Dienstag, 29. September 2020

Emotionale Gleichheit

Gleichheit ist ein zentrales Element für eine menschenwürdige Gesellschaft. Intuitiv wissen wir, dass es keine fundamentalen Unterschiede zwischen Menschen geben darf, weil wir im Grunde alle gleich viel wert sind, deshalb die gleiche Wichtigkeit haben und auch gleichermaßen an der Gesellschaft teilhaben sollen. Der Gedanke der Menschenwürde, die allen ohne Unterschied zukommt, hat den Vorhang zerrissen, der seit Beginn der Jungsteinzeit, als sich die Gesellschaft in Schichten differenzierte, die Grundgleichheit versteckt gehalten hat. In den meisten Verfassungen ist die Idee der Gleichheit verankert und bildet seit ihrer Proklamation in der Aufklärung einen wichtigen Antrieb zur Reform der Gesellschaft, insbesondere im Sozialbereich. Die formale Gleichheit vor dem Gesetz soll durch eine Chancengleichheit ergänzt werden, so zumindest der Leitgedanke sozialistischer Parteien, dem sich aber auch Mitte- und Rechtsparteien nach Bedarf anschließen.

Die „Listening Society“ nach Hanzi Freinacht, die eine künftige metamoderne Gesellschaftsform darstellt, fügt diesen Gleichheitsebenen noch eine weitere hinzu: die emotionale Gleichheit. Gleichheit braucht es nicht nur in Hinblick auf die materiellen Lebensbedingungen, sondern auch für das Innenleben.

Forschungen haben ergeben, dass sozialer Ausschluss und Ablehnung so wehtun kann wie physischer Schmerz, wie eine Ohrfeige. Jemand wird einer Zurückweisung ausgesetzt und die gleichen Muster im Gehirn werden aktiviert wie bei einer körperlichen Verletzung. Dazu kommt, dass jede solche Verletzung die Empfänglichkeit für solchen Schmerz in der Zukunft erhöht und die innere Bereitschaft für Gefühle von Rachsucht, Neid und Aggressivität steigert.

Menschen, die in früher Zeit viel von diesen Verletzungen erleben mussten, haben es deshalb schwerer, zu einer inneren Zufriedenheit zu finden als jene, die in dieser Hinsicht auf die Butterseite des Lebens gefallen sind. Sie müssen viel mehr Energie aufwenden, um die Anforderungen der Gesellschaft zu erfüllen als jene, die in dieser Hinsicht privilegiert sind.

Hanzi Freinacht spricht davon, dass die Gesellschaft nicht nur zwischen Reichen und Armen auseinandertriftet, sondern auch zwischen denen, die viel Glück in ihrem Leben finden und jenen, die davon nur wenig haben. Denn die Glücklichen sind auch erfolgreicher und sammeln mehr Freunde um sich als die Unglücklichen. Sie bekommen mehr Anerkennung und stärken damit ihren Selbstwert, Aspekte, die im Leben der Unglücklichen rarer gesät sind. Sie tun sich leichter, alternative Lebensformen zu erproben und nachhaltig zu konsumieren.

Es gibt viele verstärkende Faktoren, durch die die Glücklichen ihr Glück und die Unglücklichen ihr Unglück steigern, ähnlich wie es leichter ist, als Reicher noch mehr Vermögen anzuhäufen als wenn man gar keines hat. Die Glückskreisläufe haben die Tendenz, sich zu automatisieren, gleich wie die Unglücks-Teufelskreise.

Das Unglücklichsein vermindert die Lebenschancen drastisch. Es kann die Lebenszeit verkürzen und ist die Wurzel vieler Krankheiten und Leidenszustände, am augenfälligsten bei den Depressionen. Unglückliche Menschen sind weniger produktiv und leistungsfähig. Sie kreisen mehr in sich selbst und tun sich schwer, ihre Energie nach außen zu bringen, Ideen zu entwickeln und Neues zu schaffen. Ihre Lebenszeit ist häufig durch die Sicherung der Existenzbedingungen und durch das Zurechtkommen mit den inneren Problemen ausgefällt.

Unglück belastet nicht nur die betroffenen Menschen und ihre Umgebung, sondern auch das Sozialsystem und damit die Gesellschaft als Ganze. Innerlich belastete Menschen können weniger zur Gesellschaft und ihrer Weiterentwicklung beitragen; ihre Initiativkraft, Produktivität und Kreativität fehlen der Allgemeinheit.

Alles nur Schicksal?

Die vorherrschende Taktik und Einstellung besteht darin, dass die unglücklichen Menschen für ihr Schicksal verantwortlich gemacht werden – jeder ist an seinem Glück oder Unglück selber schuld. Diese Auffassung verstärkt die Unterschiede und Ungleichheiten. Die Glücklichen brauchen sich nicht mit den Unglücklichen zu befassen, und die Unglücklichen bekommen zu ihrem Unglück noch die Verantwortung dafür aufgehalst. Unglück wird als persönliche Schwäche, als persönliches Versagen, als Mangel an Lebenskompetenz definiert und zusätzlich mit Scham beladen. Der Ausweg heißt dann einfach, dass sich die unglückliche Person zusammenreißen soll, um aus der selbstverschuldeten Schwäche herauszukommen. Wenn sie es nicht schafft, braucht sie sich nicht zu beschweren und kriegt nur einen Platz irgendwo am Rand der Gesellschaft. Ins Zentrum gehören die, die den Leistungsnormen des Wirtschaftssystems entsprechen können.

Es geht hier nicht darum, die Eigenverantwortung für das eigene Innenleben zu leugnen. Unglück kann auch als Ausrede vor dieser Verantwortung verwendet werden, und die Bereitschaft, das Schicksal in die eigenen Hände nehmen, kann eine Wende bewirken. Die Befreiung vom Leiden ist eine individuelle Aufgabe, die wir so oder so in unserem Leben meistern müssen.

Es geht in diesem Text vielmehr um die gesamtgesellschaftliche Ebene, die ebensowenig geleugnet werden darf. Es geht um die Verantwortung, die das Schicksal der Gemeinschaft mit dem Schicksal seiner Mitglieder verbindet und die sowohl im Ganzen wie im Einzelnen übernommen werden sollte.  Dazu ist es notwendig, aus der neoliberalen Denkdoktrin der verordneten Individualisierung des Glücks herauszutreten.

Unglückserzeugende Strukturen

Die Verantwortung erwächst daraus, dass die Unterschiede in der emotionalen Grundausstattung nicht nur ein individuelles Schicksal sind, das die einen mehr und die anderen weniger betrifft, sondern dass sie wesentlich durch soziale Strukturen mitverursacht und beeinflusst werden. Die soziale Schicht, in die ein Mensch hineingeboren wird, wirkt sich direkt auf die Glückschancen aus. Die nachhaltige Änderung dieser Bedingungen ist erforderlich, damit sich das Glück weiter in die Gesellschaft hinein ausbreiten kann und mehr und mehr Menschen in den Genuss von Lebensfreude kommen können.

Die Entwicklung zu einer emotionalen Gleichheit kann demnach nur hergestellt werden, wenn diese Gesamtverantwortung bewusst ist und in Angriff genommen wird, wenn also die Gesellschaft ihre Zuständigkeit für das Glücksniveau ihrer Mitglieder übernimmt und die Strukturen danach ausrichtet.

Es sind also politische Änderungen erforderlich, die auf die Herstellung der Chancengleichheit und des Ausgleichs zwischen unterschiedlichen Ausgangsbehinderungen hinarbeiten.

Die Implementierung von empathischer Solidarität verläuft entlang der Scheidelinie zwischen der individualisierten Ego-Kultur und der Gemeinwohlorientierung. Nebenbei bemerkt, zeichnet die Corona-Zeit diese Linie besonders deutlich: Sollen möglichst viele Leben gerettet und Krankheitsfälle vermieden werden oder geht es darum, die Wirtschaft möglichst wenig einzuschränken? Die meisten Regierungen haben die erstere Option gewählt. Wir leben also nicht in einer völlig entsolidarisierten Welt, auch das zeigt sich in dieser Krise.

Glück und Gesundheit

Glück ist ein zentraler Teil und Faktor der Gesundheit, denn der Zustand der inneren Ausgeglichenheit, der mit Glück verbunden ist, ist auch förderlich für unseren Körper. In dem Maß, wie sich die Gesellschaft der Gesundheit der Einzelnen annimmt, braucht es auch die Fürsorge für das Glücklichsein. Effektive und menschengerechte Gesundheitspolitik ist auch Glückspolitik.

Häufig sind wir unglücklich, wenn wir krank sind. Der Körper ist im Ungleichgewicht, und gleich hängt auch die Seele schief. Andererseits sind wir aber nicht automatisch glücklich, wenn wir gesund sind. Dazu braucht es offensichtlich noch viel mehr Faktoren, die stimmen müssen. Das hängt damit zusammen, dass Gesundheit im üblichen Verständnis mit dem Funktionieren des Körpers gleichgesetzt wird. Menschen brauchen aber auch gesunde Beziehungen, Arbeitsstätten, Bildungseinrichtungen, Umweltbedingungen, Sozialmaßnahmen und politische Verhältnisse. Und dafür kann jeder Einzelne seinen kleinen Beitrag liefern, aber es kann nicht ohne die gesellschaftlichen Institutionen gehen, die über eine wesentlich mächtigere Hebelwirkung verfügen.

Körperliches und seelisches Leid sind gleichwertig

Im Vergleich zur körpermedizinischen Versorgung hinkt die psychohygienische Gesundheitsvorsorge in unseren Breiten noch immer weit nach. Offensichtlich haben Gesellschaft und Politik noch viel zu wenig verstanden, wie ausschlaggebend der innere Zustand für die körperliche Gesundheit und Leistungsfähigkeit ist. Die Entlastung der Psyche gilt für viele als individueller Luxus und nicht als gesellschaftliche Notwendigkeit und zentrale Säule im Sozial- und Gesundheitssystem.

Noch immer herrscht die Meinung vor, dass die Behebung von körperlichem Leid selbstverständlich von der Gesellschaft übernommen wird, während seelisches Leid dem Einzelnen überlassen wird und nur marginal von der Sozialversicherung, also von den Finanzmitteln aller Mitglieder unterstützt wird. Eigenartigerweise haben wir noch immer nicht verstanden, was es heißt, eine körperlich-seelisch-geistige Einheit zu sein, offensichtlich leiden wir kollektiv an einer Dissoziation, die das Körperliche vom Rest abspaltet. Das Eine ist gesellschaftlich weitgehend akzeptiert und wird mit Mitgefühl bedacht; das Andere ist Anlass für individuelle Scham und gilt als Stigma. Der Mensch unserer Zeit darf krank werden und für seine Heilung soll gesorgt sein. Er muss aber psychisch intakt bleiben, sonst verfällt er der Ausgrenzung.

Das Ziel der emotionalen Gleichheit kann nur erreicht werden, wenn sich das kollektive Bewusstsein in dieser Richtung weiterentwickelt und die Verwobenheit und Austauschbarkeit von körperlichen und seelischen Leidenserfahrungen aufgenommen hat, sodass die entsprechenden Regulationsstrukturen entstehen können: Ein breites und frei zugängliches Netz der psychosozialen Versorgung mit dem gleichen Stellenwert wie die traditionell medizinischen Versorgungsinstitutionen.

Zum Text von Hanzi Freinacht

Zum Weiterlesen:
Metamodernismus - eine Übersicht


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