Montag, 27. Juni 2016

Was ist Therapie - traditionell und systemisch

Das traditionelle medizinische Therapiemodell hat folgenden Ablauf: Der Patient kommt mit einem Symptom, z.B. Kopfschmerz. Der Arzt diagnostiziert, indem er z.B. feststellt, ob der Kopfschmerz mit Nackenverspannungen oder mit einem Tumor verbunden ist. Dementsprechend wird dann die Therapie verordnet, die zur Heilung führen soll.

In diesem Modell gibt es eine klare hierarchische Rollenverteilung zwischen dem Laien und dem Experten. Entsprechend ist auch die Verantwortung für den Heilungsprozess sowie die soziale und ökonomische Macht verteilt. Der Patient befindet sich in einer unmündigen und abhängigen Position. Er wird oft nicht einmal über Diagnose und Therapieplan unterrichtet, geschweigedenn kann er in irgendeiner Weise mitgestalten. Die "Götter in Weiß" haben ihr spezialisiertes und detailliertes Wissen in mühsamem Studium erworben, und damit stehen sie über allen, die sich dieser Schulung nicht unterzogen haben.

Im Rahmen dieses Modells kann eine vormoderne und eine moderne Position unterschieden werden. Eine der wichtigsten Neuerungen, die zur Entstehung der Moderne geführt haben, liegt im Aufblühen der Wissenschaften, die nicht nur die Legitimität des Erkenntnisgewinns, sondern auch die Deutungshoheit zunehmend für sich monopolisieren konnten. Das moderne Modell überwies sich dem vormodernen überlegen, weil es einerseits eine vorher nie dagewesene oder vorstellbare technologische Entwicklungsdynamik entfesselte und andererseits das demokratische Moment enthält, dass prinzipiell jede Person das wissenschaftliche Wissen erwerben kann. Dazu kommt, dass sie evolutionär ist, d.h. sich ständig weiterentwickelt und verbessert.

Im vormodernen Modell dagegen liegen die Quellen des Heilungswissens nicht offen. Im einen Fall sind es einzelne Individuen, die über besondere Kräfte verfügen, die nicht systematisiert und gelehrt werden können: Wenn der Wunderheiler jemandem die Hand auflegt und dieser aufsteht, sein Bett nimmt und geht, dann ist das zwar eindrucksvoll, kann aber nicht verallgemeinert werden. Jemand anderer, der auf diese Weise sein Glück versucht, wird vermutlich kläglich scheitern. Und der Wunderheiler wird ihm auch nicht beibringen können, was er verändern müsste, um genauso effektiv zu sein. 

Im anderen Fall handelt es sich um Wissen und Können, das in Zirkeln und geschlossenen Kreisen weitergegeben wird. Wer dazugehören will, um die Heilkünste zu erlernen, muss sich verschiedener esoterischer Praktiken unterziehen und wird oft verpflichtet, diese für sich zu behalten. Es geht also um Wissen, das geheimgehalten wird, damit es "rein" bleibt, das also keiner Evolution und Weiterentwicklung unterliegen soll. Dieses Wissen braucht festgefügte und vordefinierte soziale und kognitive Kontexte, in denen es Sinn macht, und diese Kontexte stehen nicht zur Disposition, d.h. sie können weder überprüft noch kritisiert werden.

Konflikte zwischen Vormoderne und Moderne


Zwischen dem vormodernen und dem modernen Therapiebegriff gibt es aufgrund dieser Unterschiede vielfältige Konflikte. In der mordernen Gesellschaft wird vormodernen Wunderheilern oft das Handwerk mit dem Hinweis auf Quacksalberei und Unwissenschaftlichkeit verboten. Andererseits wenden sich viele Menschen, enttäuscht von der offiziellen Schulmedizin, die ihnen nicht zur erhofften Heilung verholfen hat, vormodernen Heilsversprechern zu. 

