Das Mitgefühl ist deshalb ein wichtiges Binde- und Wachstumsmittel für unsere Sozialbeziehungen. Zu erleben, dass jemand anderer uns mit Mitgefühl begegnet, ist eine bereichernde Erfahrung, die unser Leid lindert. Denn sie zeigt uns, dass wir nicht alleine mit unseren Problemen sind, sondern dass wir, wenn wir zusammenstehen, vieles gemeinsam bewältigt können. (Bei Star Wars ist liegt darin das Unterscheidungsmerkmal zwischen den Guten und den Bösen.)
Mitgefühl und Handlungsfähigkeit
Wenn wir Mitgefühl spüren und zeigen, meldet sich häufig der Impuls etwas zu tun: „Wie kann ich helfen?“ Wir hören von der Not eines uns nahestehenden Menschen und helfen ihm im Rahmen unserer Möglichkeiten. Die Not berührt uns, weil uns diese Person besonders wichtig ist. Wir handeln auch aus der Einsicht heraus, dass wir selber immer auch von einer Not betroffen sein können, in der wir Hilfe gebrauchen. Durch die Möglichkeit des Helfens stärken wir uns selber und vertiefen auch die Beziehung zu der Person, der wir helfen.
Es gibt andere Bereiche in der Umgebung, in denen es Not gibt, wir aber nicht helfen können, weil es unsere Möglichkeiten übersteigt. Dazu gehören alle bedauerlichen Vorgänge in der großen weiten Welt, von denen wir Kenntnis erhalten und die unser Mitgefühl erweckt. Diese Notlagen sind jedoch in der Regel so riesig und weit entfernt, dass wir nicht eingreifen können. Wir fühlen uns betroffen und zugleich ohnmächtig und wissen nicht, was wir mit unserer Betroffenheit machen sollen. Wir können vielleicht da oder dort etwas Geld spenden und damit unser Gewissen ein klein wenig beruhigen, aber es löst nicht die Diskrepanz zwischen dem riesigen Ausmaß an Leid und der Unfähigkeit, dem abhelfen zu können. Wir leiden an dem Mitgefühl, das nicht handeln kann. Es ist das hilflose Mitgefühl, das uns bedrückt.
Die moralische Überforderung und die Scham
Es spielt ein Schammuster mit, wenn dieses Gefühl der Ohnmacht angesichts der Unmenschlichkeiten auf der Welt auftritt. Die Scham meldet sich, wenn etwas zu tun wäre, wir dazu aber ungeeignet oder unfähig sind. Unser soziales Gewissen und unser Ich-Ideal sind angesprochen und appellieren an uns, der drängenden Not schleunigst Abhilfe zu verschaffen. Wir sind betroffen, sehen uns selbst als hilfsbereit an und können dennoch nichts tun, was unsere Hilflosigkeit beheben würde. Wir stellen den Anspruch an uns, angesichts von Not aktiv zu werden, und erkennen zugleich, dass das, wozu wir in der Lage sind, höchstens einen winzigen Unterschied machen würde.
Woher kommt eigentlich dieser Anspruch, jede Not, die es gibt, beheben zu müssen? Da steckt ja etwas Vermessenes, Größenwahnsinniges drin. Dieser Anspruch stammt vermutlich aus der Kindheit, aus der Zeit, in der ein Bewusstsein über die eigenen Kräfte und Energien erwachte und noch nicht klar war, wo die Grenzen dieser Selbstmächtigkeit liegen. Oft paar sich dieses Machtgefühl mit einem unbewussten Auftrag aus dem Familiensystem: Du musst dafür sorgen, dass es Vater und/oder Mutter oder einem Geschwister gut geht. Du bist für deren Leid zuständig und solltest es lindern. Und Scham ist dir gewiss, wenn du es nicht schaffst.
Ein Kind, das in diese schicksalhafte Konstellation gerät, steckt in einem Gefängnis, aus dem oft ein Leben lang kein Ausweg gefunden wird. Es muss seine Kräfte in die Erfüllung des Auftrages investieren, ohne ihn jemals erledigen zu können. Aus dieser Quelle stammt der Mythos von Sisyphos: der Zwang, etwas tun zu müssen, und es kann nie zu Ende gebracht werden.
Die Mammutaufgabe, unerledigte Themen in der Herkunftsfamilie zu meistern, ist zum Scheitern verurteilt und wirkt als erdrückende Last weiter. Eine scheinbare Entlastung liegt darin, sie auf die Weltthemen zu übertragen, sobald diese ins Bewusstsein rücken. Manche wählen dann ihren Beruf unter dem Gesichtspunkt der Hilfe für diese Probleme aus und engagieren sich dann für die Notleidenden.
