Montag, 16. Januar 2023

Reichtum und Leistung, ein ungleiches Paar

Ein statistischer Befund: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung kassiert ca. 19 Billionen $ als jährliches Einkommen, was so viel ist wie ein Viertel des globalen Bruttoprodukts (GDP). Bei diesen Zahlen sollte man mitbedenken, was daraus folgt: Ein Viertel all der Arbeit, die wir leisten, all der Ressourcen, die wir der Umwelt entnehmen und all der Klimagase, die wir emittieren, geschieht zu dem Zweck, damit die kleine Schicht der superreichen Leute noch reicher wird.

Und dann hören wir, dass sich Leistung doch auszahlen sollte und wir den Reichen ihren Reichtum nicht neiden sollten. Schließlich wolle doch jeder gerne reich werden, aber die wenigsten schaffen es, und die sind eben besonders gut und fleißig. Wer mehr leistet, kriegt eben mehr.

Was aber, wenn all diese Rechtfertigungen einer Ideologie entspringen, einer Kopfvernebelung? Die Vorstellung, dass Reichtum 1:1 das Ergebnis von Leistung ist, lässt sich nicht aufrechterhalten. Das gilt für Individuen und für Gesellschaften. Vielmehr ist die Gleichsetzung von Reichtum und Leistung ein Konstrukt, eine ideologische Leistung, mit der es den Propagandisten der Leistungs- und Reichtumsgesellschaft gelungen ist, die Menschen zu manipulieren. Sie sollen die Reichen bewundern für ihren Reichtum und verstehen, dass sie es selber zwar schaffen könnten, aber aufgrund ihrer Mangelhaftigkeit nie schaffen werden.

Absurde Maßstäbe

Es fällt schnell auf, dass da absurde Maßstäbe am Werk sind, wenn es Leute gibt, die in fünf Tagen so viel verdienen wie der Durchschnitt in einem Jahr. Das müssten Menschen sein, die 73mal so viel leisten wie der Durchschnitt, und das Tag für Tag. Es ist sofort einsichtig, dass es nicht die individuelle Arbeitsleistung ist, die den Unterschied macht, sondern das System, das eine Leistung höher bewertet als eine andere, und zwar in exorbitanten, und man könnte sogar sagen, unverschämten Ausmaßen. Die Existenz von Milliardären und Superreichen erscheint aus der Sicht einer egalitären Ethik als ein Skandal, als ein unerträglicher Missstand. Aber auch der einfache Menschenverstand sieht klar, dass es obszön ist, wenn einige Wenige Unmengen im Geld schwimmen, das ihnen Tag für Tag zugespült wird, oft ohne dass sie einen Finger rühren, während viele viel zu wenig kriegen, Millionen hungern und Hunderttausende an Hunger sterben müssen.

Natürlich ist es nicht die Schuld oder ein moralisches Versagen der Betroffenen, reich zu sein. Die meistens von ihnen meinen auch von sich selber, dass sie sich ihr Geld redlich verdient haben, oft auch dann, wenn sie es bloß geerbt haben oder aufgrund einer Erbschaft über wesentlich bessere Startbedingungen verfügen als alle anderen. Es handelt sich  auch in den meisten Fällen nicht um illegal erworbenen Reichtum, sondern wurde nach allen Regeln des Rechtsstaates angehäuft. Es ist also kein Verbrechen, reich zu sein.

Wir mögen diese Menschen als tolle Typen, intelligente Geschäftemacher oder geniale Visionäre bewundern und verehren, als Menschen, die besondere Leistungen erbracht haben. Wir können sie aber auch als Nutznießer des Profitsystems und als Beschleuniger des Kapitalismus ansehen, die besonders von Mechanismen profitiert haben, durch die die Geldflüsse so lenken, dass sie dorthin fließen, wo schon viel Geld ist. Tatsächlich ist jeder Cent, den ein Superreicher in seiner Tasche oder auf einem seiner steuergeschonten Konten hat, zum weitaus größten Teil aus der Arbeit anderer Menschen entstanden.

