Donnerstag, 11. März 2021

Wenn aus Beziehung Markt wird

In einem Artikel in der “Zeit” wird ein Experiment aus Israel geschildert. Eltern, die ihre Kinder verspätet vom Kindergarten abholt, wurden von den Betreuern missbilligend empfangen. Im Experiment wurden Strafzahlungen für das verspätete Abholen eingeführt, mit der Erwartung, dass die Eltern nunmehr pünktlicher beim Abholen sein würden. Doch das Gegenteil war der Fall: Es kam zu viel mehr Verspätungen. Und hier die Erklärung: Vorher war die Situation als soziale Abmachung wahrgenommen worden und die Eltern schämten sich, wenn sie die Betreuer zusätzlich belasteten. “Mit dem Geld kam die Möglichkeit ins Spiel, sich die längere Betreuung zu erkaufen. Die Scham wich dem Anspruchsdenken. Aus einer zwischenmenschlichen war eine finanzielle Frage geworden, aus Beziehung wurde Markt.” 

Immer mehr von dem, was es auf der Welt gibt, wird käuflich. Damit sind nicht nur Dinge gemeint, sondern auch soziale Beziehungen. Das ist der unerbittliche Zug des Kapitalismus. Wir sind schon längst alle auf ihn aufgesprungen, weil er uns das Leben vereinfacht und vordergründige Sorgen abnimmt. Dieser Prozess verläuft schleichend. Der Verlust an Zwischenmenschlichkeit, der sich unterschwellig vermehrt, wird uns dabei gar nicht oder nur an Symptomen spürbar, die wir dann oft nicht verstehen können. 

Im Mittelalter waren die Besitzverhältnisse auf Grund und Boden, d.h. die Quellen von Reichtum und Wohlstand, auf Beziehungen begründet. Jeder Teil des Landes gehörte einer Person, die sie an andere weiterverlieh oder verpachtete. Ein Netz aus persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen regelte die Besitztümer und die sozialen Verhältnisse. Jeder wusste, wem er in welcher Weise verpflichtet war, von wem er sich Hilfe und Beistand erwarten konnte und wem er selber Hilfe und Beistand gewähren musste.  

Mit dem Siegeszug des Kapitalismus seit dem Ende des Mittelalters wurden all diese persönlichen Abhängigkeitsbeziehungen schrittweise durch Geldbeziehungen abgelöst. Heute ist jedes Fleckchen Erde käuflich und verfügt über einen Geldwert, der über den Markt reguliert wird.  

Das ist nur ein Beispiel, wie die Marktbeziehungen zwischenmenschlichen Beziehungen ersetzen. Ein anderes, das in unseren Tagen immer wichtiger wird, sind die Pflegedienste. Bei Krankheiten und im Alter waren früher allein die Angehörigen zuständig für die Versorgung und Pflege. Doch auch hier gibt es die steigende Tendenz, diese Dienste bezahlen zu lassen, um sich auf dieser Weise der moralischen Verpflichtung zu entziehen und die Schuld gewissermaßen abzubezahlen. Vielleicht wird in nicht allzu ferner Zukunft die Leistung der Nachkommen darin bestehen, für die pflegebedürftige Person einen Roboter zu finanzieren. 

Abstrakte Beziehungen

Wenn sich persönliche Beziehungen in Marktbeziehungen verwandeln, geschieht ein Schritt vom Konkreten ins Abstrakte. Zwischenmenschliche Beziehungen sind konkret, leiblich und sinnlich wahrnehmbar. Die Kommunikation läuft direkt. Marktbeziehungen sind anonym, das jeweilige Gegenüber ist austauschbar und wird nummerisch geregelt, eben mittels Geld. Die Beziehungen sind auf eine abstrakte Ebene verschoben. 

Eine komplexe Gesellschaft kann ohne Marktbeziehungen und Abstrahierung nicht funktionieren. Sie kann auch ohne persönliche Beziehungen nicht existieren, doch verschieben sich vor allem seit der Einführung des Kapitalismus in steigendem Tempo die Verhältnisse, was uns zunehmend verunsichert. Es werden also laufend persönliche durch ökonomische Beziehungen ersetzt, d.h. Individualität durch Austauschbarkeit. So stellt sich die Frage, ob die sozialen Beziehungen irgendwann auf der Strecke bleiben. 

Vor allem dort, wo wir diese Veränderungen nicht verstehen können, machen sie uns Angst. Wir fürchten um unsere Kontakte, um unsere Zugehörigkeit und um die Anerkennung unserer Individualität. Tatsächlich ist es so, dass diese wichtigen Grundsicherheiten im System des Kapitalismus nicht gewährt werden können, weil es dort nur um die ökonomische Verwertung geht. Der Mensch ist Arbeitskraft und Konsument, mehr nicht. Es braucht ein anderes System, das weiterhin auf der Basis von persönlichen Beziehungen und der wechselseitigen Anerkennung der Subjekte beruht. Es nimmt uns die Angst vor dem Verwertetwerden, die Angst davor, nur mehr als Sache und nicht mehr als Mensch zu gelten, indem dort unser Sosein und unsere Zugehörigkeit bestätigt wird.  

Dieses System umfasst alle Beziehungen, die auf Mensch-zu-Mensch-Kontakten beruhen. Es wird manchmal mit dem Begriff der Zivilgesellschaft bezeichnet, geht aber in alle Bereiche, in denen Menschen direkt miteinander zu tun haben. Dieses System verschwindet nicht in dem Maß, in dem Teile von ihm anonymisiert werden. Das ist wohl der subjektive Eindruck, wenn Verluste an Zwischenmenschlichkeit beklagt werden. Vielmehr ändern sich die Formen der Kommunikation, z.B. durch neue Kommunikationsmedien. Dazu kommt, dass wir uns durch die Wohlstandssteigerung, die das kapitalistische System zustandegebracht hat, diese die Geräte für diese Medien auch leisten können. Wir kommunizieren deshalb immer mehr über digitale, also anonyme Wege persönlich miteinander.  

Ob im Zug dieser Entwicklung die Sozialbeziehungen von den Marktbeziehungen aufgefressen werden, bis nichts mehr von ihnen übrigbleibt, ist eine andere Frage. Sie hängt nicht nur von den ökonomischen und technologischen Veränderungsprozessen ab, auf die wir als Einzelne relativ wenig Einfluss haben. Es geht vor allem darum, wie wir leben wollen, d.h. welchen Raum und welche Bedeutung wir hinkünftig den zwischenmenschlichen Beziehungen einräumen wollen, gerade angesichts der Tendenzen, diese in Marktbeziehungen überzuführen. 

Schuld und Scham  

Auf der psychologischen Ebene gehen diese Entwicklungen einher mit Umschichtungen von Schuld- und Schamthemen. Darum soll es im Weiteren gehen. Die These dafür lautet: Auch wenn durch die Umwandlung von persönlichen in geschäftliche und schließlich in Mensch-Maschinen-Beziehungen Schuld- und Schamthemen obsolet werden, entstehen durch diese Veränderungen neue Quellen für diese Gefühle. 

Schuldthemen entstehen, wenn zwischen Menschen Rechnungen offenbleiben, die durch die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes entstanden sind. Es kann sich dabei um emotionale oder materielle Rechnungen handeln. Meist ist klar, mit welcher Handlung die Schuld behoben werden kann. Ein Kredit ist fällig und das Geld wird zurückgezahlt. Eine Verletzung ist passiert und die Entschuldigung wird akzeptiert.  

Komplizierter ist es mit Schuldgefühlen oder Schuldkomplexen. Sie gehen auf emotionale Rechnungen zurück, die auf unfairen Voraussetzungen beruhen. Denn es geht dabei um Abmachungen, die auf ungleicher Ebene abgeschlossen wurden, in der Regel zwischen Eltern und Kindern, und dazu noch ohne Papiere oder Worte. Es gibt also nur implizite Hinweise auf solche Abmachungen, sie können nirgends nachgelesen oder verifiziert werden.  

Vielmehr handelt es sich um Erwartungen der Eltern, wie Kinder zu sein und zu handeln hätten, Erwartungen, die nicht verhandelbar waren, sondern von den Eltern als Spielregeln vorausgesetzt wurden, und deren Nichteinhaltung mit Schuld in Rechnung gestellt wurde. Aus den angehäuften Schulden entwickeln sich die Schuldgefühle oder Schuldkomplexe, die sich wie eine Grundprägung des Schuldseins und Schuldigseins anfühlen. Tatsächlich haben Schuldkomplexe nichts mit dem Wesen des Menschseins zu tun, sondern sind aus Not gebildete Strategien, die der Sicherung des emotionalen Überlebens dienten.  

Solche Schuldthemen können sich belastend in langen Strecken des Lebens auswirken, solange ihr Ursprung nicht erkannt und verstanden wird. Oft nehmen sie Dimensionen an, die sich weit über den eigenen Verantwortungsbereich hinaus ausdehnen: Schuldgefühle wegen einer privilegierten Lebenssituation angesichts von Hunger und Armut, Schuldgefühle wegen der Lebensweise weiter Teile der Gesellschaft, die die Klimakrise mitverursachen, Schuldgefühle, eine Wohnung zu haben, während andere obdachlos sind usw. 

Die Urscham  

Schuld und Scham haben eine innige Verbindung, die allerdings einseitig ist. Es gibt keine Schuld, die ohne Scham daherkommt, während die Scham so weit vor der Schuld liegen kann, dass sie ganz ohne Schuld ist. Denn die Scham reicht tiefer und rührt an die Grundlage unserer Existenz. Wenn wir uns schämen, stellen wir unser Sein, und nicht bloß unser Handeln, in Frage. Sind demnach grundlegende Erwartungen der Eltern durch die Existenz der Kinder, für die sie verantwortlich sind, bedroht, so nistet sich bei den Kindern eine Urscham ein. Kinder, die ungewollt zur Welt kommen und von ihren Eltern oder von einem Elternteil aus diesem oder aus anderem Grund vor allem als Belastung und als Existenzbedrohung wahrgenommen werden, müssen mit dieser tiefsitzenden Form der Scham leben.  

Verunsicherungen auf der uranfänglichen Ebene des eigenen Seins graben sich als Schamgefühle und Ängste tief in die Seele ein und werden leicht aktiviert, wenn sich die äußeren Bedingungen ändern. Überall dort in der Gesellschaft, wo persönliche Beziehungen in anonyme umgewandelt werden, tritt einerseits eine Erleichterung auf, weil es auf der abstrakten Ebene der ökonomischen Tauschgeschäfte keine Scham gibt. Andererseits werden die angesprochenen Gefühle der Verunsicherung zusätzlich aufgeladen. Die Scham meldet sich hinter jedem Schritt der Anonymisierung von Beziehungen. 

Die Globalisierung der persönlichen Räume 

Es finden Umstellungen in den Beziehungsnetzen statt, die zur Entpersönlichung beitragen. Damit verschieben sich die Quellen für Beschämungen, aber sie werden nicht weniger. Wir sind zwar in vielen Bereichen der digitalen Medien und auch im öffentlichen Verkehr anonym unterwegs und begegnen anderen namenlosen Personen. Aber Abwertungen und Geringschätzungen treffen uns mindestens so heftig, wie die Auswirkungen jedes Shitstorms auf die davon Betroffenen zeigen. Cybermobbing hat schon Menschen in den Selbstmord getrieben.  

Offenbar geben wir fremden Personen eine Bewertungsmacht über uns, obwohl wir sie und sie uns gar nicht persönlich kennen. Und wir maßen uns selbst laufend Bewertungen an, über Menschen, die wir noch nie getroffen und mit denen wir noch nie geredet haben. Es ist, als ob sich unsere persönlichen Grenzen im Maß der digitalen Globalisierung auf die ganze Welt ausgeweitet hätten. In Folge unserer digitalen Präsenz sind wir global exponiert und verletzbar, haben aber auch gleichzeitig die Macht, alle anderen auf der globalen Ebene zu beschämen und zu verletzen. Obwohl oder gerade weil die digitale Welt in vielen Bereichen von anonymen Wesen bevölkert ist, sind die Grenzen der persönlichen Integrität um ein Vielfaches schwerer zu schützen. Es ist für die Einzelne gar nicht mehr überschaubar, wo der eigene Raum endet, wie eine Herrscherin, die über ein Riesenreich gebietet, das sie in ihrem Umfang noch nicht begriffen hat und dessen Grenzregionen sie nicht alle bereisen kann, weil es so viele sind. 

Die Grenzen werden immer verschwommener, was auch bedeutet, dass immer unklarer wird, wo die eigene Verantwortung beginnt und wo sie endet. Diese Entwicklung erfordert immer mehr Anstrengung, für sich und für die eigene Umgebung zu definieren, wo und wie Verantwortung übernommen werden kann und wo sie endet. Sie erfordert auch eine verstärkte Bewusstheit über die eigene Integrität im Umgang mit der globalen Öffentlichkeit. Wir brauchen also ein geschärftes Sensorium für die Scham, die uns aufmerksam macht, wenn wir unsere Integrität, also unsere eigenen Werte verletzen. 

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