Nach dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nimmt die Komplexität in physikalischen abgeschlossenen Systemen mit der Zeit immer mehr und in irreversiblen Prozessen ab, bis völliges Chaos (Entropie) herrscht. In der Natur ist die gegenläufige Tendenz zu beobachten, denn sie bildet Ordnungen aus, die das Chaos reduzieren. Damit kommt es zu einer exponentiellen Vermehrung der Komplexität, die sich seit dem Auftreten der Menschen und der Kulturentwicklung um ein Vielfaches potenziert hat. Gerade in der jüngeren und jüngsten Zeit ist diese Tendenz nochmals beschleunigt worden. Damit wird die Aufgabe, diese Komplexität zu verstehen, zu nutzen und zu verwalten, immer schwieriger und aufwändiger. Denn das Verständnis von Komplexität erfordert eine entsprechende Denkkompetenz.
Um diese Dimension verständlich zu machen, hat Michael L. Commons (theoretischer Verhaltensanalytiker und Systemwissenschaftler) ein Modell der Entwicklung der kognitiven Kompetenzen entworfen. Es heißt das „Modell der hierarchischen Komplexität“ und umfasst alle Lebensformen zwischen Keimen und „Albert Einstein“. Es unterscheidet 16 Stufen:
0. Kalkulatorische Stufe (Moleküle)
Unterscheidet zwischen etwas und nichts (0 und 1 wie ein Computer); die Reaktion auf Reize kann in ihrer Größe nicht gesteuert werden.
1. Automatische Stufe (einzellige Organismen)
Die Reaktion auf Reize erfolgt automatisch, richtet sich aber nach der Quantität des Reizes; verschiedene Reize können nicht koordiniert werden.
2. Sensorische oder motorische Stufe (Amöben)
Auf unterschiedliche Reize kann unterschiedlich reagiert werden, und zwei Reaktionen können koordiniert werden, Körperteile können bewegt werden.
3. Zirkuläre sensomotorische Stufe (Insekten, Fische, neugeborene Menschen)
Ausgreifen, Berühren und Bewegen von Objekten ist möglich; Körperbewegungen nach der Wahrnehmung von Objekten sowie das Erkennen von Dingen geschehen.
4. Sensomotorische Stufe (Ratten, kleine Babys)
Koordination von Bewegungsreihen und Klangabfolgen
5. Nominale Stufe (Tauben, Einjährige)
Beziehungen zwischen Konzepten, die in Worte übersetzt werden können; Namen für Dinge; Verständnis für das, was andere meinen.
6. Sentenzielle Stufe (Zwei- bis Dreijährige)
Aus Worten können Sätze gebildet werden; abstraktere Pronomen werden verwendet (“ich“ ...).
7. Präoperationale Stufe (Drei- bis Fünfjährige)
Einfache Deduktionen, einfache Erzählungen, Verwendung von Konjunktionen (Wenn, dann …); Sätze zur Bildung von Absätzen.
8. Vorschulstufe (Fünf- bis Siebenjährige)
Logische Deduktionen und empirische Regeln; Grundrechnungsarten; Beziehung zu Zeit und Raum; Konstruktion von Geschichten aus Gruppen von Absätzen.
9. Konkrete Stufe (Sieben- bis Elfjährige)
Folgen von komplexen sozialen Regeln, Übernehmen von Rollen und Koordination mit anderen; Erschaffung von bedeutungsvollen konkreten Geschichten; Abschließen von Geschäften, Interesse an Geographie und Geschichte
10. Abstrakte Stufe (Elf- bis Vierzehnjährige)
Formung von abstrakten Ideen und Gedanken: einzelne verallgemeinerte Variablen, die aus einer konkreten Sequenz von Ereignissen in einer Geschichte herausfallen; Erstellen und Quantifizieren von abstrakten Propositionen; Bezug auf Kategorien und Verwenden von Fallbeispielen um das Verständnis dieser Kategorien zu verbessern.
11. Formale Stufe (Vierzehn- bis Achtzehnjährige, wenn überhaupt)
Identifizieren von Beziehungen zwischen abstrakten Variablen und Reflexion über diese Beziehungen, Entwickeln von Formen der Überprüfung; Problemlösung unter Nutzung der Algebra mit einer Unbekannten; Sprachbeherrschung mit einer vollen und reichen Sprache mit Selbstreflexion und unter Verwendung von logischen und konditionalen Schlussfolgerungen.
12. Systematische Stufe (Achtzehnjährige und älter, wenn überhaupt)
Identifizieren von Mustern in linearen Beziehungen, sodass Beziehungssysteme unter abstrakten Variablen gebildet werden; Gleichungslösung mit mehreren Unbekannten; Diskussion von Gesetzgebung, Sozialstrukturen, Öko- und Wirtschaftssystemen.
