Samstag, 19. Mai 2018

Die Gleichberechtigung des Seins

In unserer Alltagswahrnehmung sind viele Filter eingebaut, sie dienen dazu, die Vielfalt der Eindrücke zu sichten und zu ordnen. Wir klassifizieren alles, was wir erleben, nach verschiedenen Kriterien, deren Herkunft zumeist in unseren unbewussten Motivationen verborgen ist. In den meisten Fällen wissen wir also nicht, warum wir das eine Erlebnis positiv und das andere negativ bewerten. Wir denken uns zwar, nachdem die Bewertung schon stattgefunden hat, Gründe aus, warum wir so oder so bewerten, aber es sind gefühlsmäßige Reaktionen, deren Herkunft im Dunkeln unseres Unterbewussten liegt, die bewirken, dass wir uns bestimmten Aspekten der Wirklichkeit zuwenden und andere vermeiden.

Die Wirklichkeit, auf die wir uns mit unseren Wahrnehmungen beziehen, geschieht unabhängig von unseren Filtern und Bewertungen. Eine Flutwelle, die uns Angst und Schrecken bereitet und enormes menschliches Leid verursachen kann, läuft als an sich emotionsloses Naturphänomen ab. Der Regen fällt auf das Land, dem einen, der gerade ein Sonnenbad nehmen will, zum Missfallen, dem anderen, der ein Feld bestellt, zur Freude, dem, dessen Besitz durch Hochwasser zerstört wurde, zum Entsetzen. Er findet die Natur grausam und feindlich, während irgendwo anders jemand anderer zur gleichen Zeit durch einen Wald spaziert und ebendiese Natur als wunderschön und friedlich empfindet.


Überlebensfilter


Unsere Bewertungsmaßstäbe haben ihre Wurzeln in den frühen Phasen der Menschheitsgeschichte, in denen es ums Überleben und um die Sicherung des sozialen Zusammenhalts gegangen ist.  Was uns Sicherheit und Zugehörigkeit verspricht, bewerten wir als gut, was uns bedroht, als schlecht oder böse. Das Überleben der Menschen hing davon ab, die richtigen Filter aufzubauen und anzuwenden. Daraus leiten sich die Grundfilter: Gut/Schlecht, bzw. Gut/Böse ab. Vom einen wollen wir mehr, das andere soll so wenig wie möglich auftreten.

Deshalb teilen wir die Welt in diese zwei Kategorien, sobald wir uns im Überlebensmodus befinden. In dieser Perspektive ordnen wir die Wirklichkeit unseren Zwecken unter und streben die maximale Kontrolle über sie an. Es soll nichts Unvorhergesehenes geschehen, weil es uns bedrohen könnte. Bekanntes ist bereits eingeordnet, Neues muss erst klassifiziert werden und erzeugt deshalb Unsicherheit und Misstrauen.


Schönheit gibt es nur ohne Bewertung


Wir müssen aus dem Überlebensmodus heraustreten, wenn wir der Wirklichkeit näher kommen wollen. Wir brauchen einen bewertungsfreien Blick, um die Schönheit der Welt aufnehmen zu können. Denn in dieser Welt ist alles gleichrangig, und das macht die Schönheit ihrer Gesamtheit aus. Kein Teil dieser Welt ist an sich schöner oder hässlicher als ein anderer, keiner besser oder schlechter als ein anderer. Alle diese Elemente, die großen und die kleinen, bewegen sich in einem dynamischen Strom, mal näher, mal weiter weg voneinander. Schönheit können wir nicht im starren Gut-Böse-Schema finden, sondern im Wundern über die Gleichwertigkeit aller Teilchen des Seins.

