Sonntag, 23. April 2023

Erstsprachverbote und Zweitsprachgebote

In den niederösterreichischen Schulen soll es Kindern hinkünftig verboten werden, in den Pausen ihre Muttersprache zu sprechen, wenn diese nicht die deutsche ist. In Oberösterreich gibt es diese Bestimmung schon seit 2015, also seit es dort eine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ in der Landesregierung gibt.

Was ist die offizielle Begründung für diese Maßnahme? Die Kinder sollen sich verstehen und nicht wegen unterschiedlicher Sprachen aneinander vorbeireden. Es wird befürchtet, dass in der fremden Sprache schlecht über andere geredet wird, ohne dass es von den anderen verstanden wird. Schließlich sei es „unhöflich“, nicht Deutsch zu reden.

Beschämung als Mittel zur Durchsetzung der Kulturdominanz

Außerdem wird behauptet, dass Kinder mit anderer Muttersprache dadurch besser die deutsche Sprache lernen. Sie brauchen ja in unserem Land nur die deutsche Sprache, und darum sollen sie sich in dieser so viel ausdrücken wie nur möglich. Diese Argumente sind allerdings unbegründet. Die Erkenntnisse der linguistischen und pädagogischen Wissenschaften sind eindeutig: Erstsprachverbote und Deutschsprechgebote erreichen keine positiven Ziele. Sie verbessern nicht die Sprachkompetenz in der deutschen Sprache. Vielmehr wirken sie auf der sozialen Ebene katastrophal. Statt zu „integrieren“, wie behauptet wird, wird die Segregation verstärkt und vertieft. Es wird so getan, als gäbe es eine gute und eine schlechte Sprache, eine Sprache, die alle sprechen müssen, und eine, die verboten ist, weil sie weniger wert ist. Wer Deutsch nicht als Muttersprache hat, spricht eine schlechte Sprache und sollte sich dafür schämen. Das ist die Botschaft, die mit dem Sprach-Ge- und Verbot an Kinder vermittelt wird.

Kinder mit Migrationshintergrund leiden ohnehin an vielfachen Schambelastungen. Sie befinden sich in einem fremden Land mit einer fremden Kultur, zu der sie in den meisten Fällen gehören wollen, es aber nie ganz schaffen, weil sie eben aus einer anderen Kultur stammen. Viele Angehörige der Mehrheitskultur kehren immer wieder hervor, oft in kleinen oder kaum wahrnehmbaren Dosen, dass sie „das Sagen“ haben und dass sie das Fremde als minderwertig oder als bedrohlich einschätzen. Diese Ressentiments sind der Treibstoff hinter den Forderungen, die dann von politischen Parteien aufgegriffen werden. Denen geht es nicht um Verbesserungen im Schulalltag oder um die Verständigung unter den Kindern – die können sich das schon unter sich ausmachen. Es geht ihnen darum, Vorurteile und Ängste zu schüren und damit Wählerstimmen zu gewinnen.

Was durch solche Maßnahmen passiert ist, dass das Sprechen in der Muttersprache mit Scham beladen wird. Damit geraten die betroffenen Kinder in eine Zwickmühle. Ihre grundlegende kulturelle Identität ist durch ihre Herkunftskultur geprägt. Sie passen sich an die neue Kultur an und leben sich in sie ein. Wird aber die ursprüngliche Kultur abgelehnt oder als minderwertig eingestuft, entsteht ein innerer Konflikt, der mit Scham behaftet ist. Das, was einem immer am nächsten liegt und am tiefsten prägt, die eigene Wurzelkultur, muss zurückgestuft werden, um in der neuen Kultur akzeptiert zu werden und einen sicheren Platz zu bekommen. Wird die Forderung der Mehrheitskultur, die eigene Herkunftskultur abzuwerten, übernommen, so kommt es zur Selbstverleugnung, zum Abschneiden von den eigenen Wurzeln.

Anpassung durch Beschämung und das Fördern von Aggressionen

Durch solche politische Interventionen wird bei den Betroffenen eine innere Zwietracht gesät. Statt Integration kommt es zur erzwungenen Anpassung mit Hilfe von Beschämung. Es werden Spannungsfelder in den pädagogischen Bereich hineingetragen, an denen dann alle leiden, die Deutsch-Erstsprachlicher wie die Deutsch-Zweitsprachler, sowie die Pädagoginnen und Pädagogen, die die Ge- und Verbote umsetzen sollen. Irgendwo anders reiben sich Politiker die Hände, weil ihre Umfragewerte steigen.

In solchen Dynamiken, die mit Unterdrückung und Beschämung zu tun haben, ist immer auch ein Wut- und Aggressionspotenzial enthalten. Es kann bei den Betroffenen nach innen gehen und zu Selbstaggressionen oder Depressionen führen, es kann sich im Schulalltag entladen oder später in die Aggression gegen Zuzügler münden, von denen man befürchtet, dass sie einem wegnehmen, was man selber mühsam an Anpassung und Einpassung in die Mehrheitskultur errungen hat.

