Mittwoch, 20. Januar 2016

Die Intellektuellen und ihre Verwundbarkeit

 Zum Gedenken an die Attentate in Paris vor einem Jahr und heute in Charsadda (Nordpakistan)
 

Salman Rushdie, der verfolgte Schriftsteller aus Indien, sagte in seiner Eröffnungsrede bei der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2015, dass die Literatur stärker ist als alle politischen Systeme und Religionen, aber dass die Literaten verwundbar sind. 

Die Aufklärung, das große Modernisierungsprojekt der Intellektuellen des 18. Jahrhunderts, zeigte den Umschwung in die Brutalität, wenn die Ideen der Intellektuellen Breitenwirkung entfalten und von den „Massen“ aufgegriffen werden. Von daher (nebenbei) das Misstrauen der Intellektuellen in diese „Massen“, also in die Mehrheiten oder in die schlag- und durchsetzungsmächtigen Minderheiten der Gesellschaft. Die Intellektuellen werden abserviert, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben, oft genug in die Gefängnisse, in die Isolation oder ins Jenseits. 


"Literatur ist stark, aber Autoren sind schwach. Ihre Leben können zerstört werden, selbst wenn ihre Werke bleiben", sagte Salman Rushdie und fügte hinzu: "Das ist kein großer Trost, wenn man tot ist."


Mit jedem Intellektuellen stirbt ein besonderes Stück Menschheit. Intellektuell sein heißt auch, die eigene Individualität kompromisslos zum Ausdruck zu bringen. Dieses Stück Individualität geht verloren, wenn der Mensch zerstört und zusätzlich seine Werke vernichtet werden.


Die Waffen des Geistes und des Wortes können scharf sein, sie können aber keine körperliche Gewalt ausüben. Sie entfalten ihre Macht nicht mit der Drohung der physischen Vernichtung, sondern mit der Kraft der Überzeugung. Sie brauchen deshalb ein Gegenüber auf dem gleichen Kanal des Austausches oder lernwillige Empfänger.

Viele der Mächtigen haben eine besondere Angst vor den Intellektuellen und verfolgen sie, wie die grausamen Diktatoren des 20. Jahrhunderts. So, als stünde im Handbuch für Diktatoren, dass zuerst die streitbaren Geister zum Schweigen gebracht werden müssen, dann ist die Basis für den weiteren Ausbau der Unterdrückung gesichert.

Denn der Intellektuelle kann nicht schweigen, wenn er Widersprüche erkennt und Manipulation entlarvt. Er hat verstanden, dass im Bildungsinteresse eine unstillbare Suchbewegung steckt, die nicht aufgehalten werden darf, weil sie immer weiter zur Freiheit führt. Die Intellektuellen sind keine Besitzer, sondern Sucher und Erforscher der Wahrheit und reagieren immer mit Misstrauen und Widerspruch, wenn sich jemand der Wahrheit bemächtigt. Sie sind das Gewissen der Eliten.

Auch wenn sich Intellektuelle oft persönlich wichtig nehmen, weil sie als Menschen über Stolz und Eitelkeit verfügen, wissen sie, dass ihre Inspiration und ihre Mission über sie hinausgehen. Sie wissen, dass sie nie fertig sind und wollen nie aufhören zu lernen.

Sie wollen schreiben und reden, um Wirkung in anderen Menschen zu erzeugen; weniger, um sie vom eigenen Standpunkt zu überzeugen, mehr um sie zu einem eigenen Standpunkt zu bringen, um sie dazu motivieren, Stellung zu beziehen, aufzustehen, statt sitzen zu bleiben, in Bewegung zu kommen statt zu erstarren. Intellektuelle brauchen den Diskurs, um ihre Ideen zu prüfen und zu bewähren oder zu verwerfen. Sie wollen Bewegung statt Stillstand, Flexibilität statt Sturheit.

Statt Meinungen und übernommenen Ansichten verfolgen die Intellektuellen den kritischen Weg: Was Menschen sagen und tun, wird „hinterfragt“, wird auf Widersprüche am Maßstab der Humanität hin untersucht. Intellektuelle sind zur Kritik verpflichtet – das griechische Wort „krinein“ heißt unterscheiden. Kritik bedeutet also Unterschiede zu setzen, dort zu differenzieren, wo dualisiert oder monopolisiert wird. Je mehr Unterschiede gefunden werden, desto uneindeutiger und vieldeutiger wird die Wirklichkeit. Eine einfältige Wirklichkeit ist leicht zu beherrschen, eine aufgefächerte Realität entzieht sich dem Zugriff der Macht.

Deshalb ist die Angst der Mächtigen vor den Intellektuellen berechtigt.

Es ist simpel und billig, dem Diskurs mit einer Kalaschnikow ein plötzliches Ende zu bereiten. Die Person des Intellektuellen ist ausgelöscht. Sein Argument wirkt jedoch weiter. Das ist der Antrieb und die Hoffnung des Denkers: Dass sein geistiges Erbe weiter spricht, über ihre Person hinaus.

Denn Intellektuelle schreiben ihre Argumente nicht (ausschließlich) ihrer Person zu, sondern der Wahrheit und der Redlichkeit. Wie vehement sie auch immer ihre Position vertreten und verbreiten, wie sehr sie ihren Stolz daran heften mögen, haben sie doch immer eine bescheidene Haltung der größeren Kraft des Geistes gegenüber, dem sie sich verpflichtet fühlen. Sie wissen, dass sie nicht willkürlich und unbedacht argumentieren können, sondern dass das Argument verdient und erarbeitet sein muss. Leichtfertigkeit ist nicht ihre Sache, sondern Gründlichkeit und Umsicht.

Leicht hingegen ist ihr Gewicht im Spiel der Mächte und Gewalten. Eine Kultur, die sich ihrer entledigen will, wird zur Unkultur, zur sich selbst zerstörenden Barbarei.

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