Freitag, 5. Dezember 2014

Die seelischen Trümmer der NS-Erziehung

Der zweite Weltkrieg hat eine Spur der Verwüstung in den Seelen hinterlassen. Gebrochene und traumatisierte Männer, die dann Väter werden, erschöpfte und ausgelaugte Frauen, die Mütter werden, bekommen Kinder, die all diese Lasten als Gepäck fürs Leben mitbekommen. Dort, wo sie nicht aufgearbeitet werden, plagen sie noch die Enkelgenerationen.

Dazu muss auch in Betracht gezogen werden, wie die Kindererziehung in dieser Zeit durch die NS-Ideologie geprägt wurde – ein weiteres düsteres Kapitel aus dieser Schreckenszeit.

In dem Buch „Seelische Trümmer“ von Bettina Alberti findet sich der Hinweis auf einen Erziehungsratgeber, der die Grundzüge der nationalsozialistischen Vorstellungen für den Umgang mit Kindern den Eltern vorgibt und damit Mitschuld trägt an tausendfacher emotionaler Misshandlung und Entwicklungstraumatisierung. Das Buch von Johanna Haarer heißt „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, ist 1934 erschienen und erreichte bis Kriegsende eine Gesamtauflage von 690 000 Exemplaren, empfohlen vom „Völkischen Beobachter“.

Alberti schreibt zu den bindungspsychologischen Aspekten, die das Buch empfiehlt:

•    „möglichst wenig physische Nähe zwischen Mutter und Kind von Geburt an,
•    größtmögliche emotionale Distanz,
•    Beschränkung auf die notwendige Versorgung des Kindes in seinen physiologischen Bedürfnissen wie Hunger und Sauberkeit,
•    Missachtung der Bedürfnissignale von Babys, die sie durch Schreien und Wimmern zu äußern in der Lage sind."(Alberti, S. 153)


Dazu ein Zitat von Johanna Haarer: „Liebe Mutter, (…) fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen, wenn es das möchte. Das Kind wird nach Möglichkeit an einen stillen Ort abgeschoben, wo es allein bleibt, und erst zur nächsten Mahlzeit wieder hervorgenommen.“


Sie empfiehlt der Mutter, den Säugling so weit weg von sich zu halten, dass er nicht auf ihre Augen fokussieren kann und so einen sicheren und beruhigenden Blickkontakt aufbauen kann. So, als hätte sie intuitiv die Ergebnisse der Bindungsforschung erkannt, propagiert sie alles, was dazu dient, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind von Anfang an gestört oder sogar zerstört wird.

Es ist klar, dass eine derart herzlose und kinderfeindliche Pädagogik nur von jemandem vertreten werden kann, der selber eine traumatisierte Kindheit hatte. Das entschuldigt nicht den massiven Schaden, der angerichtet wurde. Dass viele Eltern diese Erziehungsmaximen zu ihren eigenen machten, kann auch nur an ihrer traumatisierten Kindheit liegen und entschuldigt sie auch nicht.



Totalitarismus von Anfang an


Der totalitäre Anspruch des Regimes wird bis in die Säuglingsstube hinein ausgedehnt. Von Anfang an muss sich das Menschenwesen unterordnen. Dazu wurden die Eltern manipuliert: "Die Angst, das Kind sonst nicht mehr lenken zu können, wurde den Eltern systematisch ins Bewusstsein gepflanzt. Das Kind sollte möglichst früh lernen, die Welt in Befehlshaber und Gehorchende einzuteilen." (Alberti, S. 155)

"Die Selbstständigkeit des Kindes bestand in der freiwilligen Befolgung von Befehlen der Erwachsenen. Auch diese Maxime gab es noch häufig in den 50er- und 60er-Jahren. Selbstständigkeit war  nicht eigenes Wahrnehmen, Denken und Fühlen, sondern Gehorchen aus freiem Willen. (…) Dadurch gehörte der innere Schmerz der inneren Leere unvermeidbar zum Leben dazu. An viele Kinder der in den 50er- und 60er-Jahren Geborenen wurde dies unreflektiert von ihren bindungstraumatisierten Müttern und Vätern weitergegeben. Die Suche nach Erlösung aus innerer Einsamkeit, aus Schuldzuweisung und Versagen, aus dem Bemühen, liebenswert zu sein und es besser zu machen, kennen viele der heutigen Erwachsenen." (Alberti, S. 157)

Erstaunlicherweise wurde die letzte Auflage dieses autoritären Erziehungsratgebers 1986 gedruckt, dessen Quintessenz in folgendem liegt: in "der konsequenten Nichtbefriedigung früher Bindungsbedürfnisse, der Missachtung und Verleugnung der Seele von Kindern und Jugendlichen, daraus folgender Erzeugung eines schmerzlichen seelischen Hungers, der nach Erlösung suchte, und der Überführung der Sehnsucht in ein Kollektiv, das Halt, Geborgenheit und Anerkennung endlich zu geben versprach." (Alberti, S. 163)

"Funktionieren blieb ein Wert, der die Kriegskinder-Generation in ihrem viel zu frühen Erwachsenwerden gebunden hielt." (Alberti, S. 171)

Damit erkennen wir eine wichtige Wurzel des Funktionsmodus, der unsere Zeit tief imprägniert hat. Von Anfang an wird gezielt an dem Aufbau von chronischem Stress gearbeitet, der die Grundlage für eine Haltung bildet, die nur in der richtig erbrachten Leistung eine Überlebenschance sieht.

Offensichtlich haben die Nationalsozialisten diese Maschinisierung des Menschen nicht erfunden. Sie knüpften an eine Tradition der Instrumentalisierung der Kinder an, die weit in der Geschichte zurückreicht und eine besondere Verschärfung durch das militarisierte Preußentum erfahren hat. Der Nationalsozialismus hat sie mit der Verachtung von Minderheiten und der konsequenten Vorbereitung auf einen Vernichtungskrieg verbunden.


Literatur:
Bettina Alberti: Seelische Trümmer. Geboren in den 50er und 60er Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. München: Kösel Verlag 2010
Gregor Dill: Nationalsozialistische Säuglingspflege. Eine frühe Erziehung zum Massenmenschen. Stuttgart: Enke 1999
Sigrid Chamberlain: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Gießen: Psychosozial 2000

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