Freitag, 14. März 2014

Wurzeln unserer Individualität



Wir sind mit Sprüchen aufgewachsen wie: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, oder: „Wie die Alten sungen, zwitschern auch die Jungen“. Damit wird die Verbindung zu den Vorfahren und Ahnen betont. Unsere Abstammungslinie hat uns zu dem gemacht, was wir sind.

Oder doch nicht, oder doch nicht ganz? Wenn wir genau auf die biologischen Vorgänge schauen, die zur Entwicklung unserer Individualität geführt haben, belehrt uns die Wissenschaft, dass die Träger unserer Erbsubstanz, die Chromosomen, bei der Vererbung nie dupliziert werden. Es wird also keine identische Kopie erstellt, sondern schon bei der Entstehung der Keimzellen werden die Chromosomen rekombiniert, d.h. neu angeordnet. Dieser Vorgang verläuft nach einem Zufallsprinzip. Er führt zu einer unendlichen Vielfalt der Lebewesen und ist die Grundlage der Individualität im Sinne der Einzigartigkeit.

Wir sind also in keiner Weise determiniert durch unsere Eltern und deren Eltern, sondern schon die Ei- und die Samenzelle, aus denen wir entstanden sind, sind einzigartig und noch nie dagewesen, unterschieden von den anderen Keimzellen und ebenso unterschieden von unseren Vorfahren. Die Zufälligkeiten in unserer Entstehungsgeschichte können wir als Schritte in die Freiheit verstehen, die uns damit geschenkt ist, frei für den Neubeginn.

Der Beginn unseres Lebens ist deshalb ein Beginn in Freiheit von Vorgaben, ein Neuanfang, eine Premiere im ganzen Universum. Das hat vielleicht Hermann Hesse mit dem berühmten schönen Satz gemeint: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Denn es ist jedes Mal ein Wunder, wenn sich neues Leben bildet, was sich ja schon bei der Bildung der Gameten, den potentiellen Vorläufers neuen Lebens, vollzieht – Wunder im Sinn von etwas, was nicht vorhersehbar ist, wenn also „etwas Auffallendes geschieht, dessen Zustandekommen nicht aus unserem Wissen über die Welt folgt.“ (Valentin Braitenberg: Das Bild der Welt im Kopf, S. 81)

Niemand kann wissen, was entsteht, wenn sich Leben vermehrt, denn das Leben hat die Tendenz, aus der unendlichen Fülle der Möglichkeiten sich selber zu gestalten und zu entfalten. Nur die gröbsten Details können vorab prognostiziert werden, wie z.B. dass Kinder in den allermeisten Fällen mit allen Gliedmaßen zur Welt kommen und gleich danach versuchen, sich über das Atmen selbst zu versorgen. Wie sie das machen und was das für sie bedeutet und was darauf aufbaut, können wir vorher nicht wissen und darf uns immer wieder als Wunder erfreuen.

Unser Anfang ist wunderbar und innovativ. Jetzt brauchen wir nur zu erkennen, dass jeder unserer Lebensmomente wunderbar und innovativ ist, dann nämlich, wenn wir ihn als Anfang sehen, als neuer Beginn unseres eigenständigen Lebensweges. An dieses wundersame Anfangen können wir uns immer wieder erinnern, wenn wir aus irgendeinem Grund an uns selber zweifeln.

Fühlen wir uns in einer negativen Selbstbespiegelungsschleife gefangen: Wir können uns daran erinnern, dass wir immer wieder und in jedem Moment neu anfangen können. Wie an den Anfängen unseres Lebens ein Schritt ins Neue und Überraschende stattgefunden hat, kann das in jeder anderen Situation unseres Lebens stattfinden. Den Mut dazu brauchen wir uns nur von der Natur abzuschauen, die sich nicht scheut, immer wieder neue Kombinationen von Genen zu kreieren, ohne darauf zu achten, was denn aus jetziger Sicht erfolgversprechend, opportun oder modisch ist und was nicht. Denn sie weiß genauso wenig wie wir selber, was die Zukunft bringt.

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