Donnerstag, 26. Juli 2018

Demut und Mitmenschlichkeit

In einer arbeitsteiligen Gesellschaft brauchen und gebrauchen wir uns als Menschen wechselseitig. Wir nutzen einander als Mittel für die eigenen Zwecke. Der Installateur hilft mir als Mittel zur Reparatur der Küchenarmatur, ich diene einem Klienten zur Auflösung seines Mutterthemas. Wir nehmen Geld als Ausgleich für die erwiesenen Leistungen und auch dafür, dass wir den anderen nicht als "Zweck an sich selbst" akzeptiert haben, sondern als Mittel für einen eigenen Zweck. 

Immanuel Kant hat in dieser Formulierung des kategorischen Imperativs auf die grundlegende Würde des Menschen hingewiesen, die die Voraussetzung für jede ethische Orientierung darstellt. Es sind also Ausnahmesituationen, in denen wir einem anderen Ziel als dem ethischen den Vorrang geben. Der Regelfall soll und muss die Ausrichtung am kategorischen Imperativ sein, damit eine Gesellschaft funktionieren kann und das Innere der Menschen in Frieden mit sich selbst bleibt.

In vielen Situationen nehmen wir allerdings die Mittel-Zweck-Beziehung in zwischenmenschlichen Interaktionen als selbstverständlich. Dort ärgern wir uns, wenn die Leistung nicht dem gewünschten Resultat entspricht, wenn also unsere Erwartungen enttäuscht werden, und machen die beteiligten Personen dafür verantwortlich. Ich habe mir ein Buch erworben und bemerke, dass Seiten fehlen. War es der Verkäufer oder der Drucker, der den Fehler gemacht hat? Jedenfalls hat mich ein Mensch enttäuscht. Das gewählte Mittel, also die verantwortliche Person, war ein schlechtes und sollte durch ein besseres ersetzt werden.

Wir schrauben unsere Erwartungen an perfekte Dienstleistungen nach oben und merken nicht, wie wir damit an der fortschreitenden Verdinglichung der zwischenmenschlichen Beziehungen mitwirken. Immer mehr verlieren wir dabei die Menschen, die in den verschiedensten Zusammenhängen ihre Leistung für uns einbringen, aus den Augen. Wir wollen, dass Fehler nicht vorkommen, und wenn, dann sollen es die dafür Verantwortlichen auch zu spüren bekommen. 

Jede Mittel-Zweck-Relation enthält ein Moment der Hartherzigkeit und Rücksichtslosigkeit. Es geht um die Eigeninteressen, denen die Interessen der anderen Person untergeordnet werden. Wenn diese Tendenz verstärkt wird, nähern wir uns einer Gesellschaft, in der Ausbeutung zur Norm wird. Ausbeutung hat immer das Ziel und die Auswirkung, Ungleichheiten zu verstärken und Machtverhältnisse zu stabilisieren. Statt der Achtung der Menschenwürde geht es um die Demütigung, also die Entwürdigung derer, die uns ihre Dienste leisten.


Auf einer Ebene


Wollen wir dieser Tendenz, die ein Kernelement der neoliberalen Wirtschaftsideologie darstellt, entgegenwirken, so gilt es zu erkennen, dass die Menschenwürde nur auf der Grundlage einer elementaren Gleichheit der Menschen gesichert werden kann. In der Essenz sind wir als Menschen und als Menschheit auf einer Ebene, was sich am Anfang und am Ende eines Menschenlebens am deutlichsten zeigt: Nichts bringen wir mit, nichts nehmen wir mit außer unsere nackte Haut. 

Dazwischen wollen wir alles Mögliche an Gütern, Status und Macht anhäufen, damit wir uns von den anderen Menschen unterscheiden, ohne zu merken, wie sehr wir uns in dieser Konsummentalität auf platte Weise mit den anderen gleichmachen, unter dem Diktat des Konsumzwangs. Die Rückbesinnung auf unsere Einfachheit und Nacktheit kann uns helfen, die Gleichheit von Mensch zu Mensch wiederzufinden und zu pflegen, dort wo wir vorurteilsfrei und wertschätzend miteinander umgehen. Die Haltung der aktiven Demut führt uns auf diese Ebene, indem sie uns davon abhält, uns kleiner oder größer, wichtiger oder unwichtiger als irgendjemand anderer zu wähnen.