Das verordnete Abschneiden der Wurzeln

Wenn zwei Kinder in der Pause, während sie ihre Jause essen, miteinander in der gemeinsamen Muttersprache reden, beleben sie ein Stück Heimat und erinnern an die eigene Herkunft. Meist ist es so, dass es in der Muttersprache leichter fällt, über Gefühle zu reden, also über das, was einen im Inneren bewegt. Diese wichtigen Elemente der emotionalen Kommunikation sollen verpönt und verboten werden.

Man stelle sich die Lehrperson vor, die zu zwei Kindern geht, die gerade miteinander Türkisch oder Bosnisch oder Englisch reden, und sie zum Deutschreden ermahnt. Die Kinder werden aus ihrer Welt herausgerissen, in der sie gerade eine emotionale Brücke zueinander und zur eigenen Herkunft geschlagen haben. Die Beziehung zu den Wurzeln, die in der Muttersprache angelegt sind, wird gewaltsam unterbrochen. Eine Schamschranke entsteht, die das Verwenden des ureigensten Ausdrucksmittel, der Sprache der Mutter, mit einem Makel behaftet. Klarerweise ist damit auch die eigene Herkunft, die Kultur der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern mit einem Makel und einem Schamgefühl behaftet.

Statt beide Kulturen, die Herkunftskultur und die Ankunftskultur, miteinander zu verbinden und zu integrieren, entsteht ein Spalt zwischen zwei unversöhnlichen Polen im eigenen Inneren. Die Herkunft zu verleugnen, wie es im Sprechverbot verlangt wird, bewirkt eine innere Spaltung. Denn die Herkunft bleibt die Herkunft, gleich ob sie akzeptiert und geschätzt wird oder abgelehnt und abgewertet werden muss. Die eigenen Wurzeln sind immer wirksam und prägen die tiefste Schicht der eigenen Existenz.

Jede Form einer befohlenen Entwurzelung kann nur auf einer Oberfläche erfolgreich sein, als bewusst vollzogene und erzwungene Anpassung auf der Grundlage der Selbstverleugnung. Mit Maßnahmen wie der oben erwähnten werden bei einer großen Gruppe von Menschen Schamgefühle, Unsicherheiten und Verletzungen erzeugt (betroffen sind ja nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Eltern und Verwandten und dazu noch die anderen Kinder, die indirekt an der Ausgrenzung und Stigmatisierung leiden, die sie mitverfolgen). Es sind Maßnahmen, die Probleme erzeugen und nicht lösen.

Dazu kommt das Säen von Misstrauen. Wer Kindern unterstellt, dass sie schlecht über andere reden, bloß weil man sie nicht versteht, vertritt keine pädagogische Haltung und ist im Lehrberuf am falschen Platz. Lehren und Lernen kann nur in einer Atmosphäre von Vertrauen und gegenseitigem Respekt gedeihen. Schlecht geredet wird nur dort, wo Schlechtes geschieht.

Ein Armutszeugnis für die Mehrheitskultur

Es ist ein geistiges und moralisches Armutszeugnis für eine Mehrheitskultur, wenn sie den Minderheitenkulturen solche unsinnige und grundlose Verbote auferlegt. Die Regie dabei führen Ideologien, die wiederum auf irrationalen Ängsten beruhen. Wieviel Angst und Misstrauen wird durch solche Vorhaben öffentlich von denen, die sie propagieren, einbekannt, wieviel Kleingeist und wieviel Boshaftigkeit wird in solchen Maßnahmen offenbar – eine Schande für eine europäische Demokratie im 21. Jahrhundert, insbesondere angesichts der wirklichen Probleme und Herausforderungen, die gemeistert werden müssen.

Der Reichtum, der in jeder Zweisprachigkeit liegt, die sprachliche Intelligenz, die von früh an geübt wird und später das Erlernen weiterer Fremdsprachen erleichtert, kann nicht überschätzt werden. Jeder, der als Erwachsener eine Sprache lernt, weiß, wie schwierig und zeitaufwändig es ist und bewundert die Kleinen, die in Sprachen hineinwachsen, ohne jede Lernanstrengung. Jeder, der versucht, in eine andere Kultur hineinzuwachsen, weiß, wie mühsam das ist. Kinder mit einem intuitiven Verständnis für unterschiedliche Kulturen verfügen über viel mehr Flexibilität und können deshalb kreativer mit Unterschieden umgehen.

Die Aufgaben, vor denen wir heute als Gesellschaft stehen, sind sämtlich globaler Natur. Sie können nur bewältigt werden, wenn die Menschheit zusammenarbeitet. Personen, die über eine Mutter- und eine Zweitsprache verfügen, tragen zwei Kulturen in sich und verfügen damit über wichtige Voraussetzungen nicht nur für die Verständigung zwischen unterschiedlichen Kulturen, sondern auch für einen globaleren Horizont des Wahrnehmens und Denkens. Die Proponenten von Sprechverboten hingegen repräsentieren den Geist der Beschränktheit und Kurzsichtigkeit, der Kontrolle, Besserwisserei und Überwachung. Auch wenn sie für solche Maßnahmen den Applaus und die Wählerstimme von manchen bekommen, stehen sie längerfristig auf verlorenem Posten, denn all die Energie, die in solche Vorhaben geht, fehlt bei der Bewältigung der Klimakrise oder des sozialen Ausgleichs.

Mehr Informationen zu dieser Thematik:
Pausensprache deutsch - ein pädagogischer Unsinn 

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