Samstag, 10. September 2022

Scham und spirituelles Wachstum

Reaktive und proaktive Schamgefühle

Wir kennen Schamgefühle, die uns im Gewohnten festhalten und zur Anpassung bringen wollen, und andere, die uns zu unserer Freiheit verhelfen wollen. Wir können die einen als reaktive und die anderen als proaktive Schamformen bezeichnen, denn die ersteren sind Nachwirkungen von Beschämungen, die wir in früheren Zeiten erlitten haben, während die zweiteren Entwicklungsherausforderungen repräsentieren. 

Leben bedeutet Wachstum, in Komplexität und Kompetenzen, hin zu mehr Freiheit und Bindungsfähigkeit. Die zugehörigen Schamformen machen uns darauf aufmerksam, dass wir uns diesen Herausforderungen stellen. Wenn wir vor ihnen zurückweichen, ihnen aus dem Weg gehen oder sie ignorieren, schämen wir uns. Ein Beispiel:  Wir werden eingeladen, einen Vortrag zu halten, sagen aber unter einem Vorwand ab, während wir in Wirklichkeit Angst haben, das Publikum zu enttäuschen. Wir schämen uns für unsere Feigheit. Die Scham meldet sich also überall dort, wo wir nicht genug Mut aufbringen, um das zu tun, was zu tun wäre.

Es ist diese Schamform, die uns bis an die Schwelle der Spiritualität begleitet, jener Sphäre, in der es um das Absolute geht. Sie meldet sich, wenn wir in unserem Denken und Handeln nicht im Einklang mit unseren eigenen Werten und Zielen sind. Sie liefert allerdings keine Maßstäbe oder Orientierungshilfen, sie signalisiert nur, dass wir uns selbst untreu geworden sind. 

Das Ego und die Scham

Die Scham zeigt uns damit auch auf, wenn wir in unserer Unbewusstheit aus unserem Ego heraus agieren. Solange wir unser Ego dominieren lassen, können wir unser menschliches Potenzial nur beschränkt ausüben. Und jede Beschränkung unserer Menschlichkeit geht mit einem Schamgefühl einher. Insofern motiviert uns die Scham, über die Grenzen, die uns unser Ego vorgibt, hinauszugehen. Sie macht es uns unbehaglich innerhalb unserer Muster und Gewohnheiten, unserer Unbewusstheiten und Lieblosigkeiten. 

Zwar sind auch Schamgefühle daran schuld, dass wir immer wieder in Tätigkeiten abgleiten, von denen wir eigentlich wissen, dass sie uns und unserer Entwicklung schaden. Aber das sind reaktive Schamprägungen, die aus unserer Erziehung stammen, in der wir Erfahrungen mit dem Beschämtwerden erlebt haben. Es ist also eine toxische Scham, die uns in unseren Mustern festhält und das innere Wachsen hemmt, während uns die proaktive Scham aus diesen Mustern befreien will. 

Zwei Schamimpulse in Spannung

So stehen wir in einem Spannungsfeld dieser beiden Schamformen und ihren Impulsen. Die eine will uns in unseren festgefügten Strukturen festhalten, die andere will uns weiterführen zu mehr Öffnung und Freiheit. Die eine steht im Dienst des Egos, die andere spürt seine Ränke und will uns von ihnen befreien. Die Macht der alten Schamgefühle können wir nur brechen, wenn wir sie und ihren Ursprung verstehen. Sie beruhen auf unbedachten Äußerungen und Reaktionen der Eltern in der Kindheit. Wir brauchen sie nicht mehr in unserem Leben. Sie hindern uns am Weiterkommen als Menschen, vor allem auch in der spirituellen Suche.

Allerdings müssen wir damit rechnen, dass das Ego Meister im Verhindern des inneren Wachsens und natürlich auch in der Schamverdrängung ist. Es sucht und findet immer wieder Schlupflöcher, um dem unangenehmen Schamgefühl, das an seiner Macht nagt, ein Schnippchen zu schlagen. Denn es „weiß“, dass es durch die Scham, die sich für das Wachsen einsetzt,  in seiner Selbstverständlichkeit in Frage gestellt wird. Deshalb wird es Schamgefühle der hinderlichen Art wachrufen, die es in seiner Bedeutung bestätigen. All die selbstabwertenden Sätze, die in der einen oder anderen Form in unseren Köpfen herumspuken, wie: „Ich bin nicht gut genug“, „ich verdiene keine Liebe und kein Glück“, „andere machen alles besser“ usw., tragen diese Schamform in sich. Und sie alle haben ihren Platz in den verwinkelten Gängen des Egos.

Wachsen in Bewusstheit heißt, diese Querschüsse des Egos frühzeitig zu erkennen und ihrer Wirksamkeit berauben, bevor sie sich im Gefühls- und Denkbereich ausbreiten. Alle Gefühle, die alten Ursprungs sind, alle Gedankenmuster, die aus diesen Gefühlen gespeist sind, halten der Bewusstheit nicht stand. Denn sie führt uns in den gegenwärtigen Moment, in dem alles anders ist als es in der Vergangenheit war und in der deshalb die alten Gefühle keine Wichtigkeit mehr haben und die Glaubenssätze zu leeren Formeln verblassen.

Zwischen Hochmut und falscher Bescheidenheit

Die proaktive Scham, die uns auf die Notwendigkeit unseres Wachstums hinweist, hilft uns, unseren Kurs zwischen Hochmut und falscher Bescheidenheit zu finden. Sie bewahrt uns vor Selbstüberschätzung und Größenfantasien, aber auch vor der versteckten Vermessenheit, die eigenen Talente und Gaben an die Welt zu verstecken, unter dem Vorwand der Bescheidenheit oder der fehlenden Kompetenz. Der Welt die eigenen Ideen und Werke vorzuenthalten, ist ähnlich selbstbesessen wie die Prahlerei mit den eigenen Errungenschaften. Denn diese Haltung ignoriert, was uns gegeben wurde, damit wir es weitergeben, und hält diese Gaben und Dienste unter dem Vorwand von Ängsten und Selbstabwertungen in Geiselhaft.

Nehmen wir ein Beispiel: Wir können auf unsere eigenen Leistungen stolz sein. Wir haben unseren „inneren Schweinehund“ überwunden und sind trotz Schlechtwetter eine Runde spazieren gegangen. Unser Hochmut schreibt uns diese Errungenschaft zur Gänze selber zu. Die Scham macht uns darauf aufmerksam, dass wir nicht alle Faktoren in der Hand haben, die dabei mitwirken, dass wir überhaupt handlungsfähig sind und eigene Muster ändern können, dass wir also immer über die Begrenzungen, die uns das Ego vorgibt, hinausgehen können. Wenn wir aber den Stolz gänzlich ignorieren und unsere Selbstüberwindung nicht würdigen, dann schwächen wir unseren Selbstwert und merken die inneren Kräfte nicht, die an unserem Wachstum und an unserer Weiterentwicklung arbeiten.

Wenn wir hingegen den Impulsen der Wachstumsscham folgen und sie mutig hinter uns lassen, dann öffnet sich die Welt der inneren Freiheit, eine Welt des Wunderns und des Staunens, der wir nur mit Demut und Dankbarkeit begegnen können, um uns an ihr zu laben.

Zum Weiterlesen:
Reaktive und kreative Lebensorientierung
Das Ego und seine Wurzeln


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