansteigendem Verbrauch ausplündert. Wir sind in dieses System eingebunden und
wirken deshalb an dieser Dynamik mit. Natürlich trifft das auf alle Menschen
zu, die Geld verdienen und für Einkäufe ausgeben, aber in ganz
unterschiedlichem Maß. Je ärmer Länder und deren Bewohner sind, desto weniger wirken
sie an der Ausbeutung und Plünderung der Natur mit, je reicher, desto mehr.
Um aus dieser Falle, die immer mehr zuschnappt, zu entkommen,
müssen wir uns bereit dafür machen, eine heilige Kuh zu schlachten, die uns
seit dem Beginn der Industrialisierung in Bann hält: Die Idee des
Wirtschaftswachstums, das in Form des BNP (Bruttonationalprodukt oder
Bruttoinlandsprodukt) gemessen wird – ein Maß, das die ökologischen Folgen des
Wachstums nicht miteinschließt. Diesem Bann hängen selbstverständlich die
meisten Wirtschaftsvertreter an, die ihn immer wieder besonders lauthals
einfordern und die permanent die Angst davor schüren, ihn zu vernachlässigen
(weil ihre Profite dadurch Schaden leiden könnten). Aber auch fast alle
Politiker wie viele andere Bürger unterliegen dieser Vernebelung.
In einem früheren Artikel habe ich versucht zu begründen, dass
die blinde Gefolgschaft zu dieser Ideologie mit der kollektiven Traumatisierung
zusammenhängt, die das kapitalistische System der Menschheit zugefügt hat und
weiterhin zufügt. Um die Traumalast zu verdrängen, ist die kritiklose Übernahme
des Grundmechanismus des Kapitalismus das probateste Mittel: Der bedingungslose
Glaube an das Wachstum, das für alle das Heil bewirkt. Jason Hickel, Autor des
Buches „Weniger ist mehr“, nennt diesen Glauben den Growthismus. Er hat mit
Verweis auf wissenschaftliche Studienergebnisse aufgezeigt, dass nur ein
Ausstieg aus dem Modell des beständigen Wirtschaftswachstums helfen kann, die
Zukunft der Menschheit zu sichern. Selbst die Hoffnung, Ökologie und
Wachstumswirtschaft koppeln zu können, funktioniert nicht, weil Wachstum heißt,
der Natur das zu entnehmen, was in Profit umgemünzt wird. Wirtschaftswachstum
bedeutet damit, neben dem, was aktuell schon geplündert wird, Tag für Tag und
Jahr für Jahr noch mehr zu plündern, was zu einem exponentiellen Anstieg der
weiteren Verknappung der Ressourcen führt. Wir entkommen dieser Dynamik nicht,
wenn wir nur da und dort ein paar Schrauben drehen und das System mit seinen
Mechanismen unbeschadet weiter läuft.
Wie aber soll ein Ausstieg aus dem Wachstumsmodell gelingen?
Wir müssen uns von der Verhexung durch das materialistische Bewusstsein lösen,
wenn ich hier mein Modell der Bewusstseinsevolution einbringen darf. Ein
Grundelement dieser Bewusstseinsform besteht in der Symbolik der Zahlenreihe,
die nach unten und oben unendlich ist und bei der es immer ein Mehr gibt, ohne
dass jemals ein Ende erreicht werden kann, ohne dass also ein Sehnsucht zur
Erfüllung kommen kann.
Wir entkommen dem Wachstumsdruck nur, wenn wir Quantität
durch Qualität ersetzen: Langlebige Produkte statt solche, die nach einer
vorbestimmten Zeit kaputt werden; unseren Konsum nach unseren inneren
Bedürfnissen ausrichten und nicht nach den Sehnsüchten, die uns die Werbung
einredet; faire Preise bezahlen statt Schnäppchen zu jagen und Billigprodukte
anzuhäufen etc. Im Rahmen der bestehenden Bedingungen ließe sich relativ
einfach die Nahrungsmittelverschwendung beenden. Viele Möglichkeiten haben wir,
wenn wir der kapitalistischen Profitmaschinerie ein Schnippchen schlagen wollen.
Sie sind Tröpfchen auf heiße Steine, aber wenn sie Breitenwirkung entfalten,
wird der härteste Stein erweicht.
Zu einer wirklichen Wende gelangen wir aber nur, wenn die
Politik die Perspektive der Befreiung von der Profitmaxime und der Wachstumsideologie
schafft, also den Ausstieg aus der Unterordnung unter den Kapitalismus und
seine Ideologie. Als Bürger sind wir dazu aufgerufen, diese Wende einzumahnen,
Parteien herauszufordern und Überzeugungsarbeit auf allen Diskursebenen zu
leisten. Parteien, die sich von der kapitalistischen Ideologie nicht lossagen
können (weil sie von den Geldgebern in der Wirtschaft abhängig sind), sollten
als systemkorrupt gebrandmarkt werden, bis sie schließlich abgewählt sind.
Jason Hickel: Weniger ist mehr. Oekom Verlag 2022
Zum Weiterlesen:
Die kapitalistische Traumatrance
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen