Freitag, 7. Juli 2023

Schicksal und Verantwortung

„Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die sich ändern lassen, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.“ Dieses bekannte Zitat des Theologen Reinhold Niebuhr beschreibt das Verhältnis von Schicksal und Verantwortung. Es gibt eine wichtige Grenze zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren, zwischen dem, was wir mit unseren Kräften beeinflussen und gestalten können, und dem, das unserer Macht entzogen ist. Wir sind für vieles in unserem Leben verantwortlich, während anderes ohne unser Wollen oder Zutun in unser Leben eingreift.

Nehmen wir das Beispiel Krankheit. Es liegt in unserer Verantwortung, unser Leben so zu gestalten, dass es unserer Gesundheit am zuträglichsten ist. Das gelingt uns mehr oder weniger, erfordert oft Disziplin und steht manchmal in einer Spannung mit dem Bestreben nach Lebensgenuss. Wenn wir erkranken, können wir uns fragen, ob wir die Verantwortung für unsere Gesundheit nicht genügend wahrgenommen haben. Um künftigen Krankheiten vorzubeugen, können wir beschließen, unser Verhalten zu verändern, z.B. indem wir uns gesünder ernähren, mit dem Rauchen aufhören oder weniger Alkohol trinken usw. Es ist aber selten so, dass wir eine klare Ursache-Wirkungsbeziehung feststellen können. Denn selbst wenn wir uns unvernünftig verhalten, müssen wir nicht unbedingt krank werden, und wir können erkranken, auch wenn wir uns vernünftig verhalten. Es gibt Menschen, die zu einem hohen Grad so leben, wie wir es gemeinhin als gesund verstehen, aber dennoch plötzlich schwer erkranken, während andere nach vielerlei Maßstäben äußerst ungesund leben und dennoch nie krank werden. Die Frage kann dann auftauchen: Warum gerade ich? Wieso nicht die anderen? An diesem Punkt beginnen wir mit dem Schicksal zu hadern, also mit dem, was wir uns nicht erklären können.

Häufig erleben wir Schicksalsschläge als Ungerechtigkeiten. Warum werde ich mit dieser Krankheit belastet, wo ich doch so ein guter Mensch bin? Oder aber gerade im Gegenteil empfinden wir das Schicksal als Ausdruck der Gerechtigkeit: Eben weil ich kein guter Mensch bin, geschieht es mir recht, dass ich das Opfer eines Verbrechens wurde.

Oder, wenn uns eine Serie von Unglücksfällen betrifft, kommt die resignative Reaktion: „Mir bleibt auch nichts erspart in dieser Welt.“ – angeblich der Kommentar von Kaiser Franz Joseph auf die Nachricht von der Ermordung seiner Frau.  Gegen die Übermacht des Schicksals ist kein Kraut gewachsen und selbst ein Kaiser machtlos.

Allmachtsdenken

Es gibt im Bereich der Esoterik Glaubensansätze zur Überwindung der Macht des Schicksals. Dabei wird der Bereich der Verantwortung ins Unendliche ausgeweitet. Das Unerbittliche des Schicksals schüchtert ein, macht Angst und lässt uns ohnmächtig und klein erscheinen. Deshalb wird es als hilfreich und stärkend erfahren, wenn auch solche Erfahrungen in die Sphäre der eigenen Verantwortung eingebaut werden. Scheinbar wirkt es wie eine erwachsene Haltung, die keine Ausreden auf höhere Einflüsse braucht und alles in Kontrolle hat. Dann heißt es: Du bist der Schöpfer/die Schöpferin deines eigene Schicksals. Alles, was dir in deinem Leben zustößt, ist das Resultat deiner Entscheidungen, der bewussten oder der unbewussten. Du trägst also für alles, was du erlebst, die Verantwortung.