13. Metasystematische Stufe (frühe Zwanzigerjahre und älter, wenn überhaupt)
Vergleichen und Synthetisieren verschiedener Systeme mit unterschiedlichen Logiken; Aufbau von Metasystemen oder Schlussfolgerungen, die in mehreren Systemen stimmen; Verständnis über Systemveränderungen durch den unterschiedlichen Einfluss von anderen Systemen.
14. Paradigmatische Stufe (Mittzwanziger und älter, wenn überhaupt)
Zurechtkommen mit mehreren sehr abstrakten Metasystemen, um neue Denkformen über die Welt zu erschaffen, neue Paradigmen, Wissenschaften oder Wissenschaftszweige; fraktale Denkweise, sodass die entdeckten universellen Prinzipien auf verschiedene Ebenen der Analyse angewendet werden können.
15. Kreuzparadigmatische Stufe (Späte Zwanzigjährige und darüber, wenn überhaupt)
Zurechtkommen mit mehreren Paradigmen und neue Felder zu erschaffen. Beispiele sind: Newtons Neubestimmung der Physik, Darwins Evolutionstheorie, Einsteins Relativitätstheorie, die Quantenphysik, die Erfindung der Chaostheorie und der Computerwissenschaft, der Aufbau der postmodernen Philosophie, die Einführung der ganzheitlichen integralen Theorie durch Ken Wilber, die Erfindung der Stringtheorie und des vorliegenden Modells der hierarchischen Komplexität.
Hierarchisch heißt in diesem Fall, dass die Fertigkeiten der jeweiligen Stufe gemeistert sein müssen, um auf die nächste zu wechseln, sodass eine neue Stufe auf allen früheren ruht und deren Kenntnisse und Denkweisen enthält, aber in neue Zusammenhänge stellen kann. Die Verteilung der einzelnen Stufen auf die Bevölkerung nimmt drastisch ab; während die 12. Stufe noch bei 20% vertreten sein sollte, wird für die 13. Stufe geschätzt, dass sie bei nur ca. 1,5% der Erwachsenenbevölkerung vorherrscht und meist erst gegen Ende der zwanziger Jahre auftritt. Die weiteren Stufen sind noch viel seltener; bei der letzten Stufe ist die Verbreitung überhaupt unbekannt und eher auf Genies beschränkt.
Das bedeutet, dass sich die Menschen stark in ihrer kognitiven Komplexität unterscheiden und deshalb ganz unterschiedlich geeignet sind, komplexe Problemstellungen zu behandeln. So kann z.B. jemand, der sich intellektuell auf der 10. Stufe bewegt, einen Text über die „Schwachsinnigkeit der menschengemachten Erderwärmung“ als wichtiger und „wahrer“ einschätzen als die wissenschaftlichen Arbeiten von 26 800 Wissenschaftlern, die sich zu „Scientists for Future“ zusammengeschlossen haben. Seine Stimme hat im demokratischen Wahlsystem das gleiche Gewicht wie das von einer Klimawissenschaftlerin, die sich Jahrzehnte mit der Thematik auseinandergesetzt hat. Da die 10. Stufe im Großteil der Bevölkerung verbreitet ist, aber nur eine Minderheit darüber hinausgeht, ist es wahrscheinlich, dass die einfache und zusammenfantasierte Theorie eines Klimawandelleugners bei mehr Menschen Anklang findet als die komplexen Modellberechnungen der Wissenschaftler, die freilich viel näher an der Wirklichkeit sind als eine Verschwörungstheorie.
Eine Herausforderung war und wird immer stärker darin liegen, wie die Denkfähigkeiten der „klügsten Köpfe“ so in den gesellschaftlichen Diskurs und in den politischen Entscheidungsprozess einfließen können, sodass die anstehenden Probleme mit dem entsprechenden Komplexitätsgrad im Denken und Kommunizieren bearbeitet und gelöst werden. Denn wenn der Komplexitätsgrad der Lösung schwächer ist als der des Problems, kann das nicht funktionieren und wird u.U. das Problem noch weiter verschärfen – wie etwa die Klima- oder Handelspolitik der aktuellen US-Regierung beweist.
Ob es gelingt, diese Herausforderung zu meistern, ist nicht nur für die Frage der Weiterentwicklung der modernen Demokratie und einer egalitären Gesellschaft relevant, sondern auch für die Frage, wie die Natur auf diesem Planeten so erhalten werden kann, dass er weiter Menschen beherbergen kann.
Das Komplexitätsmodell von Commons habe ich aus folgendem Buch entnommen:
Hanzi Freinacht: The Listening Society. Metamodern Guide to Politics. Book One. Metamoderna 2017, S. 177 - 183
Zum Weiterlesen:
Tiefe, eine Dimension des Menschlichen
Metamodernismus - eine Übersicht
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