Gleichheit ist ein zentrales Element für eine menschenwürdige Gesellschaft. Intuitiv wissen wir, dass es keine fundamentalen Unterschiede zwischen Menschen geben darf, weil wir im Grunde alle gleich viel wert sind, deshalb die gleiche Wichtigkeit haben und auch gleichermaßen an der Gesellschaft teilhaben sollen. Der Gedanke der Menschenwürde, die allen ohne Unterschied zukommt, hat den Vorhang zerrissen, der seit Beginn der Jungsteinzeit, als sich die Gesellschaft in Schichten differenzierte, die Grundgleichheit versteckt gehalten hat. In den meisten Verfassungen ist die Idee der Gleichheit verankert und bildet seit ihrer Proklamation in der Aufklärung einen wichtigen Antrieb zur Reform der Gesellschaft, insbesondere im Sozialbereich. Die formale Gleichheit vor dem Gesetz soll durch eine Chancengleichheit ergänzt werden, so zumindest der Leitgedanke sozialistischer Parteien, dem sich aber auch Mitte- und Rechtsparteien nach Bedarf anschließen.
Die „Listening Society“ nach Hanzi Freinacht,
die eine künftige metamoderne Gesellschaftsform darstellt, fügt diesen
Gleichheitsebenen noch eine weitere hinzu: die emotionale Gleichheit.
Gleichheit braucht es nicht nur in Hinblick auf die materiellen
Lebensbedingungen, sondern auch für das Innenleben.
Forschungen haben ergeben, dass sozialer
Ausschluss und Ablehnung so wehtun kann wie physischer Schmerz, wie eine
Ohrfeige. Jemand wird einer Zurückweisung ausgesetzt und die gleichen Muster im
Gehirn werden aktiviert wie bei einer körperlichen Verletzung. Dazu kommt, dass
jede solche Verletzung die Empfänglichkeit für solchen Schmerz in der Zukunft
erhöht und die innere Bereitschaft für Gefühle von Rachsucht, Neid und
Aggressivität steigert.
Menschen, die in früher Zeit viel von diesen
Verletzungen erleben mussten, haben es deshalb schwerer, zu einer inneren Zufriedenheit
zu finden als jene, die in dieser Hinsicht auf die Butterseite des Lebens
gefallen sind. Sie müssen viel mehr Energie aufwenden, um die Anforderungen der
Gesellschaft zu erfüllen als jene, die in dieser Hinsicht privilegiert sind.
Hanzi Freinacht spricht davon, dass die
Gesellschaft nicht nur zwischen Reichen und Armen auseinandertriftet, sondern auch
zwischen denen, die viel Glück in ihrem Leben finden und jenen, die davon nur
wenig haben. Denn die Glücklichen sind auch erfolgreicher und sammeln mehr
Freunde um sich als die Unglücklichen. Sie bekommen mehr Anerkennung und
stärken damit ihren Selbstwert, Aspekte, die im Leben der Unglücklichen rarer
gesät sind. Sie tun sich leichter, alternative Lebensformen zu erproben und
nachhaltig zu konsumieren.
Es gibt viele verstärkende Faktoren, durch die
die Glücklichen ihr Glück und die Unglücklichen ihr Unglück steigern, ähnlich
wie es leichter ist, als Reicher noch mehr Vermögen anzuhäufen als wenn man gar
keines hat. Die Glückskreisläufe haben die Tendenz, sich zu automatisieren,
gleich wie die Unglücks-Teufelskreise.
Das Unglücklichsein vermindert die
Lebenschancen drastisch. Es kann die Lebenszeit verkürzen und ist die Wurzel
vieler Krankheiten und Leidenszustände, am augenfälligsten bei den
Depressionen. Unglückliche Menschen sind weniger produktiv und leistungsfähig.
Sie kreisen mehr in sich selbst und tun sich schwer, ihre Energie nach außen zu
bringen, Ideen zu entwickeln und Neues zu schaffen. Ihre Lebenszeit ist häufig
durch die Sicherung der Existenzbedingungen und durch das Zurechtkommen mit den
inneren Problemen ausgefällt.
Unglück belastet nicht nur die betroffenen
Menschen und ihre Umgebung, sondern auch das Sozialsystem und damit die
Gesellschaft als Ganze. Innerlich belastete Menschen können weniger zur
Gesellschaft und ihrer Weiterentwicklung beitragen; ihre Initiativkraft, Produktivität
und Kreativität fehlen der Allgemeinheit.
Alles nur Schicksal?
Die vorherrschende Taktik und Einstellung
besteht darin, dass die unglücklichen Menschen für ihr Schicksal verantwortlich
gemacht werden – jeder ist an seinem Glück oder Unglück selber schuld. Diese
Auffassung verstärkt die Unterschiede und Ungleichheiten. Die Glücklichen
brauchen sich nicht mit den Unglücklichen zu befassen, und die Unglücklichen
bekommen zu ihrem Unglück noch die Verantwortung dafür aufgehalst. Unglück wird
als persönliche Schwäche, als persönliches Versagen, als Mangel an
Lebenskompetenz definiert und zusätzlich mit Scham beladen. Der Ausweg heißt
dann einfach, dass sich die unglückliche Person zusammenreißen soll, um aus der
selbstverschuldeten Schwäche herauszukommen. Wenn sie es nicht schafft, braucht
sie sich nicht zu beschweren und kriegt nur einen Platz irgendwo am Rand der
Gesellschaft. Ins Zentrum gehören die, die den Leistungsnormen des Wirtschaftssystems
entsprechen können.
Es geht hier nicht darum, die
Eigenverantwortung für das eigene Innenleben zu leugnen. Unglück kann auch als
Ausrede vor dieser Verantwortung verwendet werden, und die Bereitschaft, das
Schicksal in die eigenen Hände nehmen, kann eine Wende bewirken. Die Befreiung
vom Leiden ist eine individuelle Aufgabe, die wir so oder so in unserem Leben
meistern müssen.
Es geht in diesem Text vielmehr um die
gesamtgesellschaftliche Ebene, die ebensowenig geleugnet werden darf. Es geht um
die Verantwortung, die das Schicksal der Gemeinschaft mit dem Schicksal seiner
Mitglieder verbindet und die sowohl im Ganzen wie im Einzelnen übernommen
werden sollte. Dazu ist es notwendig,
aus der neoliberalen Denkdoktrin der verordneten Individualisierung des Glücks
herauszutreten.
Unglückserzeugende Strukturen
Die Verantwortung erwächst daraus, dass die
Unterschiede in der emotionalen Grundausstattung nicht nur ein individuelles Schicksal
sind, das die einen mehr und die anderen weniger betrifft, sondern dass sie wesentlich
durch soziale Strukturen mitverursacht und beeinflusst werden. Die soziale
Schicht, in die ein Mensch hineingeboren wird, wirkt sich direkt auf die Glückschancen
aus. Die nachhaltige Änderung dieser Bedingungen ist erforderlich, damit sich
das Glück weiter in die Gesellschaft hinein ausbreiten kann und mehr und mehr
Menschen in den Genuss von Lebensfreude kommen können.
Die Entwicklung zu einer emotionalen
Gleichheit kann demnach nur hergestellt werden, wenn diese Gesamtverantwortung bewusst
ist und in Angriff genommen wird, wenn also die Gesellschaft ihre Zuständigkeit
für das Glücksniveau ihrer Mitglieder übernimmt und die Strukturen danach ausrichtet.
Es sind also politische Änderungen
erforderlich, die auf die Herstellung der Chancengleichheit und des Ausgleichs
zwischen unterschiedlichen Ausgangsbehinderungen hinarbeiten.
Die Implementierung von empathischer
Solidarität verläuft entlang der Scheidelinie zwischen der individualisierten
Ego-Kultur und der Gemeinwohlorientierung. Nebenbei bemerkt, zeichnet die
Corona-Zeit diese Linie besonders deutlich: Sollen möglichst viele Leben
gerettet und Krankheitsfälle vermieden werden oder geht es darum, die
Wirtschaft möglichst wenig einzuschränken? Die meisten Regierungen haben die
erstere Option gewählt. Wir leben also nicht in einer völlig entsolidarisierten
Welt, auch das zeigt sich in dieser Krise.
Glück und Gesundheit
Glück ist ein zentraler Teil und Faktor der
Gesundheit, denn der Zustand der inneren Ausgeglichenheit, der mit Glück
verbunden ist, ist auch förderlich für unseren Körper. In dem Maß, wie sich die
Gesellschaft der Gesundheit der Einzelnen annimmt, braucht es auch die Fürsorge
für das Glücklichsein. Effektive und menschengerechte Gesundheitspolitik ist
auch Glückspolitik.
Häufig sind wir unglücklich, wenn wir krank
sind. Der Körper ist im Ungleichgewicht, und gleich hängt auch die Seele
schief. Andererseits sind wir aber nicht automatisch glücklich, wenn wir gesund
sind. Dazu braucht es offensichtlich noch viel mehr Faktoren, die stimmen
müssen. Das hängt damit zusammen, dass Gesundheit im üblichen Verständnis mit
dem Funktionieren des Körpers gleichgesetzt wird. Menschen brauchen aber auch
gesunde Beziehungen, Arbeitsstätten, Bildungseinrichtungen, Umweltbedingungen,
Sozialmaßnahmen und politische Verhältnisse. Und dafür kann jeder Einzelne seinen
kleinen Beitrag liefern, aber es kann nicht ohne die gesellschaftlichen
Institutionen gehen, die über eine wesentlich mächtigere Hebelwirkung verfügen.
Körperliches und seelisches Leid sind gleichwertig
Im Vergleich zur körpermedizinischen Versorgung
hinkt die psychohygienische Gesundheitsvorsorge in unseren Breiten noch immer
weit nach. Offensichtlich haben Gesellschaft und Politik noch viel zu wenig
verstanden, wie ausschlaggebend der innere Zustand für die körperliche
Gesundheit und Leistungsfähigkeit ist. Die Entlastung der Psyche gilt für viele
als individueller Luxus und nicht als gesellschaftliche Notwendigkeit und
zentrale Säule im Sozial- und Gesundheitssystem.
Noch immer herrscht die Meinung vor, dass die
Behebung von körperlichem Leid selbstverständlich von der Gesellschaft
übernommen wird, während seelisches Leid dem Einzelnen überlassen wird und nur marginal
von der Sozialversicherung, also von den Finanzmitteln aller Mitglieder
unterstützt wird. Eigenartigerweise haben wir noch immer nicht verstanden, was
es heißt, eine körperlich-seelisch-geistige Einheit zu sein, offensichtlich
leiden wir kollektiv an einer Dissoziation, die das Körperliche vom Rest abspaltet.
Das Eine ist gesellschaftlich weitgehend akzeptiert und wird mit Mitgefühl
bedacht; das Andere ist Anlass für individuelle Scham und gilt als Stigma. Der
Mensch unserer Zeit darf krank werden und für seine Heilung soll gesorgt sein. Er
muss aber psychisch intakt bleiben, sonst verfällt er der Ausgrenzung.
Das Ziel der emotionalen Gleichheit kann nur
erreicht werden, wenn sich das kollektive Bewusstsein in dieser Richtung
weiterentwickelt und die Verwobenheit und Austauschbarkeit von körperlichen und
seelischen Leidenserfahrungen aufgenommen hat, sodass die entsprechenden
Regulationsstrukturen entstehen können: Ein breites und frei zugängliches Netz
der psychosozialen Versorgung mit dem gleichen Stellenwert wie die traditionell
medizinischen Versorgungsinstitutionen.
Zum Weiterlesen:
Metamodernismus - eine Übersicht
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