Dienstag, 15. Juni 2021

Die Schwachen und die Nächstenliebe

In zumindest zwei der verbreitetsten Religionen, dem Christentum und dem Buddhismus, steht nicht der eigene Läuterungs- und Erwachungsweg im Zentrum, sondern die Zuwendung zu anderen Menschen, und zwar gerade zu denen, die am meisten leiden, zu den Schwachen, Kranken und Beladenen. Die christliche Nächstenliebe, ähnlich wie die buddhistische Praxis des Mitgefühls, enthält im Kern eine radikale Absage an jede Form der Kategorisierung der Menschen und den Appell, die Aufmerksamkeit und das Engagement dorthin zu richten, wo am meisten Hilfe von Nöten ist, also dorthin, wo am meisten Leid besteht. Die im vorigen Blogartikel beschriebene spirituelle Überheblichkeit wird durch diese Perspektive ausgehebelt.

Diese Wendung vom Ich zum Du ist frei von Selbstbestätigung des Ichs durch das Du. Es geht also nicht darum, sich wegen einer karitativen Arbeit selbst aufzuwerten. Vielmehr ist ein Akt der Hingabe gemeint, oder, wie es im Buddhismus heißt, des selbstlosen Mitgefühls. In dieser Perspektive gibt es keine Unterschiede unter den Menschen in Hinblick auf Reifegrade oder individuelle Erleuchtungsfortschritte, sondern nur im Hinblick auf die Unterstützungsbedürftigkeit. Jedes Leid verdient Mitgefühl. Je mehr Leid besteht, desto mehr Mitgefühl und Nächstenliebe braucht es.

Es ist die Haltung der Du-Orientierung, die für das eigene innere Wachstum entscheidend ist, nach der biblischen Feststellung: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 40). Der Maßstab für das gelungene Leben ist also der Geringste, nicht der am weitesten Entwickelte oder spirituell Fortgeschrittenste. Vervollkommnung vollzieht sich durch aktives Tun, durch den Einsatz für Leidende. Solange es Menschen gibt, die leiden, braucht es Menschen, die sich ihnen zuwenden und für sie da sind. Solange es irgendwo auf der Welt leidende Lebewesen gibt, leidet jedes Lebewesen.

Dass diese Auffassung auch im Islam vertreten ist, belegt das wunderbare Gedicht des persischen Dichters Sa`di:

ند بنى آدم اعضای یکدیگر

که در آفرینش ز یک گوهرند

چو عضوى بدرد آورَد روزگار 

دگر عضوها را نمانَد قرار

تو کز محنت دیگران بی غمی 

نشاید که نامت نهند آدمی

Die Kinder Adams sind Glieder eines einzigen Körpers,
da sie alle aus derselben Essenz erschaffen sind.
Wenn ein Glied schmerzt,
bleibt den anderen Gliedern keine Ruhe.
Wenn du den Schmerz der anderen nicht spürst,
verdienst du es nicht, Mensch genannt zu werden.

Grundlage der Gesellschaft

Es handelt sich bei der Idee der Nächstenliebe nicht um ein idealistisches Konzept für die Anhänger bestimmter Religionen. Vielmehr geht es um zentrale Grundlagen für jede Gesellschaft, die Sicherheit und Zusammenhalt gewährleistet, die also einen langfristigen Bestand haben will. Hier gilt das Beispiel der Kette, die so gut ist wie ihr schwächstes Glied. Denn Gesellschaften, die die Schwachen aussondern oder „ausmerzen“ (ein Lieblingswort der Nationalsozialisten), erzeugen ein hohes Maß an Angst: Jeder kann einmal schwach werden, jeder wird einmal schwach werden. Sie können nur mit massiver Gewaltandrohung bestehen.

Sicher fühlen können wir uns nur, wenn wir darauf vertrauen können, dass jemand für uns da ist, wenn wir schwach sind, und nicht, dass wir fallen gelassen werden, sobald wir unsere Leistungen nicht mehr erbringen können. Diese Sicherheit geben wir uns, indem wir uns immer wieder darin üben, uns dem Leiden der anderen zu widmen.

Die Ideologie der Vereinzelung

Jeder ist nicht nur seines Glücks, sondern auch seines Überlebens Schmied. So lautet die Losung der Moderne. Die Auffassung, dass jeder für sein eigenes Fortkommen verantwortlich ist und sich nicht um andere zu kümmern braucht, ist der Ideologie des Kapitalismus zu verdanken. Sie hat die Idee dekretiert, dass der individuelle Überlebenstrieb und nicht die sozialen Bedürfnisse die Grundlage für die Gesellschaft darstellen, und damit wurde den Konkurrenzkampf aller gegen alle um die Lebenschancen und Ressourcen entfesselt. Im Neoliberalismus lebt dieses Modell weiter. 

