Sonntag, 2. Juni 2019

Vergleichen macht uns abhängig

In diesem Artikel geht es um die Minus-Variante des Vergleichens: Wir suchen uns Vergleichsobjekte, denen gegenüber wir unterlegen sind. Die Über-Variante, wenn wir uns auf andere beziehen, denen wir überlegen sind, funktioniert allerdings mit verkehrten Vorzeichen nach dem gleichen Muster.

Das Vergleichen macht uns in jedem Fall abhängig – von dem Objekt, mit dem wir uns vergleichen. Wir nutzen es als Wertmaßstab: Wir geben diesem Objekt die Macht, über unseren Wert zu bestimmen. Denn durch das Vergleichen ist dieser relativ zum Wert des jeweiligen Vergleichsobjekts, bei dem es sich meist um eine Vergleichsperson handelt. Wir projizieren auf sie die Qualitäten und Eigenschaften, die wir im Grund auch in uns selber haben, von denen wir aber denken, dass sie uns nur mangelhaft zuteil wurden und kaum zur Verfügung stehen. Also suchen wir uns andere Personen, von denen wir annehmen, dass sie besser ausgestattet sind, vergleichen uns mit ihnen und fühlen uns ihnen unterlegen – eine typische Anleitung zum Sich-Unglücklichmachen.

Im Vergleichen beschneiden wir unsere Freiheit, so zu sein, wie wir sind. Wir orientieren uns nicht an unserem Inneren, wo wir so sind, wie wir sind, weil es gar nicht anders geht, sondern an einem Ausschnitt der Außenwelt, die wir als Maßstab definieren, dem wir möglichst entsprechen sollten. Als Erwachsene sind es immer wir, die den Maßstab des Vergleichs wählen. Wir sind es, die eine bestimmte Qualität für so wichtig halten, dass wir uns einbilden, an ihrem Mangel leiden zu müssen.

Es wird wohl sein, dass wir im Zug unseres Aufwachsens unliebsam mit Vergleichen konfrontiert wurden: „Dein Bruder kann das oder jenes viel besser.“ „Du solltest auch so fleißig sein wie deine Kusine.“ „Deine Schwester ist so brav, du müsstest auch so sein.“ Solche Aussagen können sich in unser Unterbewusstsein eingraben und die Vergleichsmechanismen in Gang setzen, die dann den Rest des Lebens automatisiert ablaufen und oft, ohne dass wir es merken, unsere Stimmung herunterziehen. 

Dazu kommt, dass wir meistens davon ausgehen, dass der Vergleich in der Objektivität begründet ist, dass er ein Teil der Wirklichkeit und nicht eine Eigenproduktion ist. Jemand anderer ist besser und wir sind eben schlechter. Natürlich ist es klar, dass die meisten von uns nicht so gut Tennis spielen könnten wie Dominik Thiem oder Magnus Carlsen im Schach nicht schlagen könnten. Aber ernsthaft können wir das nur behaupten, wenn wir uns mit diesen Größen in ihrem Fach direkt gemessen haben. Dann wäre es Teil der Erfahrungsrealität. So aber bleibt es ein reines Gedankenspiel, ohne jede Auswirkung auf die Wirklichkeit, außer auf die innere durch eine unnötige Selbstwertminderung, die wir in uns selber unangenehm wahrnehmen. Wir tun uns das Vergleichen samt den Folgen auf unser Empfinden also immer selber an; nichts und niemand zwingt uns dazu. 

So klagt eine Klientin: „Ich kenne Leute, die weise Sprüche von sich geben und auch sonst mit ihrem Leben im Reinen sind, die noch nie Gruppen besucht oder Therapie gemacht haben, die können das einfach. Ich hingegen stoße dauernd auf Probleme, kämpfe immer wieder mit dem einen oder anderen. Und dann treffe ich Menschen, die sich noch nie mit sich selbst beschäftigt haben und dennoch anscheinend zufrieden sind und ein gutes Leben führen. Ich muss soviel dafür tun, dass es mir besser geht, während andere einfach immer gut drauf sind.“

Objektiv betrachtet heißt das nur, dass es viele, viele Unterschiede unter den Menschen gibt. Die einen haben es möglicherweise in manchen Bereichen leichter als die anderen. Aber das ist nur eine Annahme von uns, weil noch dazu das, was leicht und was schwer ist, für jeden Menschen unterschiedlich ist. 

