Sonntag, 28. Dezember 2014

Erzählend sind wir und erzählt

Wir sind erzählende Wesen. Wir sind erzählte Wesen. Wie wir uns sehen, wie wir unsere Identität erleben, ist zum Teil das Resultat von Erzählungen. So sind wir ein beständig sich wandelnder Endpunkt einer Erzählung. Vollständig erleben wir uns, wenn die Erzählung einen durchgängigen Duktus aufweist, wenn also der Sinn von einem Ereignis zum nächsten weitergereicht werden kann und in jedem Moment ein Blick auf den Gesamtsinn eingeholt werden kann. Dann bildet sich eine dynamische und flexible Identität, die innere Stabilität und äußere Kontinuität in die Lebenspraxis einbringt.

Jede Körperzelle hat ihre Geschichte, ihre Entstehung und die Umstände ihrer Entwicklung in sich abgespeichert und präsent, soweit sie nicht abgebrochen und fragmentiert wurde. Leben ist dauerndes erzählendes Rekonstruieren von Vergangenheit. Leben ist das Herstellen von Kontinuität, die in jedem Augenblick neu geschrieben werden muss, wie die Geschichte einer Nation, die nicht nur durch das Weitergehen der Entwicklung neue Inhalte bekommt, die in die Erzählung eingebettet werden müssen, sondern auch beständig neue Blickpunkte möglich macht, die die Geschichte als ganze in einem neuen Licht zeigen. Archive werden geöffnet und erlauben Einblicke in bisher geheim gehaltenes Wissen, neue Fragen werden an die Geschichte gestellt, die neue Antworten möglich machen.

Die Kreativität der Geschichte zeigt sich darin, dass sie selber sich dauernd umschreibt und umschreiben muss. Nur Diktaturen versuchen, ihre Geschichte in Stein zu meißeln, und zerbrechen daran, weil das Einmeißeln der Geschichte unweigerlich den Verlust von Lebendigkeit und Kreativität nach sich zieht. Die große Lüge der Diktaturen liegt darin, dass sie die Traumen, die sie verursacht haben, hinter den vergoldeten Lettern einer gefälschten Geschichte verstecken.

Geschichtslosigkeit macht krank


Die Rekonstruktion der Geschichte, also das Auffüllen der Lücken in der Erzähltradition, kann nicht willkürlich erfolgen. Sie entsteht von selber, wenn die Geschichte durch das Hinschauen auf das bisher Verdrängte und Verlorene vervollständigt wurde. Werden statt der tatsächlichen Vorgänge erfundene Geschichten eingeschmuggelt, so erscheint die Geschichte verzerrt und verwirrt die Menschen. Deshalb müssen alle Gräueltaten der Geschichte benannt, alle Täter namhaft gemacht werden, um die Geschichte als Wirklichkeit wieder herzustellen und von jeder Fiktionalisierung zu unterscheiden.

Die Rekonstruktion der Geschichte ist also nicht der kreativen Gestaltung eines Kunstwerkes vergleichbar, das einer freien Fantasie, als Folge einer Wirklichkeitssicht, entspringt. Es ist auch kein Spiel, das sich innerhalb bestimmter Regeln frei entfaltet, sondern es unterliegt einem Ernst, den das Leben dort einfordert, wo es an der Kippe steht. Es fordert nichts weniger als die Wahrheit ein, das, was wirklich geschehen ist, ohne Beschönigung oder Verniedlichung, ohne Über- oder Untertreibung. Nur die Wahrheit kann heilsam sein, keine Lüge und keine Ablenkung, also auch kein esoterischer Hokuspokus, indem irgendwelche Geist- oder Naturwesen, Vorleben oder Teufelsaustreibungen einspringen sollen, um die Lücken der eigenen Lebensgeschichte mit Sinn aufzufüllen. Der schonungslose Blick auf die Wahrheit, das Eingestehen und Zulassen des Schrecklichen, so schwer das auch sein mag und soviel Kraft und Mut das auch kosten mag, soviel Schmerz das verursachen mag, ist das einzige dauerhaft und nachhaltig wirkenden Heilmittel, die einzige sinnstiftenden Heilmethode.

Nicht rekonstruierte Lebensgeschichte ist lang- und kurzfristig letal. Kurzfristig, indem sie Ressourcen bindet, die anderweitig fehlen. So kann sich die nicht rekonstruierte Lebensgeschichte in körperlichen oder seelischen Erkrankungen abbilden. Das Erscheinungsbild der Depression z.B. signalisiert das Abgeschnittensein von Sinnzusammenhängen, bis hin zur körperlichen Ebene, sodass eine depressive Person ihren Körper nicht mehr spüren kann, abgesehen von dem allgemeinen Gefühl der Sinnlosigkeit, von dem viele Depressive berichten.

Die unvollständige kollektive Geschichte ist Quelle von Konflikten, die in Kriegen ausarten können. So zehren z.B. die Konflikte in der muslimischen Welt von widersprüchlichen Geschichtsbildern und unaufgearbeiteten uralten Streitereien, Zwistigkeiten, Morden und Massakern. Der Wiederholungszwang, der aus der einseitigen Sicht der Geschichte erwächst, verlängert nur die Kette des Leidens und ist kein Schritt zur Lösung.

Der Weg zur Lösung öffnet sich dort, wo wir beginnen, aktiv nach den Lücken in unseren eigenen Biographien zu forschen, als Individuen und als Kollektive.



Vgl. Narrative Rekonstruktion und Traumaverarbeitung
Rechtsterror braucht Geschichtstherapie
Die erzählte Geschichte und der Moment

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