Engagement ohne schlechtes Gewissen
Jedes Engagement gegen Missstände und für die Verbesserung der Welt ist großartig und verdient Wertschätzung. Zugleich ist es wichtig, sich klarzumachen, worin die eigene Lebensaufgabe besteht, unabhängig und losgelöst von familialen Strukturen und Dynamiken. Denn Aufträge, die aus einer unbewussten Loyalität mit der Familie übernommen werden, motivieren zu maßlosem Ehrgeiz und zur Selbstausbeutung, manchmal sogar zu einem aggressiven missionarischen Agieren, mit Burn-Out oder einer anderen Form des Zusammenbruchs als Folge, wenn die Belastungsgrenze erreicht ist. Es ist wichtig, die Rolle der Scham, die als Abwehrform zum übertriebenen Engagement führt, zu erkennen und sich ihr zu stellen. Denn erst im Licht dieser Einsicht kann unterschieden werden, was das eigene Innere wirklich aus dem eigenen Leben machen will, was also die Berufung ist, und welche Anteile der Motivation aus unbewussten Schuld- und Schamgefühlen gespeist sind, die aus unerledigten unbewussten Aufträgen aus der Kindheit stammen.
Die Begrenztheit unserer Einflussmöglichkeiten kontrastiert mit der Unbegrenztheit des Informationsangebots, das uns die Katastrophen und Leidenskonglomerate direkt ins Haus liefert. Die Diskrepanz ist Teil unserer modernen Lebensform und Teil ihrer unlösbaren Tragik. Die Weltgesellschaft fordert weltweite Solidarität und weltweites Mitgefühl. Als Menschen guten Willens können wir allerdings nur winzige Schritte beisteuern. Aus dem Dilemma führt uns nur die Einsicht, dass wir nicht alleine sind als Menschen guten Willens, sondern dass auf einer Ebene alle Menschen Gutes wollen. Wir sollten das Vertrauen hegen und pflegen, dass wir eine Weltgemeinschaft sind, dass wir also unsere Zusammenarbeit stärken können, indem wir die Kräfte stärken, die diese Welt zu einer besseren machen, und den Kräften, die den Eigennutz derer bedienen, die sowieso schon auf der Butterseite sind, schwächen.
Wir sind nie handlungsunfähig. Wir sind aber als Einzelne auch nicht in der Lage, irgendwelche größere Probleme als die aus unserem eigenen Leben zu lösen. Wir sind immer in der Lage, mit anderen Gleichgesinnten zu kooperieren. Wenn wir uns ohnmächtig fühlen, sollten wir nachschauen, woher in unserer Geschichte dieses Gefühl kommt, damit wir es wieder verabschieden können. Auf der Grundlage unserer autonomen Verantwortungsfähigkeit weist uns das Mitgefühl den Weg zu den notwendigen Handlungen.
Eine Weltgemeinschaft mit unterschiedlichen Graden an Verantwortung
Da wir eine Weltgemeinschaft sind, haben wir auch eine gewisse Verantwortung für alles, was in dieser Gemeinschaft passiert, nämlich zu dem Teil, wie wir Teil dieser Gemeinschaft sind und wieviel wir von ihr bekommen. Deshalb sind wir in entwickelten und reicheren Weltregionen immer ein Stück stärker verantwortlich für die Vorkommnisse in dieser Welt als jene, die weniger abbekommen. Das sind graduelle Unterschiede, die auch mit größeren Handlungsmöglichkeiten korrespondieren. Wir, die wir ein geregeltes Maß an Freizeit haben und über mehr Geld verfügen als wir zum Überleben brauchen, können mehr Verantwortung übernehmen als jemand, der von früh bis spät dafür kämpfen muss, den nächsten Tag überleben zu können. Dennoch ist es wichtig, uns der Grenzen unserer Möglichkeiten bewusst zu sein, um uns nicht zu überfordern oder uns von unserem übereifrigen Gewissen ausbeuten zu lassen, auch wenn wir mehr als andere tun können, um die Missstände auszugleichen.
Es ist kein Zynismus, wenn wir die Momente unseres Lebens genießen, während anderswo auf der Welt Not und Elend herrschen. Die Freude an den Geschenken des Lebens stärkt uns und befreit uns von einengenden Denkmustern, sodass wir in unserem Mitgefühl und in unserer Handlungsfähigkeit wachsen. Je weniger Ängste wir in uns selber nähren, desto mehr konstruktive Impulse können wir in diese Welt einbringen, damit sie von Tag zu Tag zu einer besseren, menschenwürdigeren wird. Aus der Dankbarkeit über das, was wir haben, sprich was uns geschenkt wurde, können wir eine Haltung des Teilens und der Solidarität entwickeln und unseren Beitrag wertschätzen, auch wenn er in der Sicht auf das Ganze nur winzig ist, denn wer sind wir denn schon inmitten von über sieben Milliarden Menschen?
Zum Weiterlesen:
Das Mitgefühl zwischen Helfersyndrom und Gleichgültigkeit
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