Wir denken uns vielleicht, dass es die kranke Person, die mit Schmerzen im Spitalsbett liegt, schwerer hat als die Pflegerin, die sie betreut. Es kann aber sein, dass die Patientin mit ihrem Schicksal im Frieden ist und die Pflegerin mit ihrer schweren Arbeit hadert und unglücklich ist. Es kann sein, dass Menschen, die wir um ihr zufriedenes Leben beneiden, einige Zeit später in eine Krise geraten, sodass wir um keinen Preis mit ihnen tauschen würden. 

Das Leben spielt seine Stücke nach einer geheimnisvollen Regie, nichts ist vorhersehbar, nichts folgt eindeutigen Regeln und Mustern, sodass es nicht einmal beständige Anker für unsere Lust am Vergleichen gibt. Selbst Idole in der Unterhaltungsbranche oder in der Politik, die von den Medien gehypt und von den Anhängern gefeiert werden, können vom einen Tag auf den anderen vom Thron stürzen, und plötzlich ist uns ein Vergleichsobjekt abhanden kommen und wir müssen uns ein neues suchen – oder wir halten ihm allen Umständen zum Trotz stur die unerschütterliche Treue. So gibt es manche, die bis heute dem Großverbrecher Adolf Hitler ein ehrenvolles Andenken widmen, und unter den Österreichern sind es Hundertausende, die einem Politiker, der durch ein Aufdeckungsvideo jeder Integrität entblättert wurde, nach wie vor ihre Stimme geben, indem sie ihn als Opfer sehen, mit dem sie sich gut identifizieren können.


Automatisches Verlieren


Bei der Minus-Variante des Vergleichens sind wir immer auf der Verliererseite und merken gar nicht, dass die Regeln des Spiels so aufgestellt sind, dass wir nie gewinnen können, und wir überlauern nicht einmal, dass wir selber es waren, die diese Regeln aufgestellt haben. Und zu allem Überdruss verlieren wir dabei beständig gegen uns selber, ohne uns je als Gewinner fühlen zu können. Deshalb schreibt Søren Kierkegaard: „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.“

In den meisten Fällen ist es den Vergleichsobjekten in der Außenwelt gleichgültig, dass wir sie oberhalb von uns platzieren und uns schlechter fühlen als sie es sind. Es betrifft sie auch nicht, dass wir uns von ihnen abhängig machen, außer wir gehen ihnen mit unserer Bewunderung, Verehrung und Idealisierung auf die Nerven. Denn die offen zur Schau getragene Idealisierung erzeugt Druck auf die idealisierte Person und ist deshalb im Grund eine respektlose Grenzüberschreitung, die freilich viele der Adressaten zur Fütterung ihres Narzissmus einladen, genießen und pflegen.


Wie wir der Idealisierung entkommen


Jeder Mensch hat Stärken, Schwächen, Mängel und Vorzüge. Wenn wir uns mit anderen vergleichen und sie zum Maßstab nehmen, geraten wir leicht in die Tendenz, an anderen das Positive zu über- und das Negative zu unterschätzen. Das nennt man dann Idealisierung. Wieder sitzen wir einer Abhängigkeit auf, wenn wir in diese Falle tappen: Das Ideal in der anderen Person brauchen wir, um mit einem eigenen Mangel zurande zu kommen. Wir nutzen es auch, um selber nichts an uns verändern zu müssen. Statt zu üben und zu lernen, um unsere Fähigkeiten zu erweitern, versenken wir uns in die Bewunderung, die den anderen mit einem Glorienschein umgibt und uns selber schlecht dastehen lässt. 

Dabei kann die einfache Einsicht helfen: Es gibt das Ideal, das wir so bewundern, nicht in der Wirklichkeit, vielmehr ist es eine Produktion unserer Innenwelt. Wir erzeugen den Schein und das strahlende Licht, in dem uns unser idealisiertes Wesen erscheint. Was kann aber der Sinn in einer Produktion sein, wenn wir uns selber damit abwerten und schlechtmachen? Wir machen uns mit dieser Erkenntnis schnell klar, dass wir das nur deshalb tun, weil wir selber immer wieder abgewertet und schlechtgemacht wurden. Es gab Erfahrungen, durch die etwas in uns zerbrochen ist, das unser Selbstvertrauen angeknackst hat. Es fehlt uns jetzt, damit wir uns zutrauen könnten, Dinge in unserem Leben, unserem Charakter und unserer Performance kreativ und konstruktiv zu verändern. Statt dessen fantasieren wir im Äußeren unsere Verbesserung so, als wäre sie schon in uns selber eingetreten, leider in einer anderen Person.


Zweifache Lernübung


Wir kommen aus unserer Sucht am Vergleichen durch zwei Schritte heraus. Wir verwenden jeden Vergleich, den unser Verstand anstellt und der uns auffällt, als Lernübung: Ist da etwas, was wir an anderen sehen und bei uns selber übersehen oder geringschätzen? Wenn wir die Weisheit anderer Menschen bewundern – wie steht es um unsere eigene? Wenn wir unsere rhetorischen Fähigkeiten und unsere Schlagfertigkeit mit anderen vergleichen und dabei nur unsere Mängel in diesem Bereich bemerken – worin könnte der Wert unserer Redekunst liegen? Es geht also darum, unsere Qualitäten als Ausdrucksweisen unserer Individualität mehr in den Mittelpunkt zu rücken und wertzuschätzen. 

Und von dort aus können wir die zweite Lektion in Angriff nehmen: Bedeutet das Vergleichen, das wir vorgenommen haben, dass wir unsere Fähigkeiten in dem entsprechenden Bereich verbessern wollen? Wenn wir andere darum beneiden, dass sie viele Freunde haben, können wir uns die Frage stellen, wie wir selber zu mehr Freunden kommen können. Wenn wir uns mit den musikalischen Fertigkeiten von jemand anderen vergleichen, können wir uns überlegen, ob wir Gesangs- oder Klavierunterricht nehmen wollen. Wir können also das Vergleichen dazu nutzen, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen und aktiv zu werden. Wir sind nicht nur im Gehirn plastisch, also verbesserbar und erweiterbar, sondern auch in vielen anderen Fähigkeiten. Es liegt an uns, ob wir für die entsprechenden Weiterbildungen und Trainings die Energie und Motivation aufbringen. Wir können uns andere in dem Sinn als Vorbild nehmen, dass wir anerkennen und wertschätzen, was sie können und worin sie gut sind, und dass wir daraus den Anreiz ziehen, ihnen auf unsere Weise nachzueifern.

Wir müssen uns nicht in allen Aspekten und Dimensionen, die ein Menschenleben umfasst, weiterentwickeln, das ist auch gar nicht möglich. Vor allem sollten wir jeden Stress vermeiden, der mit einem derartigen Anspruch verbunden ist. Vielmehr können wir uns fragen, was wir wollen, und dann zur Handlung schreiten. Wenn wir uns klarmachen, dass wir unsere Energie nicht in diesen Bereich stecken wollen, sollten wir allerdings mit dem Vergleichen aufhören. Denn genau dann bringt es uns überhaupt nichts. Statt dessen können wir unsere neidvolle Bewunderung in eine staunende und bedingungslose Wertschätzung umwandeln: Die Schönheit unserer Mitmenschen in ihrer Einzigartigkeit anerkennen und genießen, ebenso wie unsere eigene.

Auf diesem Weg befreien wir uns von Abhängigkeiten, die uns an die Vergleichsobjekte binden, und lassen sie und uns selbst frei aus diesen selbstproduzierten Fesselungen. Jede Lösung einer Abhängigkeit ist ein Zugewinn an Verantwortung, und in diesem Fall auch an Mitmenschlichkeit. Was gibt es Erfüllenderes und Beglückenderes, als die Vielfalt menschlicher Individualitäten mit Ehrfurcht und Dankbarkeit zu würdigen?

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