Montag, 26. September 2022

Der Mythos vom verlorenen Glück

Es gibt den Mythos, dass die tribalen Gesellschaften, also die präzivilisatorischen Naturvölker ein „besseres“ Leben hatten als wir heute. Die Menschen hatten mehr Freizeit, entspannte Beziehungen und eine liebevolles Verhältnis zu den Kindern. Sie waren frei von den Belastungen und Problemen, die das moderne Leben kennzeichnen: Kein Stress, keine Gier, kein Geiz, also ein unbeschwertes Leben mitten in der Natur. 

Im Zug der Entdeckungs- und Eroberungsexpeditionen im 15. und 16. Jahrhundert kamen die Europäer in Kontakt mit Stammesgesellschaften. Zunächst galt das Hauptaugenmerk der Missionierung – die gottlosen Heiden sollten zum Christentum bekehrt werden. Bald wurde auch der „edle Wilde“ als Gemeinplatz der Zivilisationskritik salonfähig: Die verkommenen und dekadenten Sitten der in Luxus und Verschwendung lebenden adeligen Oberschichten wurden z.B. bei Jean-Jacques Rousseau einer unverdorbenen Naturverbundenheit und Ursprünglichkeit von „Eingeborenen“ entgegengestellt. Das glorreiche Duo von weißem Supermann und edlem wilden Indianerhäuptling prägt auch die Karl-May-Romantik, die Hauptlektüre vieler Generationen in den deutschsprechenden Ländern. 

In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sorgte Jean Liedloff mit ihrem Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück (1980) (Original: The Continuum Concept, 1975) für eine neue Welle dieser Romantik. Liedloff hatte mehrere Jahre bei den Yequana in Venezuela verbracht und dort erkannt, dass der permanente Körperkontakt zwischen Mutter und Kind in den ersten Jahren entscheidend ist für das emotional und physisch gesunde Aufwachsen der Kinder. Außerdem plädierte sie für einen Stillrhythmus, der vom Kind und nicht von vorgegebenen Zeitplänen diktiert wird. Die aufwachsenden Kinder haben viele Vorbilder unter den Erwachsenen, mit denen sie zusammenleben, und lernen auf diese Weise, was sie fürs Leben brauchen. 

Liedloff unterschied zwischen evolvierenden Gesellschaften, die sich an die angeborenen Bedürfnisse der Menschen anpassen, und zivilisierten Gesellschaften, die von den Kindern ohne Rücksicht auf überlieferte Kenntnisse laufend neue Anpassungsleistungen einfordern. Wieder steht eine ideale Lebensform bei indigenen Völkern verkommenen Gesellschaftsformen gegenüber, die das Glück verloren haben. Verschiedene Autoren haben Liedloff vorgeworfen, die von ihr beschriebene Stammeskultur zu idealisieren und in ein simples Schwarz-Weiß-Schema einzubauen. Dabei habe sie auch Gewaltelemente in der Yequana-Kultur übersehen.

Gewalt bei Naturvölkern

In nicht allzu ferner Vergangenheit war die Familie in den meisten Fällen ein Ort von selbstverständlicher Gewalt. Die Einsicht, dass Gewalt gegen Kinder unmoralisch und auch für deren Entwicklung schädlich ist, ist relativ jung und stellt eine große Errungenschaft in der Bewusstseinsentwicklung dar. Gewalt gegen Kinder wurde in faktisch allen Kulturen sowohl theoretisch als auch in der Realität gerechtfertigt und als notwendig erachtet. 

Die entsprechenden Praktiken waren auch bei indigenen Völkern weit verbreitet, was dem Mythos von den glücklichen Stammeskulturen widerspricht. Zum Beispiel starben bei den Yanomano-Stämmen (die in Nachbarschaft zu den Yequanas leben) 43 % der Mädchen im ersten Lebensjahr, davon ca. die Hälfte durch Kindstötung. Ähnliche Praktiken berichtete Margaret Mead aus Neu-Guinea: Die Leute würden ständig ihre Babys wegschmeißen. Neugeborene wurden an den Fluss gebracht und ihre Lippen mit Wasser befeuchtet. Ein Kind, das das Wasser nicht annehmen wollte, wurde weggeworfen. In vielen Stammeskulturen gibt es grausame Initiationsriten, in denen z.B. den Jugendlichen die Frontzähne gefeilt werden, Zähne herausgeschlagen werden oder die Genitalien verstümmelt werden. Der französische Ethnologe Pierre Clastres schreibt: „In den primitiven Gesellschaften ist die Folter das Wesentliche des Initiationsrituals.“ Sexueller Missbrauch von Kindern war in vielen Gesellschaften Teil der Kultur, z.B. im alten Griechenland, wo die Jungen für die sexuellen Bedürfnisse der älteren Männer zur Verfügung stehen mussten. 

Untersuchungen haben ergeben, dass bei den Maori in Neuseeland, bei den Aborigines in Australien sowie bei den Indigenen in Nordamerika (USA und Kanada) das Ausmaß an körperliche Gewalt der Eltern gegen die Kinder sowie zwischen den Eltern weit stärker ist als bei der Vergleichsbevölkerung. Es gibt viele Befunde, die darauf hinweisen, dass in früheren Gesellschaften, gleich ob mehr oder weniger entwickelt, das Ausmaß an häuslicher Gewalt, das die Kinder betroffen hat, weit höher war und erst durch den zivilisatorischen Fortschritt sowie durch die damit verbundenen wirtschaftlichen Veränderungen zurückgedrängt wurde. Nicht-staatliche Gesellschaften zeigen insgesamt ein höheres Niveau an gewaltvollen Todesursachen. Während etwa die Mordrate in Österreich bei 0,7 (pro 100 000) liegt, beträgt sie im Schnitt von 93 untersuchten traditionellen Gesellschaften 182,9. 

Der Rückschluss scheint berechtigt: Gewalt wird ausgeübt, weil Gewalt erlebt wurde. Täter sind ehemalige Opfer. Diese Dynamik dürfte bei indigenen Gruppen besonders stark wirksam sein, während in staatlich organisierten Gesellschaften die Gewaltausübung in vielen Bereichen unter Strafe gestellt wurde – lange Zeit allerdings nicht die häusliche Gewalt und damit die Gewalt gegen Kinder.

Die Verklärung indigener Kulturen und die pränatale Regression

Warum neigen wir dazu, einfachere Lebensformen zu idealisieren und sie wieder herbeizuwünschen? Wir wissen, dass diese Lebensformen gravierende Schattenseiten haben. Aus der Sicht der pränatalen Psychologie steckt hinter der „Suche nach dem verlorenen Glück“ die Sehnsucht, aus den Widrigkeiten des erwachsenen Lebens in die Geborgenheit des Mutterleibs flüchten zu können. Eine „unverdorbene“ oder „unschuldige“ Welt, in der das Glück selbstverständlich ist. Es gibt sie in der Rückprojektion, in der Ausflucht aus der Gegenwart in eine als heil konstruierte Vergangenheit. Es handelt sich dabei um einen dissoziativen Vorgang, also um eine Abspaltung von der aktuellen Erfahrungswelt.

Dieser psychische Mechanismus wird genutzt, wenn wir indigene Völker und ihre Lebensweisen verklären. Der schlechten modernen und westlichen Lebensweise wird ein scheinbar intaktes und glücksverheißendes Stammesleben gegenübergestellt. Wir kennen diesen Kontrast aus unserer eigenen Entwicklung; wir neigen allerdings auch hier besonders dann zur Verklärung der Vergangenheit, wenn sie besonders belastet war. Viele Menschen beschreiben ihre Kindheit als „glücklich“, und können sich an nichts mehr erinnern. Das ist ein Anzeichen dafür, dass es sich um eine Wunschfantasie handelt, mit der sich die Psyche vor Erinnerungen an dunkle und schwere Zeiten in der Kindheit schützen will.

Fortschritte in der Menschlichkeit

Die Impulse von Liedloff haben neben den Konzepten der sanften Geburt nach Leboyer und Odent und den Forschungen zur Bindungstheorie viele Einstellungen in Bezug auf Geburt und frühe Kindheit in der westlichen Kultur verändert. Eltern achten mehr darauf, ihren Babys ausreichenden Körperkontakt zu geben und auf ihre Rhythmen bei Ernährung und Schlaf zu achten. Die Konzepte der strengen oder schwarzen Pädagogik, die auch im Nationalsozialismus propagiert wurden, haben an Einfluss verloren, während gewaltbefreite und bedürfnisorientierte Umgangsformen mit den Kindern mehr und mehr zum Standard werden. 

Hier sind wichtige Erkenntnisse aus der Psychologie und eben auch aus der Ethnologie und Kulturanthropologie zusammengeflossen und haben neue Einstellungen hervorgebracht. Manchmal berichten Klienten in der Therapie, dass sie als Kinder geschlagen wurden und dass solche Praktiken gerechtfertigt gewesen wären. Aber ihre eigenen Kinder würden sie nie so behandeln.

Kindern wird heutzutage in unseren Breiten von Anfang an mehr Achtung und Respekt entgegengebracht und sie werden mehr in ihrer Eigenentwicklung gefördert, statt sie vordringlich an Erwartungen und Normen anzupassen. Diese Entwicklung hat auch damit zu tun, dass Kinder in der modernen Zivilisation mehr als eigene Individuen gesehen werden. Nachdem es keine vorgegebenen Lebensentwürfe mehr gibt, die z.B. festlegen, dass der erstgeborene Sohn den Hof oder den Handwerksbetrieb übernimmt und entsprechend sozialisiert werden muss, können und müssen die Kinder freier aufwachsen, indem sie ihre Fähigkeiten und Talente entwickeln, mit denen sie dann die Herausforderungen des Erwachsenenlebens meistern können. Kinder sind damit in schwächerem Ausmaß belastet von Rollenerwartungen und haben mehr Spielräume für die Eigenentfaltung und Kreativität, die sie in einer Gesellschaft brauchen, die sich schnell verändert.

Bei diesen Tendenzen handelt es sich um ein Zusammenspiel von individuell gewonnenen Einsichten und gesellschaftlichen Trends, die wiederum von ökonomischen Veränderungen beeinflusst sind. Damit ist es zu einem weitreichenden Bruch mit alten Erziehungsgewohnheiten gekommen, die von Generation zu Generation weiter gegeben wurden und die wir heute in ihrer Dysfunktionalität und Zerstörungskraft verstanden haben.

Die Geschichte der Kindheit enthält viel Grausamkeit und Unmenschlichkeit. Die Beschäftigung mit ihr lehrt uns aber auch, dass wir in einer neuen Epoche leben, in der die Integrität der Kinder mehr geschützt und geachtet wird als je zuvor. Es ist die Epoche des Respekts und der Wertschätzung unserer schwächsten und verletzbarsten Mitmenschen. Diese Epoche ist noch lange nicht auf der ganzen Welt angekommen: Denn weltweit wird die Mehrheit der Kinder regelmäßig von ihren Eltern geschlagen. Doch mehr und mehr Eltern erkennen, was sie ihren Kindern und sich selber antun, wenn sie das Kostbarste, das sie haben, misshandeln. Diese Entwicklung können wir unterstützen, und wir leisten damit einen wichtigen Beitrag, dass unsere Welt menschlicher wird.

Es gibt keine ideale Zeit in der Menschheitsgeschichte und es gibt keine ideale Kindheit. Aber es gibt eine deutlich sichtbare und auch empirisch nachweisbare Entwicklung, die es ermöglicht, dass die Kindheit für mehr und mehr Kinder eine Zeit des spielerischen Lernens und Erkundens der Welt ist, in der sie die Rahmenbedingungen zur Verfügung gestellt bekommen, dass sie zu mitfühlenden und emotional stabilen Menschen werden können.

Literatur:
Sven Fuchs: Die Kindheit ist politisch! Mattes Verlag 2019
Steven Pinker: Gewalt. Fischer Verlag 2011


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