Wir sind mit Sprüchen
aufgewachsen wie: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, oder: „Wie die Alten
sungen, zwitschern auch die Jungen“. Damit wird die Verbindung zu den Vorfahren
und Ahnen betont. Unsere Abstammungslinie hat uns zu dem gemacht, was wir sind.
Oder doch nicht, oder
doch nicht ganz? Wenn wir genau auf die biologischen Vorgänge schauen, die zur
Entwicklung unserer Individualität geführt haben, belehrt uns die Wissenschaft,
dass die Träger unserer Erbsubstanz, die Chromosomen, bei der Vererbung nie
dupliziert werden. Es wird also keine identische Kopie erstellt, sondern schon
bei der Entstehung der Keimzellen werden die Chromosomen rekombiniert, d.h. neu
angeordnet. Dieser Vorgang verläuft nach einem Zufallsprinzip. Er führt zu
einer unendlichen Vielfalt der Lebewesen und ist die Grundlage der
Individualität im Sinne der Einzigartigkeit.
Wir sind also in keiner
Weise determiniert durch unsere Eltern und deren Eltern, sondern schon die Ei-
und die Samenzelle, aus denen wir entstanden sind, sind einzigartig und noch
nie dagewesen, unterschieden von den anderen Keimzellen und ebenso
unterschieden von unseren Vorfahren. Die Zufälligkeiten in unserer
Entstehungsgeschichte können wir als Schritte in die Freiheit verstehen, die
uns damit geschenkt ist, frei für den Neubeginn.
Der Beginn unseres Lebens
ist deshalb ein Beginn in Freiheit von Vorgaben, ein Neuanfang, eine Premiere
im ganzen Universum. Das hat vielleicht Hermann Hesse mit dem berühmten schönen
Satz gemeint: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Denn es ist jedes Mal ein
Wunder, wenn sich neues Leben bildet, was sich ja schon bei der Bildung der
Gameten, den potentiellen Vorläufers neuen Lebens, vollzieht – Wunder im Sinn
von etwas, was nicht vorhersehbar ist, wenn also „etwas Auffallendes geschieht,
dessen Zustandekommen nicht aus unserem Wissen über die Welt folgt.“ (Valentin
Braitenberg: Das Bild der Welt im Kopf, S. 81)
Niemand kann wissen, was
entsteht, wenn sich Leben vermehrt, denn das Leben hat die Tendenz, aus der
unendlichen Fülle der Möglichkeiten sich selber zu gestalten und zu entfalten. Nur
die gröbsten Details können vorab prognostiziert werden, wie z.B. dass Kinder
in den allermeisten Fällen mit allen Gliedmaßen zur Welt kommen und gleich
danach versuchen, sich über das Atmen selbst zu versorgen. Wie sie das machen
und was das für sie bedeutet und was darauf aufbaut, können wir vorher nicht
wissen und darf uns immer wieder als Wunder erfreuen.
Unser Anfang ist
wunderbar und innovativ. Jetzt brauchen wir nur zu erkennen, dass jeder unserer
Lebensmomente wunderbar und innovativ ist, dann nämlich, wenn wir ihn als
Anfang sehen, als neuer Beginn unseres eigenständigen Lebensweges. An dieses wundersame
Anfangen können wir uns immer wieder erinnern, wenn wir aus irgendeinem Grund
an uns selber zweifeln.
Fühlen wir uns in einer negativen
Selbstbespiegelungsschleife gefangen: Wir können uns daran erinnern, dass wir immer
wieder und in jedem Moment neu anfangen können. Wie an den Anfängen unseres
Lebens ein Schritt ins Neue und Überraschende stattgefunden hat, kann das in
jeder anderen Situation unseres Lebens stattfinden. Den Mut dazu brauchen wir
uns nur von der Natur abzuschauen, die sich nicht scheut, immer wieder neue
Kombinationen von Genen zu kreieren, ohne darauf zu achten, was denn aus
jetziger Sicht erfolgversprechend, opportun oder modisch ist und was nicht.
Denn sie weiß genauso wenig wie wir selber, was die Zukunft bringt.
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