Mittwoch, 8. Januar 2020

Von der Hilflosigkeit zur Hingabe

Als soziale Wesen sind wir auf Helfen programmiert. Als moderne Wesen sind wir aufs Selberhelfen programmiert. Wenn sich dazwischen plötzlich das Gefühl der Hilflosigkeit meldet, stehen wir ihm  oft recht ratlos gegenüber. Welchen Platz hat dieses Gefühl in dieser Welt der fortwährend optimierten Selbsteffizienz noch?
Offenbar gibt es diese Diskrepanz: Gerne helfen wir, wenn sich andere in Not an uns wenden, und tun dies vermutlich sogar viel lieber, als selber Hilfe anzunehmen. Das ist leicht verständlich: Als erbetene Helfer sind wir in der Position der Stärke und Kontrolle, als Hilflose sind wir schwach und abhängig. Die Dynamik zwischen Helfen und Hilfe in Anspruch zu nehmen funktioniert nur, wenn sie hin und her fließt: Mal hilft der eine, dann der andere, in Summe gleicht es sich aus.

Wenn es in einem Sozialsystem keine laufend hergestellte Reziprozität zwischen Geben und Nehmen gibt, also kein annäherndes Gleichgewicht, wird die Kluft zwischen den Menschen immer größer. Denn die Brücken, die durch das Helfen entstehen, kommen seltener vor, und als Folge müssen bei Bedarf erst neu errichtet werden, mit weiter gespannten Bögen. Dadurch geht die Wahrscheinlichkeit von Hilfsanfragen noch weiter zurück: Die Befürchtung, dass das Ersuchen eine Zumutung sein könnte und dass einem nicht oder nur unwillig geholfen werde, ist berechtigt, wenn es lange schon kein Erfolgserlebnis in dieser Richtung gegeben hat.

Wenn wir uns hilflos fühlen, neigen wir dazu, die Hilfsbereitschaft unserer Mitmenschen zu unterschätzen. Wir empfinden Scham für unsere Hilflosigkeit und wollen nicht, dass andere unsere Scham bemerken, weil sich dadurch unsere Scham verdoppeln würde. Deshalb halten wir uns mit Hilferufen zurück, manchmal so lange, bis uns das Wasser bis zum Hals steht. 

Diese Zurückhaltung hängt auch damit zusammen, dass die verwandtschaftlichen und nachbarlichen Unterstützungsnetze im Lauf der gesellschaftlichen Entwicklung schwächer geworden sind. Dagegen ist die Erwartung gewachsen, dass es jeder alleine schaffen kann und muss. Wozu gibt es Versicherungen für alle möglichen Krisensituationen? Wer nicht rechtzeitig abgeschlossen hat, braucht sich auch nicht zu beklagen, wenn er keine Hilfe kriegt. 

Hilflosigkeit gleicht in einer hoch abgesicherten Gesellschaft mit einem differenzierten Angebot an Dienstleistungen einem Eingeständnis von Unfähigkeit. Da kennt sich jemand nicht aus, ist uninformiert, faul oder minderbemittelt, jedenfalls in dem beschämenden Zustand, sich selber nicht helfen zu können. Wer es alleine nicht schaffen kann, ist, wenn nicht verachtenswert, so zumindest bemitleidenswert. Und das Eingeständnis, es alleine nicht schaffen zu können, ist in jedem Fall peinlich.

Es gibt dessen ungeachtet auch Menschen, die sich leicht tun, Hilfe zu erbitten, und die unter Umständen schon dort um Hilfe schreien, wo sie sich leicht selber helfen könnten. Sie setzen sich über die Scham hinweg, die mit der Abhängigkeit von einem Helfer verbunden ist. Bei ihnen ist es so, dass sich lieber die anderen schämen sollten, wenn sie nicht bereit sind einzuspringen. Tendenziell werden solche Menschen allerdings in einer Gesellschaft der Vereinzelung immer mehr an den Rand geraten und auf diese Weise Opfer der Beschämung.


Hilflosigkeit gehört dazu


Das Leben stellt uns immer wieder vor komplexe Situationen, die wir mit unseren Gewohnheitsmustern nicht bewältigen können. Das können unerfreuliche Kommunikationssituationen, technische Kalamitäten oder überfordernde Schicksalsschläge sein. Gefühle von Hilflosigkeit stellen sich ein, und wir fühlen uns verzweifelt. 

Hilflosigkeit ist ein unvermeidlicher Teil jedes Lebens, kommt immer wieder vor und gehört dazu. Die Gefühle von Ohnmacht sind sehr unangenehm, und deshalb wollen wir sie um jeden Preis vermeiden. Sie erinnern uns an kindliche Erfahrungen und an Traumen, die wir nie wieder erleben wollen. Hilflos zu sein ist verunsichernd und versetzt uns in eine abhängige Position, wie wir sie als Kinder hatten. 

Doch sollten wir uns klarmachen, dass Hilflosigkeit nicht nur kleine Kinder betrifft, sondern Bestandteil der menschlichen Lebenserfahrung ist. Sie hat mit der prinzipiellen Unberechenbarkeit des Lebens zu tun. Wir können uns gesund ernähren, ausreichend Sport betreiben und für unsere Ausgeglichenheit sorgen, und dennoch schwer krankwerden und sterben. Wir können jede Menge an Wissen und Informationen sammeln und dennoch vor eine Situation geraten, die uns restlos überfordert. Wir können noch so sehr unsere Achtsamkeit schulen und werden dennoch immer wieder in Situationen geraten, in denen wir etwas übersehen und andere verletzen. Hilflosigkeit ist also auch die Folge unserer strukturellen Unvollkommenheit. Niederwieser schreibt: „Genau genommen ist Hilflosigkeit ein menschlicher Grundzustand. Die Illusion, nicht hilflos zu sein, ist dagegen viel schädlicher. Aus ihr nährt sich ganz viel Scham. ‚Ich müsste es doch schaffen.‘ Nein, müssen Sie nicht.“ (Niederwieser, Stephan Konrad: Nie wieder schämen: Wie wir uns von lähmenden Gefühlen befreien. München: Kösel Verlag 2019)

Das Annehmen der individuellen Unvollkommenheit und der allgemeinen Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit des Lebens ist die Haupttugend, die wir brauchen, um möglichst leicht von der Ohnmacht in die Macht, vom Leiden zum Glück kommen. Wir brauchen nicht an einer Hilflosigkeit verzweifeln, die uns überfällt, sondern können unser Vertrauen stärken, dass jedes Problem irgendwie zu seiner Lösung finden wird.

