Samstag, 5. August 2023

Perspektivenreichtum statt Güterreichtum

Geiz und Gier

Das Anhäufen und Einverleiben von Dingen ist das Ziel der Gier. Es gibt Dinge, die wir für die Erfüllung unserer Grundbedürfnisse brauchen, wie Nahrungsmittel, Kleidung, ein Dach über dem Kopf usw. Dann brauchen wir Dinge, die uns bei der Sicherung der Dinge helfen, die wir unbedingt brauchen, wie z.B. Geld. Und hier beginnt die Gier: Die Grundbedürfnisse sind bei vielen Menschen längst gesichert, aber die Unsicherheit besteht, ob das in Zukunft auch so sein wird. Also kommt der Drang, die sekundären Dinge anzuhäufen, die uns versprechen, dass es nie einen Mangel an primären Dingen gibt.

Ist die Unsicherheit einmal da und wird von der Gier gesteuert, so gibt es kein Limit nach oben, dessen Erreichung Sicherheit geben würde: Jede sekundäre Absicherung verlangt nach einer Absicherung der Absicherung usw. Die Gier will uns signalisieren, dass die einzige Garantie für Sicherheit darin liegt, bis ins Unendliche mehr und mehr materielle Güter anzuhäufen. Wir sollten uns nur mehr dafür anstrengen, sekundäre, tertiäre etc. Absicherungen für unsere Grundbedürfnisse unter Kontrolle zu bringen. Jedes Nachlassen in den Anstrengungen und im Zufluss an neuen Gütern verheißt Unsicherheit und damit die Gefährdung der Erfüllung unserer Grundbedürfnisse, eine Einsicht, deren Wurzel nur mehr im Unterbewusstsein gefunden werden kann. Denn Schicht um Schicht der Unsicherheitsbewältigung hat sich über den Kernbedürfnissen abgelagert, die längst schon in Sicherheit sind, ohne dass diese Botschaft zu Bewusstsein käme.

Die Gier wird vom Geiz unterstützt. Er sorgt dafür, dass wir von den angehäuften Dingen nichts hergeben. Er steht auch im Bann der Angst vor dem Verlust. Die Gier schaufelt neue Güter herbei und der Geiz hortet sie an sicherem Ort, muss aber immer darauf achten, dass niemand anderer an sie herankommt. Argwöhnisch und eifersüchtig wacht er darüber, dass nichts von den Schätzen wegkommt. Am besten bleiben sie geheim: Wenn niemand von ihnen weiß, ist die Gefahr gering, dass sie entwendet werden.
Die Gier saugt auf, der Geiz hält fest. Die Gier rafft, der Geiz hortet. Die Gier will anderen etwas wegnehmen, der Geiz will anderen nichts geben und sich vor deren Gier schützen. Auf die Verdauung übertragen: Die Gier führt zu Durchfall, wenn zu viel hineingeschlungen wird, der Geiz zur Verstopfung, weil jedes Hergeben mit Verunsicherung und Angst einhergeht.

Von den materiellein zu den immateriellen Gütern

Wenn es uns gelungen ist, die Dämonen der Gier und des Geizes zu bändigen, lösen wir uns von dem Zwang, Güter anzuhäufen, die uns eine scheinbare Sicherheit versprechen. Wir begeben uns zum Übergang von Quantität zu Qualität, von materiellen zu immateriellen Gütern. Hanzi Freinacht schreibt dazu: „Unsere frühere Besessenheit mit dem Ansammeln von Besitztümer und materiellem Wohlstand wird zunehmend durch eine Ansammlung von ‚erlebten Erfahrungen‘ ersetzt: Orte, an denen wir waren, Leute, die wir getroffen haben, Fähigkeiten, die wir erlernt haben, Speisen, die wir gekostet haben, Formen von Ereignissen, an denen wir teilgenommen haben, Lebensphasen, die wir überwunden haben.“ (Übers. W.E.)

Das, was im Text als das Frühere im Unterschied zum Jetzigen benannt wird, bezieht sich auf die materialistische Ebene des Bewusstseinsevolution nach meinem Modell; das Jetzige kann mit der personalistischen Stufe gleichgesetzt werden. Der nächste Schritt geht auf die systemische Stufe, die Hanzi Freinacht als metamodern bezeichnet. „Der metamoderne Geist sammelt Perspektiven; er preist sie, poliert sie, schätzt sie, bewundert sie. Das ist auch – in gewissem Sinn – eine blöde Form des Hortens. Es ist ein Horten, das von einer sanften Hand gehalten wird, mit einem ironischen Lächeln über das eigene Verhalten.“

Auf der Ebene, die ich systemisch nenne, gilt der Reichtum an Sichtweisen vor dem Hintergrund der Relativität und Diversität. Viele Perspektiven verstehen und nebeneinander bestehen lassen zu können, erfordert die Loslösung vom Rechthaben- und Belehrenwollen. Allerdings ist es nach wie vor wichtig, die Gültigkeit und Relevanz der jeweiligen Perspektiven zu berücksichtigen. Die Aussage von Frau Müller zum aktuellen Wetter nach dem Blick aus ihrem Fenster hat einen anderen Wert als die Messung einer wissenschaftlichen Wetterforschungsinstitution. Wir sammeln also Perspektiven mitsamt ihren Entstehungskontexten, sonst ist die Sammlung so wertlos wie eine Briefmarkenkollektion, in der die Marken nach Farben oder Größe sammelt sind.