Zum einen herrscht eine Art von lauernder Kriegszustand zwischen beiden Lagern. Wenn auf einer Seite ein Missgeschick oder ein Versagen auftritt, z.B. jemand knapp nach einer  Wunderheilung verstirbt oder jemand anderer an den Folgen einer wissenschaftlich abgesicherten Heilung umkommt, ist das Wasser auf die Mühlen der jeweiligen Gegenposition, die dann das Eingreifen der staatlichen Ordnungsmacht fordert, um solchen Schaden in Zukunft zu verhindern.

Andererseits gibt es Praktiker, die beide Ansätze ungeniert kombinieren, mal  vormodern und mal modern vorgehen, wie es von Fall zu Fall passt. Damit werden die festgefahrenen Konfliktlinien unterlaufen und sinnlose Streitigkeiten über Heilungsmonopole vermieden.

Was beiden Ansätzen gemeinsam ist, ist das Autoritätsgefälle und die Verbindung von Verantwortung und Expertenwissen. Der Heiler weiß besser als der Kranke, was für ihn gut ist. Er erkennt den eigentlichen Grund des Leidens und verfügt über das untrügliche Wissen über den richtigen Weg zur Heilung. Diagnose und Therapie sind fest im Besitz der Experten, und der Patient darf sich glücklich schätzen, daran teilhaben zu dürfen.

Therapie und Ökonomie


Der moderne Therapiebegriff unterliegt einem starken Einfluss der kapitalistischen Zwänge. Störungen bei den Individuen sind Störungen im Wirtschaftsablauf, die der Maximierung des Gewinns und dem Wachstum des Bruttosozialprodukts im Weg stehen. Sie sollen möglichst rasch und billig behoben werden. Dem passt sich die symptomorientierte moderne Behandlungsweise an. Sie will die Menschen möglichst schnell wieder soweit herstellen, dass sie ihre Funktionen im Produktionsprozess ausüben können. Da dem Kapitalismus jede Form der Nachhaltigkeit wesensfremd ist - Zeit ist ihm Geld, und Effizienz wird mit Schnelligkeit gleichgesetzt -, werden dauerhafte Heilungen, die der Störung auf den Grund gehen und sie dort beheben, nicht angestrebt und bilden die Ausnahme. Die Menschen werden solange mit Symptomheilungen abgespeist, bis die erschöpften Körper nicht mehr zum Funktionieren gebracht werden können und sie aus dem Arbeitsprozess aussscheiden müssen oder ausgeschieden werden, je nach Sichtweise. Es werden die Ressourcen der Individuen aufgezehrt, indem ihre Innenperspektive vernachlässigt und ignoriert wird.

Die Kostenspirale, die überall im modernen Gesundheitswesen beobachtet werden kann, hängt mit der Fixierung auf kurzfristige Wirksamkeit zusammen. Unsere Körper leben nicht nach diesen Prinzipien, sondern es häufen sich die Störungen aufeinander, wenn die Wurzel nicht behandelt wird. In meinem Buch "Kohärentes Atmen" gehe ich auf diesen Zusammenhang ein, indem ich dort von der zentralen Rolle des autonomen Nervensystems für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden berichte. Gerät dieses aus dem Gleichgewicht, äußert sich das in den verschiedensten Symptombildern, die sich je nach Konstitution ausformen. Werden nur sie behandelt, ohne dass das Nervensystem sein Gleichgewicht findet, kommt es immer wieder zu symptomhaften Störungen. 

Doch bevor das moderne Gesundheitswesen in nachhaltige und tiefgreifende Heilung investiert, wird die Serie der Symptomheilungen in Gang gesetzt, die dann zu den steigenden Kosten führt. Ähnlich wie im Umweltbereich, wo kurzfristig wirksame ökonomische Erfolge zu langfristig massiven und kostenintensiven Problemen führen, schaufelt sich auch im Gesundheitsbereich der Kapitalismus sein eigenes Grab.