Allzu viel Zeit verwenden wir darauf, die Schwächen unserer Mitmenschen zu geißeln und herauszustreichen, wie sehr wir darunter leiden. Wir wollen damit Mitleid und Zuwendung von denen einsammeln, die es eigentlich gut mit uns meinen. Dabei übersehen wir natürlich die guten Seiten an all denen, die uns gerade auf die eine oder andere Art enttäuscht haben. 


Kritik und Überheblichkeit


Wenn wir einen strengen Maßstab anlegen, drückt jede Kritik an anderen Menschen, vor allem, wenn sie abwertend ist, die eigene Überheblichkeit aus. Wir dünken uns als die Besseren, die auf die Fehlerhaftigkeit der anderen herabsehen können und sie hervorheben und anprangern müssen. Vordergründig wollen wir die anderen zu besseren Menschen machen, indem wir sie auf das hinweisen, was ihnen dazu fehlt und wo sie zu lernen hätten.  Unser Gewinn liegt darin, dass wir unsere Kränkung und Enttäuschung ausgleichen; die mangelhafte Sachleistung wird mittels einer ethischen Abstufung und Abwertung umgedreht. 


Die anderen Menschen als „Zwecke an sich selbst“


Was würde es bedeuten, andere als "Zweck an sich selbst" zu nehmen? Der Unterschied liegt in der Haltung: Bin ich bereit, in diesem Menschen, der für mich eine Arbeit erledigt, den Menschen in seiner aktuellen Vollkommenheit, in seiner Göttlichkeit anzunehmen, als Wunder, das er ist? Bin ich offen für die Einmaligkeit dieses Menschen, der mir da begegnet und mich überrascht und bereichert? Bin ich bereit, Fehlerhaftigkeit als Teil seiner Menschlichkeit anzunehmen? Wir können am Teilen und Austauschen mit anderen Menschen genesen und wachsen, aber nur, wenn diese auf der gleichen Ebene stattfinden.

Wenn wir unsere überhebliche Position, die wir im Kritisieren einnehmen, mit Demut austauschen, kommen wir auf gleich mit der anderen Person, begegnen ihr auf Augenhöhe und lassen uns auf ihre menschliche Würde ein, vor der wir uns nur verbeugen können. 

Unser kritisches Lästermaul wird vielleicht nie verstummen. Es kommt so schnell zu Anlässen, die uns dazu verleiten, abfällig über andere herzuziehen. Aber wir können lernen, rascher aus dem Muster des Kritisierens herauszukommen, wenn wir uns mit unserer eigenen Würde verbinden und diese in der anderen Person als Widerspiegelung erkennen. Dann verstehen wir, was es heißt, verbunden zu sein und können spüren, wieviel angenehmer und entspannender diese Erfahrung ist als die Trennung, die wir durch die Kritik hervorgerufen haben. Sobald wir uns für unser inneres Lächeln öffnen, brauchen wir keine kritischen Abwehrreaktionen mehr, sondern können uns für die Schönheit der anderen öffnen.

Demut führt dazu, dass wir unser eigentliches inneres Maß wiederfinden. Wo unser Ego über uns selbst hinausgewachsen ist, nehmen wir uns zurück; wo uns unser Ego verkümmern hat lassen, wachsen wir nach. Wir nehmen uns auf uns selbst zurück. 

Indem wir die Haltung, die wir auf uns selber anwenden, in die Kontakte mit anderen Menschen einbringen, helfen wir ihnen am effektivsten, dass sie selber ihr inneres Maß finden können und sich damit viel Leid ersparen. Und uns selber unterstützen wir auf dem Weg des inneren Wachsens und dem Annehmens unserer Menschenwürde.

Zum Weiterlesen:
Die Demut und das Ego
Demut und Mitmenschlichkeit
Die Gleichberechtigung des Seins
Passive und aktive Demut
Demut als spirituelle Haltung
Reich und arm, Demut und Würde

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