Montag, 15. März 2021

Migration und Scham

Wer als Fremder in ein fremdes Land kommt, hat immer mit Scham zu tun: Fast alles, was hier selbstverständlich ist, war es im eigenen Herkunftsland nicht. Die Sprache oder die Sprechweise, die Essensgewohnheiten, die Begrüßungsrituale, die Blickkontakte – die Anlässe für Fehltritte und Ausrutscher sind endlos und führen immer zur Scham. Erst recht, wer in ein fremdes Land kommt, um dort zu leben, sollte auf viele Schamanlässe vorbereitet sein. 

Die Scham der Selbstverleugnung

Die Scham meldet sich dabei aus mehreren Richtungen: 

Die erste kommt von hinten. Der Kontakt mit einer neuen Kultur, von der das eigene Weiterleben abhängt, erzeugt Widersprüche mit der Kultur aus der man abstammt. Müssen deren Werte verleugnet und durch neue ersetzt werden? Kann es gelingen, Mischungen zwischen dem Alten und dem Neuen herzustellen, oder ist das auch schon ein Verrat an der Tradition, die bisher in Geltung war und die eigene Identität geprägt hat? Beinhaltet die Verleugnung der Normen der Herkunftsgesellschaft auch eine Verleugnung der eigenen Identität? All diese Fragen konfrontieren mit Schamgefühlen. Denn in jeder Kultur wird die Einhaltung der Normen und Standards durch die Scham geregelt: Wer sich daneben benimmt, wird beschämt und soll sich schämen. Daraus soll er oder sie lernen, sich richtig zu verhalten. Notgedrungen kann die Einhaltung dieser Normen in einer anderen Gesellschaft nur mangelhaft gelingen. Dort, wo es nicht geht, meldet sich die Scham.

Die Scham des Ausgegrenztseins

Die zweite Ebene, auf der die Scham auftritt, kommt von innen und ist mit der Angst verbunden, in der neuen Gesellschaft keinen Platz zu finden und ausgegrenzt zu bleiben. Das Anderssein wird angesichts der vorherrschenden Normen als Makel und Stigma empfunden, als ein Abweichen von der Normalität. Als Reaktion kann es zum misstrauischen Rückzug kommen, zu angestrengtem Anpassen oder zu verzweifelter Aggression. Die aus diesen Reaktionen stammenden Verhaltensweisen sind mit Scham imprägniert und verhindern Erfahrungen von Freiheit und kreativer Selbstbestimmung. 

Die Scham der Abwertung

Die dritte Richtung kommt von außen, von den Menschen der heimischen Gesellschaft (eigentlich: von den irgendwann früher Eingewanderten). Sie empfinden schnell eine Angst vor Fremden, die sich ungewohnt verhalten oder unvertraut ausschauen. Als Schutz vor dieser Angst meldet sich die Abwertung und Verachtung der Fremden, die sie als mindere Menschen kennzeichnet, die nichts wissen und nichts können. Diese Missbilligung und Herabwürdigung beschämt die Zugezogenen und erschwert ihnen das Ankommen und Hineinwachsen in die neue Gesellschaft. 

Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Die Ansässigen haben den Eindruck, den Neulingen ginge es nicht um Integration und Einfügung in die bestehende Ordnung, weil sie spüren, dass die Anstrengungen, die die Fremden unternehmen, von Scham geleitet sind und deshalb nicht „echt“ wirken. Dieses Misstrauen wiederum stärkt bei den Angekommenen die Angst, keine Anerkennung zu kriegen und keinen Platz zu finden. 

Die Scham der Ansässigen

Allerdings gibt es auch eine Scham bei den Ansässigen angesichts der Zuwanderer. Zunächst einmal stammen auch sie aus Zuwandererfamilien stammen, so weit das auch zurückliegen mag und so wenig das bewusst sein mag. Insbesondere die großen Einwanderungsgesellschaften in Nord- und Südamerika und Australien haben es mit einer tiefsitzenden und gut verdrängten Scham zu tun, dass sie als Usurpatoren und Unterdrücker ins Land gekommen sind. Sie haben den Ansässigen mit Gewalt weggenommen, was deren Recht, Besitz und Würde war, sie haben deren Kultur zerstört und die eigene eingepflanzt, meist rücksichtslos und arrogant und voller Verachtung für die „Primitiven“. Die Folge ist eine massive kollektive Schambelastung, die mit allen Mitteln unterdrückt werden muss.

Auch in unseren Breiten hat es durch die Geschichte hindurch immer wieder Wanderbewegungen gegeben; die Welle der Zuwanderung im Jahr 2015 war zwar wegen ihrer ethnischen Zusammensetzung und geographischer Route etwas Neues in der mittel- und westeuropäischen Geschichte, aber nicht in ihrer Größenordnung, wenn man nur bedenkt, dass am Ende des 2. Weltkriegs fünf Millionen Menschen aus Osteuropa nach Westeuropa geströmt waren. Es ist weiters zu bedenken, dass durch frühere Siedlungs- und Wanderbewegungen fortwährend Bevölkerungsmischungen stattgefunden haben, sodass nur der Mangel an Quellen den Eindruck bei vielen erweckt, als wären ihre Stammbäume alle in einem umgrenzbaren Gebiet mit einheitlicher Kultur beheimatet. Z.B. sind meine Vorfahren väterlicherseits im 17. Jahrhundert über Böhmen aus den Niederlanden nach Oberösterreich ausgewandert. Mütterlicherseits könnte die Zuwanderung noch früher erfolgt sein, vielleicht schon im Zusammenhang der Ostausbreitung der Baiern im frühen Mittelalter. Aber so weit reichen die Quellen nicht zurück. Jedenfalls haben auf dem Boden, auf dem ich heute lebe, die unterschiedlichsten Ethnien gelebt, von denen oft keine Spuren geblieben sind.

Bedingte Heimat

Die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit, die in jedem Heimatbegriff steckt, sobald er über ein subjektives Gefühl hinausgeht, kann das Verständnis für die Dynamik zwischen Ortsansässigen und Hinzukommenden verbessern. Es gibt kein klares Maß dafür, ab wann eine Familie oder Bevölkerungsgruppe irgendwo als heimisch gilt, sodass sie alle, die von außen kommen, als fremd bezeichnen darf. Oft sind es gerade die später Zugezogenen, die besonders auf die Ausgrenzung der Fremden achten. Jede soziale Ausgrenzung enthält eine Schlagseite der Scham, indem sie die Abgesonderten beschämt und über diesen Vorgang im eigenen Inneren Scham auslöst. Wer ausgrenzt, beschämt sich also selbst.

Dazu kommt, dass die Werte in allen Kulturen die Herabwürdigung der Fremden verbieten. Vielmehr ist das Gastrecht und das Willkommenheißen der Fremden Teil der ethischen und religiösen Normen, die nicht ohne Sinn überall in der Menschheit aufgefunden werden können. Der Verstoß gegen diese Normen durch eine fremdenfeindliche Haltung hat Scham zur Folge, die oft mit besonders heftiger Aggression übertönt wird.

Solche Phänomene gibt es nicht nur im Rahmen der internationalen Migration, bei der oft sehr unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen. Sie beginnen schon bei kleinräumigen Übersiedlungen, wo es vor allem am Land lange, oft Generationen braucht, bis jemand, der in ein Dort zugezogen ist, von den Einheimischen als zugehörig angesehen wird. 

Das Autochthone reibt sich am Fremden, und die Reibung erzeugt Scham, wenn die Angst vor dem Fremden vorherrscht. In allen anderen Fällen entsteht aus dieser Reibung ein hohes Maß an Kreativität und schöpferischen Ideen, was Schmelztiegelstädte wie New York demonstrieren. 

Die meisten Menschen, wenn sie als Fremde in ein neues Land kommen, reagieren mit maximaler Anpassung an die herrschende Kultur, die bis zur Selbstaufgabe gehen kann. Sicher ist Anpassung die beste Strategie, um in einer fremden Umgebung Fuß fassen zu können. Aber wenn sie, angetrieben von der Scham, zur Selbstverleugnung und zum Verlust der Ressourcen der eigenen Kultur führt, ist es ein zu hoher Preis, der mit Lebenschancen und Lebensqualität bezahlt wird. Es sind aber auch Ressourcen, die der Kultur im Einwanderungsland fehlen.

Es liegt also auch  daran, die Schamblockierungen, die in das Migrationsthema eingeflochten sind, aufzulösen, auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene, um die Energien und Potenziale zu nutzen, die in der Zuwanderung stecken, und die Konflikte, die sich in diesem Zusammenhang immer wieder auftun, zu entschärfen. 

Zum Weiterlesen:
Die Heuchelei der Immigrationsfeinde
Mehr Konflikte durch gelingende Integration


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