Die Konsequenz liegt in der Entsolidarisierung des menschlichen Zusammenlebens, der der Sozialismus mit der Errichtung eines Sozialstaates entgegenwirken wollte. Doch auch dieser Bereich ist mittlerweile voll in die scheinbaren Sachzwänge des Kapitalismus eingepasst, mit dem Streben nach Kosteneffizienz als oberster Maxime. Gesundheit wird mehr und mehr zur individuellen Verantwortung: Wer bessere Behandlung will, muss dafür tiefer in die Tasche greifen.

Deutungsverluste der traditionellen Religionen

Im Zug dieser Entwicklung ist auch die Bedeutung der christlichen Kirchen mit ihrer Botschaft der Nächstenliebe zurückgegangen und verhallt oft folgenlos angesichts der gewinngetriebenen Vorgänge auf diesem Planeten und in unseren Gesellschaften. Abgesehen von den vielen Beispielen des Hasses und der Gewalt aus der Geschichte der Kirchen haben die Belastungen und Verlockungen des Kapitalismus das Ihre dazu beigetragen, dass die religiösen Botschaften ihre Attraktivität und Glaubwürdigkeit verloren haben. Die Menschen sind voll beschäftigt mit den ökonomischen Drucksituationen, die auf den Einzelnen lasten, und den materiellen Vorteilen, die zum ausgleichenden Konsumieren und Genießen verleiten. Das Weiterwirken der Botschaft der Nächstenliebe in karitativen Nischen ist löblich, erscheint aber angesichts der stetig auseinanderklaffenden Schere zwischen den Reichen und den Armen sowie der Zunahme der Lebensprobleme durch die exzessive Wirtschaftsform wie ein paar Tropfen auf die vielen heißen Steine.

Genug Menschen, die sich ein wenig vom Wohlstand erarbeitet haben, sind von der Angst getrieben, dieses Niveau wieder zu verlieren und vertreten deshalb die neoliberale Ideologie von der Leistungsverantwortung. Sie lassen sich von den entsprechenden Parteien vor ihren Wagen spannen. 

Die herrschende Pandemie hat hier die Gewichte wieder etwas verschoben und die eminente Wichtigkeit des Sozialstaates und des öffentlichen Gesundheitswesens bezeugt, auch hat sich die Diskussion um den Schutz der Schwachen, in diesem Fall der Todkranken auf den Intensivstationen zu deren Gunsten gedreht. Wir wissen aber nicht, wie es nach diesen Erfahrungen weitergeht. In Hinblick auf die Finanzierung der Auswirkungen der Infektionswelle werden sich wieder die wirtschaftsliberalen Stimmen einbringen und nach dem schlanken Staat und dem Zurückfahren der Sozialleistungen rufen.

Die Psychologie der Nächstenliebe

Es gibt auch noch andere, immanente Gründe, warum das Engagement für die Schwachen in ein schiefes Licht geraten ist. Sie sind psychologischer Natur. 

Die Hilfe und Unterstützung, die den Schwachen zukommen, kann die verschiedensten Formen annehmen. Oft wurde kritisiert, dass die Hilfe in Gestalt von Überheblichkeit, Besserwisserei und Entmündigung daherkommt. Eine Hilfe, die die Hilflosen noch hilfloser macht, ist fehlgeleitet. Außerdem: Eine Hilfe, die dem Ruhm der helfenden Person dienen soll, ist heuchlerisch. 

Dazu kommt, dass der Anspruch, das Leid der Mitmenschen zu lindern, angesichts des Ausmaßes an Leid, das es in nächster Nähe und global gibt, zu scheitern. Wenn der vordringliche Daseinszweck der Menschen darin liegt, das Los der Leidenden und Schwachen zu verbessern, entsteht, angesichts all der anderen Motiven und Bedürfnisse, die Menschen abdecken müssen und wollen, ein fortwährender innerer Konflikt: Was darf ich mir selber gönnen angesichts all der Misslichkeiten? Die Folge sind unlösbare Schuldgefühle und eine permanente innere Überforderung. Das Helfersyndrom ist geboren. Friedrich Nietzsche hat von der Sklavenmoral gesprochen, von einer Form der inneren Unfreiheit, die darin besteht, um jeden Preis, auch den der Selbstverleugnung, Nächstenliebe pflegen zu müssen. 