Wenn wir unsere Hilflosigkeit annehmen, verwandelt sie sich in Hingabe. Hingabe bedeutet, dass wir erkennen und zulassen, dass eine größere Kraft das eigene Leben bestimmt, leitet und lenkt. Es waren unsere enggesteckten Erwartungen und gewohnheitsmäßigen Reaktionsmuster, die uns daran hinderten, mit einer herausfordernden Situation fertig zu werden. So hängen wir fest in der Vorstellung, wie die Wirklichkeit sein sollte, und krallen uns an diese Erlösungsfantasie. Doch die Wirklichkeit schert sich nicht um unsere Wunschvorstellungen, sondern serviert uns beständig neue Szenen, darunter immer wieder solche, die uns hilflos machen. 

Hingabe heißt nicht, dass wir unsere Handlungsfähigkeit bei der Garderobe abgeben und resigniert in die Ohnmacht versinken, sondern dass wir hellwach bleiben, um zu erkennen, wann etwas zu tun und wann etwas zu lassen ist. So bleiben wir in einem optimalen Sinn handlungsfähig, nämlich das, was wir im Augenblick zur Wirklichkeit beisteuern können und zu erkennen, was sinnlos und zeitvergeudend ist. 

In diesem Sinn ist Hingabe Teil von jedem kreativen Prozess. Ein kleines Beispiel: Heute beschloss  ich, zu einem bestimmten Zeitpunkt Laufen zu gehen. Ich war gerade beim Schreiben dieses Textes, schloss ab, weil mir nichts mehr einfiel, und begann mich umzuziehen. Währenddessen unterbrach ich dreimal, weil mir ein gut passender Satz für den Text einfiel, den ich einfügte, dann mit dem Umziehen weitermachte, wieder einfügte, bis nichts Neues mehr kam. Daraufhin stand dem Laufen nichts mehr im Weg. 

Das Loslassen der Anstrengung, Formulierungen und Gedankengänge zu finden, bewirkte, dass die Einfälle von selber kamen. Dort wo die Kreativität versiegt, braucht es dieses Eingeständnis der eigenen Erschöpfung und der damit verbundenen Hilflosigkeit, um die Ideen wieder zum Sprudeln zu bringen. Mit dem Bewusstsein der Hingabe ist die Erkenntnis verbunden, dass ein eigener Text nie nur ein eigener Text ist, sondern auch Resultat von Einflüssen, die nicht der eigenen Kontrolle unterliegen.


Hingabe als spirituelle Übung


Hingabe kann auch bedeuten, einen Moment oder eine Zeitspanne innezuhalten und dem Inneren Zeit zu geben, sich neu zu gruppieren. Die Lösungen für hartnäckige Probleme kommen oft erst, wenn die qualvolle Lösungssuche abgebrochen wurde, so wie der Name, der einem partout nicht einfallen will, keck auftaucht, nachdem wir aufgehört haben, uns das Gehirn zu zermartern. 

„Die Wirklichkeit hilft dir, wenn du dich hingibst, wenn du also deine Hilflosigkeit eingestehst und um Hilfe bittest.“ Das ist der alte Glaube ans Gebet, und das ist die Erfahrung, die wir in kleinen und großen Dingen immer wieder machen können. Wir sollen aktiv sein, kein Zweifel. Aber die entscheidenden Durchbrüche geschehen oft erst dann, wenn wir mit unseren Aktivitäten an eine Grenze des Scheiterns gelangt sind und nicht mehr weiter wissen.

In der Hingabe verbindet sich unser kleines Leben mit dem großen Ganzen auf eine besondere Weise. Wir geben uns ein Stück geschlagen, weil wir all unsere Mittel eingesetzt haben und nicht mehr weiter wissen, und ziehen unser Ego ein Stück zurück. Nicht einmal absichtlich machen wir dann Platz für ein höheres Wissen, das bereitwillig uns zu Hilfe kommt. 

Im Gebet oder in anderen rituellen Praktiken üben wir diesen Vorgang bewusster. Wir überantworten unsere Probleme einer höheren Instanz, ohne uns unserer Verantwortung zu entledigen, aber mit der Gewissheit, dass unsere eigene Macht begrenzt und mangelhaft ist. Der indische Guru sagt zum Schüler: „Ich kann dir nur helfen, wenn du darum bittest. Selbst wenn ich es wollte, kann ich dir anders nicht helfen. Erst wenn du dir deine Hilflosigkeit bewusst machst und dich in der Bitte hingibst, wird es von mir zu dir fließen.“

Der Zyklus, der von der Aktivität über die Hilflosigkeit zur Hingabe führt, schließt mit Dankbarkeit ab. In diesem Sinn danke ich allen Beteiligten für das Gelingen dieses Textes.

Zum Weiterlesen:
Verletzlichkeit und Würde
Die Demut und das Ego
Über Schwäche und Bedürftigkeit
Schwächen sind menschlich und machen menschlich

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