Was jemand leistet, ob bettelarm oder superreich, verdient Anerkennung und verhältnismäßigen Ausgleich. Es macht wohl keinen Sinn, wenn jeder Tätigkeit der gleiche finanzielle Ausgleich zusteht, wie es in manchen Utopien gefordert wird. Es macht einen Sinn, wenn ein Arzt mehr verdient als die Reinigungskraft. Es macht aber keinen Sinn mehr, wenn die Unterschiede ins Unermessliche wachsen. Superreichtum entsteht, wo es keine Verhältnismäßigkeit mehr gibt, die die Gier mäßigt und für Balance sorgt. Übermäßiger Reichtum entsteht nicht aus übermäßiger Leistung, sondern aus dem Ausnutzen derer, die die Knochenarbeit im Schweiß ihres Angesichts leisten und damit vergleichsweise bestenfalls mit Brosamen abgespeist werden. Reiche Menschen sind nicht wegen ihres Reichtums böse, obwohl ihnen Jesus den Zugang zum Himmelreich abgesprochen hat, weil sie nicht durch ein Nadelöhr kommen, sie sind nur besonders geschickt darin, das System für die eigenen Interessen auszunutzen. Dem kapitalistischen System ist es völlig egal, ob die Akteure, die es antreiben, ein soziales Gewissen haben oder nicht. Es begünstigt jene, die seine Regeln skrupellos und giergetrieben befolgen.

Reichtum und ökologische Belastung

Dazu kommt, dass die Verfügung über Reichtum mit einem höheren Verbrauch an Ressourcen verbunden ist. Die Reichen bekommen nicht nur mehr, sie nehmen auch mehr aus dem Reichtum der Natur. Sie schneiden also am meisten ab beim Aneignungs- und Vernichtungsprozess, mit dem die moderne Wirtschaft die natürlichen Vorräte ausbeutet und plündert, und konsumieren gleichzeitig wesentlich mehr als die Armen oder die Otto-Normalverbraucher. Sie tragen deshalb mehr bei zum Turbo des Kapitalismus und sind deshalb auch interessiert daran, dass die Mechanismen verfeinert werden, die sie im doppelten Sinn zu den Profiteuren macht: Sie geben ihnen mehr vom Kuchen auf der Einkommensseite und erlauben ihnen, mehr zu konsumieren. Vielleicht hätte jeder gerne eine Yacht oder einen Privathubschrauber, aber nur wenige können ihn sich leisten. Wer etwas davon sein Eigen nennt, wird es auch nutzen und entsprechend die Ressourcen dafür verbrauchen, die man sich locker leisten kann.

Es gibt reiche Menschen, die ihre soziale Ader nicht verdrängt haben und Teile ihres Vermögens in karitative oder zukunftsorientierte Stiftungen einbringen. Doch die individuelle Großzügigkeit von einzelnen Wohlhabenden rechtfertigt nicht ein System, das strukturell bedingt die Armen und Ärmeren konsequent benachteiligt, die arbeiten können, soviel nur geht, ohne dass mehr dabei herausschaut als dass sie nicht verhungern müssen oder dass sie ein bisschen materielle Sicherheit schaffen können. Auf der anderen Seite bringt die Leistung einer Unterschrift Millionen ein.

Reichtum und Verpflichtung

In einigen großen Religionen werden die Reichen zu besonderer Großzügigkeit gegenüber den Armen verpflichtet. Reichtum gilt hier nicht primär als das Ergebnis eigener Leistung, sondern als letztlich von Gott gegeben, mit dem Auftrag, zu teilen. Diese Religionen haben offenbar verstanden, dass eine Gesellschaft nur dann im Gleichgewicht bleibt, wenn die Unterschiede zwischen reich und arm gering gehalten werden und es zu Verwerfungen kommt, wenn die Reichen von ihrem Reichtum nichts teilen, sondern ihn nur für sich verkonsumieren. Die Kombination von Reichtum und Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit hat die Armut nicht beseitigt, aber die Entkoppelung von Reichtum und Scham verhindert. Reichtum galt nicht als etwas, mit dem sich das Ego des Reichen stolz brüsten kann, sondern das es in Bescheidenheit annehmen sollte und mit der Haltung der Barmherzigkeit den Armen gegenüber verbinden musste, um sich nicht sündhaft, also schambeladen zu fühlen. Die ethische Trennlinie verläuft zwischen der gemeinnützigen und der eigennützigen Verwendung von individuellem Wohlstand.