Eine andere, ebenso mangelhafte Form des Umgangs mit dieser ethischen Herausforderung bietet sich in der zynischen Aufkündigung des Anspruchs überhaupt. Es macht ja doch keinen Sinn, weil nur minimal Verbesserungen in der Welt erzielt werden können, während die eigentlichen und hauptsächlichen Probleme, die immer wieder Schwachstellen hervorbringen, unberührt bleiben. Da und dort zu helfen, bringt nicht wirklich etwas, solange sich grundlegend nichts ändert. Oder: Die Schwachen tun nur so, als hätten sie keine Möglichkeiten und machen sich in Wirklichkeit schmarotzend einen Lenz.

Die Nächstenliebe als universelle Aufgabe

Für die Bewältigung der Aufgabe der Nächstenliebe, die sich jedem Menschen stellt, sind alle vorgefertigten oder moralisch formulierten Konzepte überflüssig und hinderlich. Entsprechende Appelle an die Moral sollten wir vordringlich nicht an andere, sondern an uns selber richten. Die Mitte zwischen der Selbstausbeutung im Tun für andere und der autarken Selbstbezogenheit zu finden, erfordert einen lebenslanger Suchprozess, der nie zu Ende ist. Jede neue Situation braucht eine Neubewertung, die auf die äußeren wie auf die inneren Zustände Rücksicht nimmt und die rechte Balance anstrebt. Die Zuwendung zum Du umfasst auch Formen wie ein stilles Mitgefühl, ein Gebet oder ein liebevolles Präsentsein angesichts von Leidenszuständen.

Es ist niemandem geholfen, wenn wir uns im Helfen ausbluten und ausgebrannt dann selber Hilfe brauchen. Wir müssen immer auch auf unsere eigenen Ressourcen achten und für sie ausreichend sorgen. Wir dürfen die Verantwortung für uns selber nie aus den Augen verlieren.

Es ist aber auch uns selbst nicht geholfen, wenn wir uns gegen Bedürftigkeit und Schwäche um uns herum oder weiter entfernt abhärten und unser Herz vor der Not verschließen und abschotten. Wir werden mit dieser Form der Abwehr ein Stück unmenschlicher. Leute, die die Bettler aus ihrer Stadt vertreiben wollen, machen das nur, weil ihnen das Bild der Armut Angst und Scham einjagt: Die Angst, selber abstürzen zu können, und die Scham, auf der fetteren Seite gelandet zu sein. 

Mitverantwortung für das Wohlergehen aller

Mensch sein heißt, mitverantwortlich zu sein für die Menschengemeinschaft, d.h. für das Wohlergehen aller. In der Praxis gibt es natürlich immer Grenzen, in denen wir diese Verantwortung wahrnehmen können. Doch dürfen diese Grenzen nicht starr werden, indem wir uns vor bestimmten Formen des leidenden Menschseins, die uns Angst machen, Ekel auslösen oder mit Scham konfrontieren, schützen wollen.

Die Herzlosigkeit, die z.B. in Zusammenhang mit der Migrationsfrage, in der Öffentlichkeit und im privaten Rahmen von vielen Menschen propagiert wurde und wird, ist aus Ängsten vor Übervölkerung, Überranntwerden, vor dem legendären Boot, das wegen Überfüllung sinkt, genährt. Sie hat also irrationale Gründe, die tiefer in der Seele verwurzelt sind, als den Betroffenen bewusst ist. Indem diese irrationalen Ängste verbreitet werden, steigt das Unsicherheitsgefühl in der Gesellschaft, das wiederum auf die Protagonisten der Fremdenangst rückwirkt und deren propagandistischen Eifer verstärkt. 

Die offene Gesellschaft, die Karl Popper 1945 proklamiert hat, ist eine Gesellschaft der Solidarität, der gelebten Nächstenliebe, die sich aller, und damit auch der Schwachen und Schwächsten annimmt und zwischen reich und arm, oben und unten ausgleicht, nicht im Sinn einer Gleichmacherei, sondern im Sinn einer gerechten Verteilung und einer gerechten Teilhabe am Ganzen. Grundlage ist die prinzipielle Gleichheit aller Menschen und die unbedingte Werthaftigkeit jedes Menschenwesens.

Die Idee der Gleichheit aller Menschen, was ihre Geburts- und Lebensrechte anbetrifft, ist ein Abkömmling des Begriffs der Nächstenliebe aus dem Christentum, der aber erst durch die Aufklärung im 18. Jahrhundert Breitenwirkung erlangte und in die ersten Verfassungen aufgenommen wurde. Seither gilt er als Grundbestandteil von modernen Staatswesen und wurde auch von der UNO weltweit deklariert. Das oben zitierte persische Gedicht ziert einen Sitzungssaal im UNO-Hauptquartier in New York. 

Zum Weiterlesen:
Spirituelle Überheblichkeit
Bescheidenheit als Tugend
Die Solidaritätsschranke
Armut ist ein Ärgernis - dem kann abgeholfen werden
Reich und arm - Demut und Würde


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