Der systemische Therapiebegriff


Die Beschränkungen und inneren Widersprüche des modernen Konzepts von Heilung führten zur Weiterentwicklung des Therapiebegriffs. Im systemischen, postmodernen Begriff der Therapie werden diese Voraussetzungen überwunden. Hier geht es um drei gleichberechtigte Positionen und deren Interaktion. Es gibt den Patienten, den Heiler und das Heilwissen. Die Verantwortung für den Heilungsprozess ist auf zwei Personen verteilt, Klient und Heiler sehen sich als Partner, fokussiert auf den Heilungsprozess, für den die beiden Perspektiven, die Erste-Person und die Dritte-Person miteinander verbunden werden. 

Dies geschieht in einem kommunikativen Prozess der Zweiten-Person-Perspektive, in dessen Verlauf der Heilungsprozess entwickelt wird. Damit werden drei Ebenen der Heilung genutzt: Die Selbstheilung, die der Patient in sich selbst angeht, die Heilung, die in der kommunikativen Beziehung zum Therapeuten liegt, und die Dritte-Person-Perspektive, die der Heiler durch sein Expertenwissen und seine erworbenen Fähigkeiten einbringt. Der Begleiter wechselt dabei zwischen der empathischen Position aus der Zweite-Person-Perspektive und der Dritten-Person-Perspektive, die das Expertenwissen und die externe Sichtweise auf das Problem einbringt. 

Diese Arbeitsform ist komplexer und damit zeitaufwändiger, aber wegen ihrer Multidimensionalität umfassender, effektiver und nachhaltiger. Denn es wirken mehr Kräfte mit, die im günstigen Fall in eine Richtung gebündelt werden. Diese Vorgehensweise ist auch nicht wiederholbar, kennt also nur in Ausnahmefällen Immer-wenn-dann-Beziehungen, denn sie hängt von zwei individuellen Personen ab, die sich in einer jeweils einzigartigen Situation treffen und in einen Prozess einsteigen, dessen Verlauf und Ausgang nicht vorhersehbar ist. 

Jeder Heilungsprozess in diesem Feld ist einmalig und kann deshalb auch nicht wie technisches Wissen gelehrt werden. Die Ausbildung erfordert neben dem Studium von Wissen eine Menge an kommunikativer Praxis. Der Therapeut braucht nicht nur Wissen, das von außen übernommen werden kann, sondern auch innere Kompetenzen, die nur mit Hilfe von kommunikativer Selbsterfahrung und Reflexion erworben werden können. Damit ist die therapeutische Ausbildung ebenso ein Vorgang nach dem Modell der systemischen Heilung, und der Therapeut arbeitet mit Kompetenzen, die er in einem multidimensionalen Heilungsprozess gewonnen hat. Nur mit diesem Verständnis von Heilung, das auf eigener heilsamer Erfahrung beruht, kann die systemische Therapie wirken.

Hier liegt die emanzipatorische Kraft des psychotherapeutischen Heilungsmodells, das der Philosoph Jürgen Habermas ("Erkenntnis und Interesse", 1968) bei Sigmund Freud entdeckt hat: Heilung bedeutet nicht mehr die Behebung eines Schadens, um die Handlungsfähigkeit im Sinn des ökonomischen Systems wiederherzustellen, sondern bedeutet das Zu-sich-selbst-Kommen des betroffenen Menschen, das Freilegen seiner eigenen Heilungskompetenzen und damit das Heraustreten aus Abhängigkeitsbeziehungen. Der "mündige Patient" ist Partner und Mitgestalter im eigenen Heilungsprozess. Dieses Modell hat sich zuerst in der Psychotherapie entwickelt, und es scheint jetzt an der Zeit, es in weiteren Bereichen des Gesundheitswesens anzuwenden. Und es ist Zeit, politisch und gesellschaftlich anzuerkennen, welchen Beitrag die Psychotherapie, die in diesem Verständnis zu einer Leitmethode in den Heilmodellen werden sollte, zur Gesundung und Gesunderhaltung der Gesellschaft leistet.

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