Freitag, 19. April 2019

Integrität in der Politik

Die Gemeinwohlorientierung, die unsere Gesellschaft aus den Sackgassen der angst- und giergeleiteten neoliberalen Ökonomie führen kann, kann nur dann nachhaltig erfolgreich sein, wenn sie auf ethischer Integrität ruht. Unter Integrität verstehe ich eine hohe ethische Qualität, die Personen zukommt, die in ihrem Handeln und Urteilen von den Erwartungen, Ansprüchen und Begehrlichkeit anderer Menschen unabhängig sind sowie weitgehend frei von inneren destruktiven Antrieben wie Angst, Gier und Hass sind. Auf dieser Grundlage kann ein integrer Mensch seine Entscheidung aus dem eigenen Inneren heraus treffen und dafür die Verantwortung übernehmen. 

Menschen können zu dieser Haltung nur gelangen, wenn sie in ihrem Inneren Ordnung gemacht haben (wenn sie ihre Traumen und Verletzungen aufgearbeitet haben) und wenn sie die Bedeutung des geistigen Wachstums im Sinn der Befreiung von den Einschränkungen und Fesselungen des Egos erkannt und in ihre Lebenspraxis integriert haben. Das Streben nach ethischer Integrität, das einen zentralen Stellenwert für den Aufbau einer menschenwürdigen Gesellschaft hat, ist auch ein spirituelles Streben, das die eigenen Überlebensängste und -strategien hinter sich gelassen hat und damit das Ego immer wieder von sich distanzieren kann. 

Integrität kann nur über integre Individuen in die Strukturen der Gesellschaft Eingang finden. Die offene Gesellschaft braucht die Durchlässigkeit für die Integrität auf allen Ebenen, in all ihren Ecken und Winkeln und besonders in den Entscheidungszentralen und meinungsbildenden Knotenpunkten. Und sie kann nur offen bleiben, wenn ein gewisses Maß an Integrität erhalten werden kann. Nur auf diese Weise können integre Strukturen entstehen, mit Verfahrensweisen und Prozeduren, die einzelne Individuen, die aufgrund persönlicher Schwächen aus der Integrität rausfallen, auffangen können und die dadurch entstandenen Folgeschäden schnell in den Griff bekommen. 

Die Integrität ist übrigens eine hohe menschliche kognitiv-emotionale Kompetenz, die nie von digitalen Maschinen übernommen werden kann. Denn sie erwächst aus der menschlichen Liebesfähigkeit (der Erfahrung zu lieben und geliebt zu werden) und dem inneren Verständnis für die Verletzbarkeit und Fehlbarkeit der Existenz, setzt also Erfahrungen voraus, die Maschinen prinzipiell nicht machen können. Außerdem können menschliche Erfahrungen nicht digitalisiert werden.

Viele Menschen spüren intuitiv, dass sie der Ehrlichkeit und Uneigennützigkeit von Politikern vertrauen wollen, denen sie ihre Stimme geben. Politiker, die lügen und täuschen, die das in sie gesetzte Vertrauen missbrauchen, müssen dann mit der berechtigten Wut der enttäuschten Bürger rechnen. Die Quittung kann allerdings nur alle paar Jahre bei der Wahl gelegt werden. 

Wir legen an unsere Politiker mit vollem Recht hohe ethische Maßstäbe an, wenn wir ihnen die Macht über uns und unsere Belange überantworten. Wir geben ihnen mit unserer Stimme einen Vertrauensvorschuss, den sie erst einmal in ihrem Handeln einlösen müssen. Deshalb schauen wir ihnen gerne auf die Finger. Dabei helfen uns die unabhängigen Medien und Journalisten, die die Integrität der Politiker überwachen und Abweichungen von diesen Ansprüchen dokumentieren. Auf diese Weise erfüllen sie eine wichtige Funktion in der Rückkoppelung zwischen den politischen Akteuren und denen, die sie gewählt haben. Das ist auch der Grund, warum sie mit öffentlichen Geldern (Presseförderung etc.) unterstützt werden; umso weniger ist vertretbar, wenn abhängige Medien gefördert werden, die die Selbstdarstellung der Politiker verbreiten, statt kritisch über die Diskrepanzen zwischen Reden und Handeln, Programmatik und Pragmatik zu berichten.


Die Politikverdrossenen


Der Polit-Frust ist eine Reaktion auf die hohen Ansprüchen, die die Staatsbürger zurecht an ihre Volks-Vertreter und Diener (=Minister) stellen. Parteien, die die öffentliche Verschwendung anprangern und selbst verschwenderisch mit Steuergeldern umgehen, Politiker, die die Korruption bekämpfen und selber bestechlich sind, schüren das Misstrauen in die Politik insgesamt. Sie erwecken bei vielen den Eindruck, dass die gesamte Sphäre der Politik von Eigennutz und Machtgier durchtränkt ist, der sich niemand, keine Bewegung und kein Individuum entziehen kann, sobald man sich in diesen Dschungel begeben hat. 

Die Politiker und Parteien, die sich ihre Hände nie schmutzig gemacht haben und mit bestem Wissen und Gewissen für das öffentliche Wohl gearbeitet haben, werden dabei gerne übersehen. Denn sie verschwinden oft so weit unter der Wahrnehmungsschwelle, die von den Skandalen und Verfehlungen geprägt ist, dass sie nicht mehr wiedergewählt werden. Denn die öffentliche Wahrnehmung giert nach dem, was aufregt, nach dem, was das Nervensystem in Alarm versetzt. Die guten Nachrichten sind uninteressant, wir wollen ja statt dessen über alles informiert sein, was uns möglicherweise bedrohen könnte.