Die Ästhetik des Schrumpfens, von der in einem früheren Beitrag die Rede war, bezieht sich nur auf materielle Güter, die aus den Ressourcen des Planeten hergestellt sind und diese sukzessive aufbrauchen. Immaterielle Güter öffnen einen Bereich des Reichtums, der ins Unendliche geht. Denn sie verlieren nicht an Wert, wenn sie geteilt und weitervermittelt werden, sondern erhöhen im Gesamten das, was als wertvoll erachtet wird. Es kommt also immer zu einem Wachstum bei der Verbreitung von Faktenwissen und Metawissen, das sogar exponentiell sein kann.

Vom Nutzen der vielen Perspektiven

Die Multi-Perspektivität ist deshalb so wichtig, weil sie unser Leben in verschiedener Hinsicht verbessert und erleichtert. Wenn wir in einer Situation über nur eine Möglichkeit verfügen, verlaufen wir uns schnell, weil diese Möglichkeit unter Umständen die ungünstigste oder unpassendste ist. Wir befinden uns in einer Tunnelperspektive. Mehr Möglichkeiten bedeuten, dass wir über einen weiteren Horizont verfügen und ein größeres Bild wahrnehmen können.

Die Vielzahl von Möglichkeiten erschreckt uns manchmal, wenn wir gerade nicht auf unsere Flexibilität vertrauen, sondern wenn wir unter Stress stehen und meinen, es gäbe nur einen und einzigen richtigen Weg. Wir befürchten, wir übersehen das Wahre und Wichtige, wenn wir eine Richtung wählen und uns notgedrungen eine andere damit verbauen. Entscheidungen sind immer riskant, ebenso wie jeder Verzicht auf das Festlegen. Unter Stress wollen wir jedes Risiko vermeiden und auf Nummer Sicherheit gehen, erzeugen aber gerade das Gegenteil, weil wir uns nicht die Zeit zum Abwägen verschiedener Blickpunkte geben, sondern aus alten Gewohnheiten heraus reagieren, die in den seltensten Fällen zur aktuellen Situation passen.

Freiheit in der Vielfalt

Unsere Freiheit ergreifen wir, wenn wir die Vielfalt der Perspektiven wertschätzen können, für die wir uns geöffnet haben. Sie erweitern unsere Innenwelt und geben uns mehr Zugänge zur äußeren Welt. Wir können mehr Farben in unsere Erlebenswelt bringen. Sie wird lebendiger, und wir werden lebendiger, wenn wir uns auf diese Vielfalt einlassen.

Sie eröffnet uns den Zugang zu Alternativen in der Lebensführung, z.B. was unsere Gesundheit betrifft, und sie erleichtert das soziale Leben, weil wir auf weniger Widerstände stoßen, wenn wir die Sichtweisen unserer Mitmenschen verstehen. In der Kommunikation gibt es immer verschiedene Sichtweisen, und wenn wir diese einfache Tatsache verstanden haben, fällt es uns leichter, durch die Tiefen und Untiefen der Zwischenmenschlichkeit zu surfen. Konflikte entstehen üblicherweise aus unterschiedlichen und widersprechenden Perspektiven, ohne dass die jeweils anderen verstanden werden, und sie lösen sich, wenn die Vielfalt der Perspektiven von allen Seiten wertgeschätzt werden kann.

Wir können besser mit den Herausforderungen umgehen, die uns die sich ständig verändernden Vorgänge in der Außenwelt auftischen. Jede neue Situation erfordert neue Sichtweisen, aus denen dann Formen des Herangehens gebildet werden. Mit jeder Perspektive, die wir verstanden und angenommen haben, verfügen wir über eine Handlungsmöglichkeit mehr, die wir bei Bedarf einsetzen können.

Komplexitätskompetenz

Unweigerlich wird die Welt, in der wir leben, immer komplexer. Wir können mit dieser Komplexität nur umgehen, wenn wir über möglichst viele Perspektiven verfügen. Viele Menschen schrecken vor Komplexität zurück und greifen in ihren Reaktionen auf alte Sichtweisen zurück, die oft bewirken, dass sich die erwarteten Effekte ins Gegenteil verkehren. Wenn z.B. in Hinblick auf den Klimawandel nur die Perspektive besteht, dass alles, was Wissenschaftler sagen, erlogen ist, oder dass andere ihr Leben ändern sollen und man selber schon alles Notwendige gemacht hat, wird der Klimazerstörung weitergehen und noch mehr Schäden hervorrufen.

Komplexitätsverweigerung oder Komplexitätsinkompetenz sind Haltungen, die oft bewusst gegen die Zunahme an Komplexität in Stellung gebracht werden, so als könnte man sie dadurch verhindern oder zumindest bremsen. Tatsächlich geht es dabei um Versuche, Primitivität und Naivität aufrechtzuerhalten, damit die Verhältnisse einfach und überschaubar bleiben. Doch richten sich die Verhältnisse nicht nach den Ängsten und kindlichen Bedürfnissen der Menschen, sondern bauen alles, was geschieht, einschließlich aller Formen von Widerstand, in das Weiterschreiten der Komplexität ein.

Das Wachstum an Komplexität kann also nicht durch irgendeine Form von Protest, Verweigerung oder Widerstand verhindert werden. Solange sich Menschen fortpflanzen, werden mit jedem neuen Menschenkind neue Perspektiven geboren, die die Welt komplexer machen. Der Hund kläfft und die Karawane zieht weiter. Wenn wir mit der Karawane in die Zukunft wandern wollen, brauchen wir die Offenheit für Neues und die Bereitschaft für das Risiko der Entscheidung. Statt uns in überholte Perspektiven einzumauern und maulend hinter der Entwicklung der Welt zurückzubleiben, erweitern wir unsere Freiheitsräume, indem wir neue Perspektiven erwerben und nutzen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen