Freitag, 23. August 2019

Durch Ambivalenzen wachsen

Wir sind widersprüchliche, keine aus- und durchharmonisierte Wesen. In unserem Fühlen, Wollen und Denken melden sich unterschiedliche und oft gegensätzliche Strebungen. Stellen wir uns ein voll harmonisches Musikstück vor, ohne Gegensätze und Spannungen – wie lange braucht es, bis es uns fad wird? Die Musik wird lebendig, wenn der jeweils nächste Ton als Überraschung kommt, einen unvorhersehbaren Akzent trägt und möglicherweise dem entgegensteht, was vorher war. Auch ein Bild ohne Kontraste vermag uns nicht zu fesseln. Und Romane brauchen alle paar Seiten unvorhersehbare Wendungen, damit wir sie nicht weglegen. Kreativität entsteht, wenn ein gewohnter Verlauf unterbrochen wird, nicht wenn er gleichmäßig und vorhersagbar weiterfließt. 

Wir brauchen also einige Toleranz für Ambivalenzen, falls wir kreativ sein wollen. Wir müssen es aushalten können, dass wir uns in ein unbekanntes Terrain begeben, in dem uns Überraschungen begegnen, die angenehm oder unangenehm sein können. Mit dieser Bereitschaft können wir die Widersprüchlichkeiten in unserer inneren Erfahrungswelt nutzen und in interessante Beiträge zur schöpferischen Wirklichkeit übersetzen. 


Blockierende Ambivalenzen


Es gibt aber auch Gegensätze, die uns zu schaffen machen, soweit, dass sie uns lähmen können. Denn Unterbrechungen können abrupt und intensiv auftreten, wie es Schocks tun. Sie reißen uns aus dem, was gerade ist, und katapultieren uns von einem Zustand in den anderen, meist von einem angenehmen in einen unangenehmen. Ein Schock führt nicht zu Kreativität, sondern zu Angst und Panik. Wir geraten schnell in starke Anspannung, manchmal sogar in einen Erstarrungszustand. Dann können wir unmöglich kreativ sein, sondern können uns nur darum kümmern, wieder in einen Normalzustand zurückzufinden.

Wenn die Spannungen zwischen zwei oder mehreren Polen zu stark werden, wirkt sich die Ambivalenz störend auf die innere Lage aus. Und besteht ein intensiver Spannungszustand zu lange, müssen Notfallmaßnahmen ergriffen werden. Diese reichen von Verdrängung über Dissoziationen bis zu körperlichen Erkrankungen. Denn das Immunsystem wird durch chronifizierte innere Spannungen in Mitleidenschaft gezogen und dadurch Viren und Bakterien leichteres Spiel gewähren.

Blockierende Ambivalenzen weisen auf einen tieferen Grund in uns selber hin. Sie machen uns auf sehr frühe Traumatisierungen aufmerksam, die uns widerfahren sind. Wenn z.B. die Mutter oder eine andere wichtige Bezugsperson unsere Kontaktangebote, unser Bedürfnis, unsere Liebe zu teilen, ignoriert oder ablehnt, sind wir gefangen in dem Konflikt, uns anzupassen oder unseren Weg zu Autonomie und Liebesfähigkeit zu finden (vgl. den vorigen Blogbeitrag).


Ambivalenzen in Beziehungen


In Beziehungen und Partnerschaften suchen wir die Übereinstimmungen und leiden an Disharmonien, vor allem wenn sie in Streitereien münden. Wir sehnen uns danach, dass die andere Person unsere Meinungen, Ansichten und Überzeugungen teilt, dass unsere Gefühle eins zu eins verstanden werden und unsere Absichten und Ziele übereinstimmen. Unter diesen Voraussetzungen stellen wir uns das Leben einfach und glücklich vor. 

Noch besser wäre es vielleicht, – so geht die romantische Fantasie weiter –, gleich direkt mit der anderen Person zu verschmelzen und wirklich ein ununterscheidbares Eins zu werden, wie das manchmal von der sexuellen Begegnung erwartet wird. Miteinander verschmolzen gibt es keine Gegensätze, keinen Konflikt und keinen Streit. Das Ei, das sich laut Platon zerteilt werden musste, wird wieder eins*. Oder, wie es bei Immanuel Kant heißt: „Oh wundervolle Harmonie, was er will, will auch sie.“ Es kann doch keine Liebe sein, wenn die Lebensziele, Konsumgewohnheiten, Geschmäcker und Gedankengebäude unterschiedlich sind? Liebe heißt Einssein, möglichst ununterscheidbar und widerspruchsfrei, so die romantische Theorie von der Liebe.

Das Leiden entsteht aber schnell am Widerspruch zwischen Theorie und Praxis. Auch wenn es Momente gibt, in denen das Eine und das Andere eins werden, die Personen sich tief verbunden fühlen und das gemeinsam Geteilte über dem Trennenden steht, sind weite Bereiche der Realität und ganz besonders im Beziehungsbereich durch Unterschiedlichkeiten geprägt. Das Leben präsentiert sich in jedem Moment anders, mit stetig neuen Herausforderungen. Was als Einssein erfahren wurde, zerfällt in Dualität, was sich als verschmolzen angefühlt hat, teilt sich. Wenn wir in dem Zustand der Getrenntheit die Einheit vermissen, leiden wir, statt die Unterschiedlichkeit wertzuschätzen und Gewinn aus ihr zu ziehen. 

Die romantische Liebeskonstruktion strebt einen ambivalenzfreien Raum an. Das macht ihre Realitätsferne aus, denn Widersprüche und Unterschiedlichkeiten gehören zum Leben wie das Salz in die Suppe. Die Liebe jenseits der Romantik besteht im Annehmen und Umarmen der Gegensätzlichkeiten statt in ihrer Aufhebung oder Übertünchung. Diese Liebe ist flexibel und kann mit den Drehungen und Wendungen des Lebens besser umgehen und an Herausforderungen wachsen.


Von der Ambivalenztoleranz zur Ambivalenzkompetenz 


Wenn wir das Geschehenlassen über das Tun stellen, kommen wir leichter mit Ambivalenzen zurecht. Wir begeben uns mit dem Anvertrauen ans Leben in das Fließen, das zwischen Polen navigiert. Wir üben uns in der Flexibilität, indem wir Ambivalenzen begrüßen, um sie zu erforschen und auszukosten. 

Denn nüchtern betrachtet, macht uns der Drang nach Vereinheitlichung mehr Probleme als er löst. Wir denken uns, das Leben wäre einfacher, wenn alles in uns aus einem Guss wäre, alles logisch oder psychologisch ineinander überginge, wenn alle Unterschiede in uns und um uns herum eingeebnet wären. Wir wollen nicht zerrissen sein zwischen zwei oder mehreren Herzen, die in unserer Brust um die Wette schlagen. Und wir wollen nicht mühsam Übereinkünfte mit anderen erkämpfen, die nicht von vornherein das Gleiche wollen wie wir. 

Wo es nicht um starke innere Konflikte geht, die ihre Wurzel in frühen Traumatisierungen haben, steckt hinter dem tagtäglichen Leiden an der Verschiedenheit  und Gegensätzlichkeit nicht viel mehr als der in uns allen inhärente Hang zu Bequemlichkeit und Konfliktscheu. Wir können uns natürlich mit Menschen und Umständen umgeben, in denen laufend bestätigt wird, was wir sowieso glauben und in dem das, was wir selber wollen, von den anderen bereitwillig geteilt wird. Wir können uns „Blasen“ schaffen, in denen wir mit all unseren Ecken und Kanten gemocht werden, in denen uns nichts konfrontiert oder herausfordert. Wir wollen auf unserem Kurs bleiben und damit nicht abgelenkt werden. Aber das ist auch Zeichen einer mangelnden Lernfähigkeit, denn aus jeder Erfahrung, die sich mit unserem bisherigen Erfahrungshorizont kreuzt, neue Einsichten gewinnen und unseren Horizont erweitern. Oft müssen wir hinter die vordergründige Erscheinung blicken, um tiefere Wahrheiten zu gewinnen, vor allem dann, wenn die neuen Erfahrungen schockierend und irritierend sind, wie z.B. die Konfrontation mit lebensfeindlichen Aktivitäten und gewaltfördernden Meinungen.

Letztlich freilich geht es darum, mit allem, was in uns und um uns herum passiert, in Einklang zu kommen, d.h. mit dem, wo sich ruhig etwas aus dem anderen entwickelt, und mit dem, wo Brüche und abrupte Wendungen geschehen. Wenn uns diese Vereinheitlichung gelingt, kommt aus jedem Moment das, was als nächstes geschehen soll, ob es jetzt zu irgendetwas anderem in uns in Widerspruch steht oder nicht. Die Übung der Ambivalenztoleranz und Ambivalenzkompetenz hilft uns auf diesem Weg.

* Platon im Symposion: „Nachdem nun die Gestalt entzweigeschnitten war, sehnte sich jedes nach seiner andern Hälfte und so kamen sie zusammen, umfassten sich mit den Armen und schlangen sich in einander, und über dem Begehren zusammen zu wachsen starben sie aus Hunger und sonstiger Fahrlässigkeit, weil sie nichts getrennt von einander tun wollten. [...] Von so langem her also ist die Liebe zu einander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wiederherzustellen, und versucht aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen. Jeder von uns ist also ein Stück von einem Menschen, da wir ja zerschnitten, wie die Schollen, aus einem zwei geworden sind. Also sucht nun immer jedes sein anderes Stück.“

Zum Weiterlesen:
Mit Ambivalenzen leben

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