Wenn Widersprüche zwischen den eigenen, öffentlich verkündeten Zielen und der aktuellen Politik auftauchen, entsteht starkes Misstrauen, das bei vielen in eine allgemeine Politik-Skepsis und -Verdrossenheit mündet. Wir hören von Parteien, die sich angeblich für die kleinen Leute einsetzen, und ungeniert die Transferleistungen für die Ärmsten und Schwächsten in der Gesellschaft kürzen; Parteien, die sich christlich nennen, und eine menschenfeindliche Sozialpolitik durchsetzen; Parteien, die gegen das Großkapital eingestellt sind, und deren Gewinne fördern usw. Nicht immer kann ein Partei- oder Wahlprogramm eins zu eins praktisch umgesetzt werden, das ist realistisch in den komplexen Spannungsfeldern, in denen die Politik ihre Entscheidungen fällt. Aber wenn die Diskrepanz zu weit auseinanderklafft und nicht mehr erklärt werden kann, verschwindet die Glaubwürdigkeit der Akteure und ihrer Ideologie.

Viele schließen dann daraus, das „ganze System“ wäre unethisch, alle bestallten Vertreter würden nur für die eigene Tasche und Machtabsicherung handeln. Das allgemeine Wohl sei zu Lippenbekenntnissen verkommen, während es in der Praxis mit Füßen getreten wird. Also wenden sich viele Staatsbürger von dem „garstigen Lied“ ab, das in der Politik mehr gekrächzt als gesungen wird, und ziehen sich auf die trotzige Position des Verweigerns zurück: Wir wüssten ja alles besser, aber niemand fragt uns, also sind wir machtlos und hilflos und ziehen uns, weil wir uns missachtet fühlen, in eine Haltung der Verachtung der gesamten Politik gegenüber zurück. 

Die frustrierten Wähler geben ihre Stimme dann allenfalls einer Leitfigur, die neu auf der politischen Bühne auftaucht und vollmundig verspricht, das System als Ganzes von Grund auf umzukrempeln. Dann dauert es oft nicht sehr lange, bis auch bei dieser Person wieder ethische Mängel und Widersprüche auftauchen, kaum ist sie an der Macht. Die enttäuschten Wähler sind erneut frustriert und in ihrer Grundskepsis dem System gegenüber bestätigt. Die gesamte Sphäre der Politik wird in diesem Frustrationsprozess als Degeneration von einer Sache der Allgemeinheit zum Selbstbedienungsladen für eine abgehobene Elite gesehen, an dessen Ende ein System voll von menschenverachtendem Zynismus steht, das nur mit Zynismus verachtet werden kann.

Natürlich helfen Zynismus und Verachtung nicht weiter, weder in der Politik noch in ihrem Publikum. Der Maßstab der Integrität muss bei jeder Maßnahme, bei jeder Verordnung, bei jedem Gesetz und bei jeder Stellungnahme angelegt werden. Widersprüche und Abweichungen von dieser Norm müssen dokumentiert und verbreitet werden. Der kritische Diskurs muss aktiv und vielseitig bleiben, in den Köpfen der Beobachter und am Marktplatz. Die unerbittlichen Forderungen der Ethik, die auf das Gemeinwohl und den gesellschaftlichen Ausgleich hinweisen, müssen immer wieder formuliert, und wenn nötig, mit Nachdruck demonstriert werden. Wenn es den Spitzenpolitikern an Integrität mangelt, muss sie ihnen von den Staatsbürgern entgegengehalten werden. Politiker können nur so integer sein wie es ihre Wähler sind, um diesen Zusammenhang etwas zu überzeichnen. Das heißt, dass es zur Verantwortung für die eigene Integrität gehört, ihre Maßstäbe in den öffentlichen Diskurs einzubringen und ihre Verwirklichung einzumahnen. Nicht nur jede Macht, sondern auch jede Integrität geht vom Volk aus. Das ist das Wechselspiel, das die Demokratie lebendig erhält. 


Nicht-Integrität als Marke


Es gibt Wähler, die sich mit den Widersprüchen der von ihnen verehrten Politiker identifizieren, in denen sie ihre eigenen Widersprüche verehren. Kein Mensch möchte gerne und überzeugt menschenfeindlich und menschenverachtend sein, aber jeder hat menschenfeindliche Tendenzen in sich. Der psychische Mechanismus der Abspaltung springt ein, um diese Diskrepanz zu entschärfen: Man ist nett und freundlich zu den Menschen in der engeren Umgebung und zu Gleichgesinnten, und aggressiv verachtend zu allen, die ferner stehen oder andere Meinungen vertreten. 

Politiker, die in Tat und Rede zu ihrer Menschenfeindlichkeit stehen und sie als Haltung vertreten, ernten bei den einen Abscheu und Verurteilung, während die anderen bei ihnen eine Bestätigung für ihre eigene Menschenfeindlichkeit finden. Der Hass gegen andere Mitglieder der Gesellschaft wird damit zu einer geteilten und öffentlich geduldeten und möglicherweise sogar geschuldeten Tugend, und der auf dieser Schiene erfolgreiche und zu Macht gelangte Politiker dient als Identifikationsobjekt und Legitimierungsinstanz für die eigene Menschenfeindlichkeit. 

Die Nicht-Integrität, also die offen bekundete Abhängigkeit von destruktiven und sozialfeindlichen Persönlichkeitsanteilen ist eine eigene Marke im Feld der politischen Konkurrenz. Wie wir aus der Geschichte wissen, bildet sie die Voraussetzung für die Errichtung totalitärer Diktaturen, und das entbehrt nicht einmal der Logik: Menschenverachtung mündet, wenn sie mit Macht ausgestattet ist, in Menschenvernichtung. