Dienstag, 20. September 2022

Ich bin, wie ich bin, sagt die Selbstliebe

Im vorigen Blogartikel war die Rede von der Spaltung zwischen Selbst und Wirklichkeit, die entsteht, wenn wir das, was ist, ablehnen und uns dagegen stellen. Eine andere, ebenfalls sehr weit verbreitete Variante des Auseinanderklaffens zwischen dem Selbst und der Wirklichkeit ereignet sich in Bezug auf eine ganz besondere Wirklichkeit, nämlich die des eigenen Inneren. Wir geben uns selbst die Schuld für irgendein Misslingen, genauer gesagt, einem bestimmten Teil von uns, z.B. unserer kommunikativen Unfähigkeit oder einer anderen Mangelhaftigkeit.

Weil ich nicht gut beschreiben kann, was meine Symptome sind, kann mir kein Arzt helfen. Weil ich mich nirgends auskenne, komme ich nicht weiter und bin immer auf Hilfe angewiesen. Weil ich zu blöd bin, habe ich schon wieder einen Fehler gemacht und muss die Arbeit doppelt machen.

Für alles oder vieles, was nicht so klappt, wie es klappen sollte, geben wir uns selber die Schuld. Natürlich sind es wir selber, die immer wieder einen Unsinn anstellen, die vergesslich sind oder Sachen mangelhaft erledigen, und in solchen Fällen liegen auch die Schuld und die Verantwortung bei uns. Wenn wir uns aber darüber hinaus eine Verantwortung für Abläufe zuschreiben, die wir selber nicht in der Hand haben, überspannen wir den Bogen und schaffen einen inneren Konflikt. Wir arbeiten gegen uns selbst, oder: Unser Selbst arbeitet gegen die Wirklichkeit in uns, die sich nicht an unsere ausgedachten Erwartungen und Ideale hält, sondern ihre eigenen Orientierungen hat, die uns gar nicht bekannt sind. Sie stammen aus dem Unterbewusstsein, von dem die meisten Prozesse gesteuert werden, die unser tägliches Leben bestimmen. 

Jeder Selbstvorwurf, der sich in uns meldet, bietet einen Hinweis auf solche unbewussten Antriebe oder Widerstände, die uns in Fehlleistungen und anderen schwächen Momenten auffallen. Statt aber zu schauen, welche Impulse hinter diesen Fehlerhaftigkeiten stecken, neigen wir dazu, uns selbst anzuklagen und erschaffen damit einen inneren Konflikt, der unsere Stimmung belastet und unser Handeln lähmt. 

Vom Verhalten zur Person

Erst recht spalten wir uns von uns selber ab, wenn wir von einzelnen Fehlleistungen auf uns als Person zurückschließen. Wir verallgemeinern unzulässig, indem wir von Einzelnem auf die Ganzheit unserer Person schließen. Wir vertiefen den Riss in uns, der zwischen unserem Selbst und unserem Verhalten entstanden ist, indem wir unser Selbst mit unserem Tun oder Nichttun gleichsetzen. Wir sind zugleich unser strengster Richter und der zerknirschte Angeklagte, dem immer wieder Fehltritte unterlaufen, die mit peinlicher Genauigkeit in einem Vorvergehensregister abgespeichert sind. Manchmal produziert deshalb unser Verstand bei solchen Gelegenheiten gleich eine ganze Litanei aus alten Fehlern, Irrtümern und Unüberlegtheiten.

Es ist psycho-logisch, dass wir solche Manöver verinnerlicht haben, weil wir immer wieder von außen Opfer dieser Prozedur wurden: Jede Kritik, die unser Verhalten und Tun mit unserer Person vermengt hat, schafft einen inneren Zwiespalt, der offen bleibt, solange wir die Unrechtmäßigkeit und Unverhältnismäßigkeit nicht verstehen, solange wir also noch klein sind. Wir haben vielleicht Sätze gehört wie: „Du hast schon wieder einen Fehler gemacht, du bist ein Versager.“ „Du kannst das noch immer nicht, aus dir wird nie etwas werden.“ Wir verinnerlichen diese Abwertungen und wenden sie gegen uns selbst: „Ich bin eben ein Versager.“ „Ich bin eben unfähig.“ Wir haben die Autoritätsinstanz, die uns in früheren Zeiten beurteilt hat, in unserem Inneren sesshaft gemacht und bringen sie gegen uns selber in Stellung. Im Grund wollen wir vor uns selber das brav gemachte Kind sein, das von seinen Eltern die Anerkennung dafür bekommt, dass es sich endlich ihren Erwartungen gemäß verhält oder zumindest reumütig zeigt, wenn es die Wünsche und Bedürfnisse der anderen nicht erfüllt. Wir sagen zu uns: „Immer wenn ich wieder einmal die Erwartungen enttäusche, kritisiere ich mich dafür, um endlich der Mensch zu werden, der Anerkennung und Wertschätzung verdient. 

Selbstkritik ist aber eine schlechte Basis für Selbstanerkennung. Denn Selbstvorwürfe nagen am Selbstwert und Selbstverurteilungen schädigen die Selbstbeziehung und erzeugen eine innere Schieflage: Der selbstschädigende Teil wird gestärkt, der lebenswillige und gesunde Teil wird geschwächt. Die Verletzungsgeschichte mit ihrem langen Sündenregister wird vertieft, während die Heilungsgeschichte mit ihren vielen Erfolgen und Verbesserungen verblasst.

Die Heilung liegt im Selbstverzeihen. Wir sind eben nicht vollkommen, und unser Tun ist immer wieder mal eine Mischung zwischen bewussten Absichten und unbewussten Gegenabsichten. Wir üben uns in der Barmherzigkeit und Empathie mit uns selber. 

Wenn wir wieder in Einklang mit uns selber kommen, würde die Formel, abgewandelt nach Erich Fried, lauten: „Ich bin, wie ich bin – sagt die Selbstliebe“. 

Zum Weiterlesen:
Es ist, was es ist


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