Was auf den ersten Blick wie eine Selbstermächtigung ausschaut (für alles wird die Verantwortung übernommen, es gelten keine Ausreden mehr und die Gestaltungsmacht auf das eigene Leben mittels Gedankenkraft ist nahezu unbegrenzt), führt in der Praxis zur maßlosen Selbstüberforderung und entlarvt sich als Ausfluss einer anmaßenden Haltung. Es ist nicht möglich, die Ansprüche, die mit der Übernahme dieser Verantwortung verbunden sind, einzulösen. Denn so viele Bereiche der Wirklichkeit sind unserem Einfluss entzogen, und das beginnt schon beim eigenen Unbewussten, von all dem, das dem Schicksal vorbehalten ist, gar nicht zu reden. Wird das Konzept beibehalten, obwohl immer wieder zum Versagen führt, sind massive Schamgefühle die Folge. All die negativen oder ungewollten Lebensereignisse sind dann allesamt Eigenkreationen, und erst recht wird die Gewissensbelastung ungeheuerlich, wenn sich der Horizont auf die ganze Menschheit ausweitet. Denn wenn alles, was im Leben geschieht, selbst erschaffen und verantwortet ist, gilt das für alles Gute und für alles Schlimme.

Solche Modelle verfangen nur dann, wenn die Scham vor dem Schicksal herrscht. Es kann doch nicht sein, dass uns im Leben Ereignisse zustoßen, denen wir ohnmächtig und hilflos ausgeliefert sind. Es muss eine Möglichkeit geben, auch über solche Erfahrungen die Kontrolle zu erlangen. Sonst wäre unsere Existenz beschämend klein und beschränkt. Das widerspräche der Selbstachtung.

Verantwortungsübernahme: Lernen und Wachsen mit dem Schicksal

All diese Reaktionsweisen sind menschlich, aber helfen uns nicht dabei, mit dem Schicksal konstruktiv umzugehen. Vielmehr wollen wir in Abläufe eingreifen und sie nach unserem Gutdünken gestalten, über die wir keine Macht haben. Wir wollen uns zu den Beherrschern unseres Schicksals machen, vor allem dort, wo es uns unangenehme Erfahrungen beschert. Statt die Verantwortung dafür zu übernehmen, wie wir auf Schicksalsschläge reagieren, klagen wir das Schicksal an und wollen uns zu Richtern aufspielen, die nach dem eigenen Gutdünken entscheiden. Oder wir ordnen uns dem Wirken der Schicksalsmächte willenlos unter und verkriechen uns in fatalistischer Resignation. Mit dieser Einstellung verleihen wir dem Schicksal über seine geheimnisvolle Macht hinaus noch mehr an dämonischer Gewalt und rechtfertigen damit, dass wir uns mit Jammern und Wehklagen in der Ohnmacht versenken.

Unsere Einflussnahme beginnt aber genau dort, wo das Schicksal in unsere Erlebensrealität eintritt. In diesem Moment entscheiden wir, ob wir uns dem Fatalen stellen, um es mit seinem Konsequenzen zu bewältigen, oder ob wir klein beigeben und hadern und jammern. Das Annehmen und Nutzen unserer Handlungsmöglichkeiten bringt uns zurück in unsere Verantwortung. Wir werden wieder zu den Gestaltern unseres Lebens, die den Kurs im tosenden Meer mit seinem Auf und Ab steuern. Wir müssen den Wellengang so hinnehmen wie er ist und unsere Aktionen an ihn anpassen. Wir können dabei den Naturgewalten unsere Kräfte entgegensetzen und in ein Spiel eintreten, in dem wir unsere Fähigkeiten unter Beweis stellen können.

Mit jeder Übernahme der Verantwortung nach einem Schicksalsschlag gewinnen wir mehr Schicksalskompetenz dazu und wachsen in Weisheit und Gelassenheit. Wir erkennen deutlicher die Grenzen zwischen dem Kontrollierbaren und dem Nicht-Kontrollierbaren und können so das in unserem Leben zum Besseren wenden, das unter unserem Einfluss steht, und das in Demut akzeptieren, was einer höheren Regie unterliegt.

Zum Weiterlesen:

Die Macht des Schicksals und ihre Grenzen
Unser Schicksal annehmen

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