Wir Menschen haben da die Unterschiede hineingebracht, wie es im Alten Testament symbolisch ausgedrückt wird: Durch das Kosten von der verbotenen Frucht, die vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen stammt. Mit dem Geist der Unterscheidung infiziert, bewegen sich die Menschen fortan mit ihren komplexen Bewertungsprogrammen durch die Geschichte und erzeugen andauernd Gutes und Böses aus einer neutralen Wirklichkeit. Es ist, als ob sie mit Farbtöpfen herumlaufen würden, mit denen sie einen Teil grün und den anderen rot einfärben, während gleich die nächsten kommen und wieder alles in ihrem Sinn übermalen. 


Das Nachher relativiert


Übersehen wird bei dieser Rot-Grün- oder Schwarz-Weiß-Malerei die nuancierte Form der Wirklichkeit, die sich nicht an Entweder-Oder-Schemas hält. Das fällt uns manchmal bei Erlebnissen auf, die uns zunächst völlig gegen den Strich gehen, aufregen oder irritieren und sich nachträglich als Segen herausstellen oder zumindest auch gute Folgen zeitigen. 

Aus dem momentanen Gefühl kommt unsere bewertende Reaktion, die darüber entscheidet, ob uns ein Vorkommnis in den Kram passt, unseren Erwartungen entspricht und uns Vorteile bringt. Wenn nicht, wird das Ereignis schnell in die negative Kiste abgelegt. Wir wenden viel Energie und Denkkraft für die Rechtfertigung und Stabilisierung von solchen Einordnungen auf, indem wir unsere Gedanken um das Erlebte kreisen lassen und uns von anderen bemitleiden lassen. Oft bekommen wir gar nicht mit, wenn solche Ereignisse ihre guten Seiten zeigen, außer es fragt uns jemand nach dem „Guten im Schlechten“. 

Wir vergessen schnell, dass wir schon oft im Leben gelernt haben, wie die Zeit alle Wunden heilt. Unglücke, Unfälle, Verletzungen und Bosheiten, die uns so schwer zu schaffen gemacht haben, verblassen in der Rückschau und haben sich schon längst in Erfahrungen verwandelt, von denen wir erzählen, wieviel wir daraus lernen konnten und wie sie uns weitergebracht haben. Die Zeit macht aus den riesigen Ecken, scharfen Kanten und abgrundtiefen Brüchen unserer Geschichte kleine amüsante Anekdoten, aufgefädelt auf der langen Perlenkette unserer Lebenssaga. 


Auf dem Weg zur Weisheit


Weisheit besteht wohl darin, die Relativität all unseres Leidens zeitgerecht zu erkennen und die Festlegung durch spontan getroffene Bewertungsentscheidungen zu vermeiden. Wir sind nicht die Kontrolleure über unsere Zukunft und wissen nichts über die Konsequenzen aus dem, was uns widerfährt. Wir brauchen uns von Spekulationen nicht irritieren zu lassen, sondern können darauf vertrauen, dass das Leben weitergeht, dass es immer wieder angenehme und unangenehme, verletzende und wohltuende, bedrohliche und förderliche Erfahrungen geben wird, und dass sich viele dieser Erfahrungen im nachträglichen Licht betrachtet gar nicht so eindeutig gut oder böse, sondern in bunt schillernden Farben zeigen. Mit unserer Geschichte kommen wir in Frieden, wenn wir deren Schönheit in all ihren Facetten erkennen und anerkennen können.

Wir erlangen diese Sichtweise leichter, wenn wir uns immer wieder darin üben, bei verschiedenen Gelegenheiten die Gleichberechtigung alles Existierenden zu erkennen. Immer wenn wir die Schleier der Bewertungsmuster wegziehen, zeigt sich uns Vielfalt, Reichtum und Fülle, Überraschendes und Wunderbares, und wir finden damit die gleiche faszinierende Mannigfaltigkeit in uns selber. Mit jeder Bewertung, die wir loslassen und durch das Akzeptieren im Moment austauschen können, tauchen wir in unsere dynamische Natur ein, in das von Erfahrung zu Erfahrung weiterfließende wachsende, nie fertige Leben, das wir sind und das uns umgibt.

Dazu kommt, dass die Sichtweise auf die fundamentale Gleichwertigkeit aller Menschen, Dinge und Lebensformen nicht nur Voraussetzung für jede Demokratie in der menschlichen Gesellschaft ist, sondern auch die Grundlage für Artenschutz, nachhaltiges Handeln und Umwelterhaltung bildet. Sie hängt zusammen mit der Haltung der Demut und ist vermutlich die Perspektive, die sowohl ein menschenwürdiges Leben für möglichst viele und auch den Erhalt der natürlichen Lebensvoraussetzungen auf diesem Planeten sichert, als conditio sine qua non, also als unabdingbare Grundbedingung für eine Zukunft menschlicher Existenz.


Wer weiß, wozu es gut ist...


Zu dieser Thematik passt die bekannte „Wer-weiß-wozu-es-gut-ist“-Geschichte, die es in verschiedenen Varianten gibt:

Es war einmal ein kleines Indianerdorf. Am Rande dieses Dorfes lebte ein alter Indianer. Er besaß nicht viel, aber genug, um zufrieden zu leben. Jeden Morgen schaute er nach seinem einzigen Pferd, um eine Weile bei ihm zu sein. Eines Morgens, als er wieder nach seinem Pferd schauen wollte, war es verschwunden.
Der Nachbar des alten Indianers erfuhr es als erster und sprach sogleich:
»Oh du Armer! Dein einziges Pferd ist dir weggelaufen. Du tust mir leid, jetzt ist dein einziger wertvoller Besitz dahin! Das ist wirklich schlimm für dich!«
Der alte Indianer lächelte und sprach:
»Was bedeutet das schon? Das Pferd ist weg, das stimmt, aber bedeutet das wirklich etwas Schlimmes? Warten wir es ab – wer weiß, wozu es gut ist!«
Der alte Indianer ging auch am nächsten Morgen an die Koppel, dort wo sein Pferd gewesen war. Und auch am übernächsten Morgen tat er es. Plötzlich hörte er herangaloppierende Pferde. Als er aufschaute, da erblickte er sein Pferd. Es war zurückgekommen und mit ihm zwölf der prächtigsten Wildpferde. Sein Pferd führte alle in die Koppel.
Der Nachbar des alten Indianers sah es als erster und rief sogleich: »Oh du Glücklicher. Das ist ja unglaublich, wie viel Glück du hast. Dein Pferd ist zurück gekommen und nun hast du dreizehn Pferde! Das ist toll! Nun bist du der reichste Mann im Dorf!«
Der alte Indianer lächelte und sprach: »Ja richtig, ich habe nun dreizehn Pferde. Aber warum bist du so aufgeregt? Wer weiß, wozu es gut ist!«
Der alte Indianer hatte nur einen Sohn, und dieser begann bald darauf, die zwölf Wildpferde zuzureiten, eines nach dem anderen. Es war eine anstrengende Arbeit, selbst für einen jungen, kräftigen Mann. Und an einem Nachmittag ereignete es sich, dass der junge Sohn, sehr erschöpft, von einem der temperamentvollen Pferde stürzte und sich das Becken brach.
Der Bruch war so kompliziert, dass er nur schlecht verheilte und alsbald war klar, dass der Sohn des alten Indianers für den Rest seines Lebens ein Krüppel sein würde. Nie wieder würde er seine Beine richtig gebrauchen können.
Der Nachbar des alten Indianers erfuhr es als erster und sprach sogleich: »Oh du Armer! Dein einziger Sohn ist ein Krüppel und wird es immer bleiben. Du tust mir wirklich leid, jetzt hast du gar keine Freude mehr am Leben! Ich glaube, es lastet ein Fluch auf dir!«
Der alte Indianer schüttelte den Kopf und sprach: »Und wieder bist du so aufgeregt. Mein Sohn wird vielleicht nie wieder laufen können – das ist möglich! Aber warum sprichst du von einem Fluch? Warten wir doch einfach ab – wer weiß, wozu es gut ist!«
