Samstag, 31. Juli 2021

Keine Nachhaltigkeit ohne soziale Konfliktlösung

Die Menschen sind nicht gegen die Natur, sondern gegeneinander. Sie handeln unbewusst und achtlos der Natur gegenüber, weil sie damit beschäftigt sind, ihre zwischenmenschlichen Probleme zu lösen. Und das ist der Grund, warum wir vorrangig daran arbeiten müssen, als Menschheit miteinander besser zurechtzukommen.

Menschen sind Natur, durch und durch, jede Zelle stammt aus den Milliarden der kosmischen Geschichte und ihrer erstaunlichen Entwicklung. Selbst jeder Gedanke und jede Idee, die je in einem Menschengehirn aufgetaucht ist, ist ein Spross dieser Entwicklung, die neben vielen anderen Errungenschaften die Nervenzellen hervorgebracht hat.

Wie kommt es nun zu diesen Konflikten zwischen den Menschen und dem anderen Rest der Natur, die die aktuelle Situation prägen und die ein Ende der Menschheit auf diesem Planeten heraufbeschwören könnten?

Womit die Menschen am wenigsten zurecht kommen, sind die eigenen Artgenossen. Sicher leiden wir unter Unwetterkatastrophen, Seuchen und Vulkanausbrüchen. In früheren Zeiten gab es Raubtiere, die das menschliche Überleben bedrohten. Aber am stärksten leiden wir an dem, was wir uns gegenseitig antun. Aus der Traumaforschung wissen wir, dass menschenverursachte Traumatisierungen wesentlich schwerer wiegen als nicht durch Menschen hervorgerufene Traumatisierungen. Bei schweren Vorfällen, bei denen Naturgewalten ins menschliche Leben eingreifen, helfen und trösten sich die Menschen gegenseitig. Oft tragen solche Ereignisse dazu bei, dass sich die Bande unter den Betroffenen stärken und die Solidarität und das Vertrauen wächst.

Daran ersehen wir die Ambivalenz der Kulturentwicklung. Sie hat im Lauf der Menschheitsgeschichte zu einer zunehmenden Entsolidarisierung geführt, in dem Maß, in dem die Naturgewalten unter menschliche Kontrolle gebracht wurden. Raubtiere wurden ausgerottet und man findet sie fast nur mehr in Reservaten und Zoos. Dämme wurden gebaut, um Hochwässer zu verhindern. Erdbebensichere Gebäude wurden errichtet. Seuchen verloren durch Hygiene, Medikamente und Impfungen ihren Schrecken. Versicherungen sichern gegen jede erdenkliche Störung unseres Komforts. Wir leben heute in den hochentwickelten Ländern auf einem Niveau an Sicherheit, das es in der Geschichte nie zuvor gegeben hat.

Entsprechend ist die Notwendigkeit zur nachbarschaftlichen Hilfe zurückgegangen. Jeder sorgt selber für seine Sicherheit, Solidarität brauchen wir nur mehr im äußersten Krisenfall, so zumindest die Ansicht der neoliberalen Ideologen und die praktische Konsequenz, die die meisten Leute in ihrem Alltag ziehen.

Allerdings geht bei diesem Trend auch die gesellschaftliche Solidarität verloren, die wir vor allem dafür brauchen, um gesellschaftliche Ungleichheiten auszutarieren oder zumindest abzupuffern. Eine ungleiche Gesellschaft bringt Konflikte hervor, und soziale Konflikte schüren die Überlebensängste. Solange die Armut und der Hunger unter den Menschen verbreitet ist, kann es keinen Frieden geben und keine „geschwisterliche“ Beziehung zur Natur. Der Umwelt- und Naturschutz ist ein Privileg der Reichen und Wohlhabenden. Wer von Tag zu Tag schauen muss, eine karge Mahlzeit für sich und für die eigene Familie zustande zu bringen, wer bei Krankheit keine medizinische Unterstützung hat und im Alter befürchten muss, völlig zu verarmen und auf Almosen angewiesen zu sein, wird nicht viel an die umweltgerechte Entsorgung von Plastiksackerln und Getränkeflaschen zu denken.

Es ist klar, dass die krass unausgewogene Gesellschaftsstruktur, die alle Volkswirtschaften in unterschiedlichem Ausmaß und die globale Situation insgesamt prägt, das Haupthindernis für eine von der gesamten Menschheit getragenen nachhaltigen Lebensweise darstellt. Jeder zwischenmenschliche Konflikt, von Ehestreitigkeiten bis zu zwischenstaatlichen Reibereien, verbraucht Ressourcen und Energien, die für die Rettung des Ökosystems fehlen. Es wird niemandem in den Sinn kommen zu verlangen, dass die Menschen in einem syrischen Kriegsgebiet ihren Müll ordentlich sortieren. Wo das unmittelbare Überleben bedroht ist, gibt es keine Perspektive für die Nachhaltigkeit. Wir haben den Luxus, in Dekaden planen und organisieren zu können, was Klimaziele anbetrifft. Andere Menschen können aufgrund der Umstände, in denen sie zu leben gezwungen sind, nur in Stunden oder Tagen planen und organisieren.

Natürlich macht es keinen Sinn zu warten, bis die Menschen endlich ihre strukturellen Konflikte bereinigt haben. Es muss auch jetzt getan werden, was möglich ist, um einen katastrophalen Zusammenbruch des Ökosystems zu verhindern. Aber wir müssen uns mit der gleichen Energie und Entschlossenheit für den gesellschaftlichen Ausgleich einsetzen wie für den Ausstieg aus dem Verbrauch fossiler Brennstoffe. Es ist ein Armutszeugnis für die Menschheit, dass sie es 75 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg noch immer nicht geschafft hat, soziale und politische Konflikte gewaltfrei zu regeln. Jeder Krieg bringt unermessliche Zerstörungen mit sich, materielle, soziale und emotionale.

Es ist dazu noch bedauerlich, dass es allzu viele Menschen auf unserer reichen Erde gibt, die an bitterer Armut leiden müssen, und dass der Hungertod noch immer nicht verschwunden ist. Wir dürfen nicht aufhören, uns immer wieder daran zu erinnern, auch wenn wir dabei mit einem Schamgefühl konfrontiert sind: Denn es ist eine Schande, dass wir trotz unserer herausragenden Intelligenz und unserer Empathiefähigkeit noch immer in einer Steinzeit leben, was die Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen auf einer globalen und strukturellen Ebene anbetrifft.

Wir sollten nicht vergessen, dass wir dieses systemische Denken, die systemische Vernunft und eine systemische Ethik brauchen, um die Herausforderungen, die sich der Menschenwelt stellen, zu meistern. Wir müssen aufhören, nur auf den eigenen Säckel und die eigenen Kleinbedürfnisse fixiert zu sein. Wir sollten jeden Tag ein Stück unseres Egoismus mehr überwinden und uns auf größere Zusammenhänge beziehen. Wir können unsere Energien darauf ausrichten, Frieden zu stiften, wo es nur geht, zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur. Wir können daran arbeiten, dass immer mehr Menschen ein sicheres und freies Leben mit ausreichenden Ressourcen führen können.

Zum Weiterlesen: 

Die Schwachen und die Nächstenliebe
Die Solidaritätsschranke
Gleichheit und soziale Sicherheit

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