Die Ausbreitung des Kapitalismus in der Epoche der Neuzeit, von Europa ausgehend, hat die soziale Wirkung der Religionen unterhöhlt und den Individualismus der Profitanhäufung verstärkt, emotional getrieben von Gier. Auch die Aufklärung hat mit ihrer Religionskritik den Einfluss der Religionen zurückgedrängt, während andererseits die Etablierung der Menschenrechte die Stellung der Schwachen in der Gesellschaft gestärkt und damit zur Begründung und Verbreitung des Sozialismus beigetragen hat. Manche sehr einflussreiche Teile der christlichen Religion, besonders der katholischen Kirche haben sich auf die Seite der Reichen und damit der Mächtigen gestellt und den Sozialismus bekämpft, der sich stark für die Rechte der Wenigerbemittelten eingesetzt hat. Damit haben sie den ausbeuterischen Kapitalismus unterstützt und die Armut der Armen ideologisch gerechtfertigt. Der Calvinismus mit seiner Ethik der Reichtumsanhäufung hat diese Ideologie besonders gestärkt, vor allem in den USA, die damit zur Wirtschaftsmacht Nr.1 aufgestiegen sind und zugleich die Nr.1 im Ressourcenverbrauch und zum Hauptausbeuter der Natur wurden.

Im Zug der Ausbreitung des Kapitalismus schotteten sich die Reichen immer mehr ab, um der Scham, die mit Ausbeutung, Güteranhäufung und sozialer Ungerechtigkeit verbunden ist, zu entkommen.  Wir erwarten von den Reichen, dass sie sich Inseln kaufen und riesige Villen bauen, dass sie viele Autos haben und teuer essen gehen. Wir erwarten vielleicht, dass ihre illustren Frauen einmal im Jahr einen Charity-Abend veranstalten, bei dem sie ein paar Tausend Dollar für die armen dickbäuchigen Kinder in der Sahelzone sammeln. Wir erwarten aber nicht mehr, dass sie ihren Reichtum mit der Allgemeinheit teilen. Wenn sie das tun, freuen wir uns darüber und schätzen es, weil es die Ausnahme darstellt und keinem ethischen Gebot mehr unterliegt.

Strukturelle Korruption

Die Reichen haben sich verständlicherweise sehr bemüht, die Ideologie, die die eigene privilegierte Stellung befestigt, ins Zentrum der Gesellschaft zu bringen, was ihnen zu einem großen Maß gelungen ist. Viele Geldmittel fließen diesem Zweck zu, Parteien, die die Steuer- und Einkommensprivilegien der reichen Minderheit vertreten, werden großzügig unterstützt. Man kann diese Vorgehensweise auch als strukturelle Korruption bezeichnen, weil Politiker damit manipuliert werden, nicht das Allgemeinwohl ins Zentrum ihres Wirkens zu stellen, sondern die Interessen einer winzigen Minderheit, deren Wohlstand durch die Leistungen der großen Mehrheit finanziert wird. Damit bekommt die Minderheit mit ihrer finanziellen Übermacht einen überproportionalen Machteinfluss, ohne dass es dafür eine demokratische Kontrolle gibt. Das politische Ungleichgewicht, das die Demokratie gefährdet, kann nur durch Aufklärung und durch die Einführung von Parteispendengrenzen behoben werden.

Das Wirtschaftssystem des Kapitalismus erzeugt und mehrt Reichtum bei einer Minderheit. Es kann nur durch politische Willensbildung begrenzt werden. Und dieser Wille kann sich nur dann bilden, wenn er nicht der Macht des Geldes unterworfen ist. Die Entmachtung des Kapitalismus als eines Systems, das von der Wirtschaft in alle gesellschaftlichen Bereiche eindringt und sie seinen Prinzipien unterwirft, ist der entscheidende Weg, um das weitere Auseinanderklaffen der Schere zwischen arm und reich rückgängig zu machen. Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit, wir brauchen mehr Schambewusstsein, wo es um die Fragen von reich und arm geht. Und wir müssen uns von der Gleichsetzung von Reichtum und Leistung verabschieden, weil es eine Ideologie darstellt, die uns, soweit wir nicht zu den Millionären und Milliardären zählen, Schaden zufügt und die bestehenden Ungleichheiten verschärft.

Zum Weiterlesen:
Abschied vom Kapitalismus

 

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