Es begab sich, dass das Volk des alten Indianers in immer größeren Spannungen mit dem Nachbardorf lebte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eines der Dörfer das Kriegsbeil ausgraben würde.
Alsbald herrschte große Aufregung im Dorf des alten Indianers, denn man wollte gehört haben, dass das Nachbardorf einen Überfall plante. Der Ältestenrat entschied, dem Angriff zuvor zu kommen und das Nachbardorf unverzüglich zu überfallen. Alle jungen und gesunden Krieger hatten sich sofort für den Krieg zu rüsten.
Der Nachbar des alten Indianers erfuhr es als erster und erzählte dem alten Indianer voller Verzweiflung davon: »Stell dir nur vor – mein Sohn muss in den Krieg ziehen. Was hast du für ein Glück, dein Sohn darf im Dorf bleiben, denn er ist ja ein Krüppel. Du hast wirklich großes Glück! Zwar ist dein Sohn nicht gesund, aber er wird leben. Wer weiß, ob ich meinen Sohn jemals wieder sehe. Wie musst du dich glücklich schätzen, dass dein einziger Sohn verschont bleibt!«
Der alte Indianer schüttelte den Kopf und sprach: »Und wieder bist du so aufgeregt. Hast du denn gar nichts aus der Vergangenheit gelernt? Schon wieder entscheidest du sofort, ob etwas gut oder schlecht ist. Was wissen wir denn schon? Warten wir doch einfach ab – wer weiß, wozu es gut ist!«
Die jungen Krieger überfielen das Nachbardorf und hatten leichtes Spiel, denn dort hatte man nicht mit ihrem Angriff gerechnet. Sie machten reiche Beute und kehrten siegreich und mit schwer beladenen Pferden zurück.
Der Nachbar des alten Indianers erfuhr es als erster und erzählte dem alten Indianer voller Stolz davon: »Stell dir nur vor, wie viel unsere Krieger erbeutet haben. Wir sind jetzt alle reich, nur du nicht, du armer alter Mann, denn dein Sohn war ja nicht dabei! Du hast wirklich Pech! Das muss ja furchtbar für dich sein! Wir werden unsere Zelte reichlich mit der Kriegsbeute füllen!«
Der alte Indianer schaute ihn an, seufzte tief und ging wortlos in sein Zelt zurück.
Aber dann wandte er sich doch noch einmal um, sah seinen Nachbarn eine Weile an und sprach: »Und wieder lernst du nichts aus der Vergangenheit? Schon wieder entscheidest du sofort, ob etwas gut oder schlecht ist. Was wissen wir denn schon? Wir sehen doch immer nur einen kleinen Teil vom Ganzen. Warten wir doch einfach ab – wer weiß, wozu es gut ist!«
Die Stammeskrieger feierten den Sieg bis tief in die Nacht und stolze Väter und stolze Mütter sorgten für das beste Essen, viel Tanz und viele Getränke. Es war kurz vor dem Morgengrauen, als sich alle müde in ihre Zelte begaben.
Im Nachbardorf hatte man unterdessen einen Gegenangriff vorbereitet, und im Morgengrauen kam die Rache für die erlittene Demütigung. Die Krieger des Nachbardorfs drangen in jedes Zelt ein und wenn sie dort etwas von ihren Gegenständen fanden, wurden alle im Zelt grausam getötet. Niemand überlebte den Gegenangriff – nur der alte Indianer und sein Sohn wurden verschont!
Der alte Indianer dachte an seinen Nachbarn, lächelte und sprach zu sich: »Siehst du, wie wenig wir doch vom Ganzen sehen. Erst viel später erkennen wir, wozu etwas gut war!«

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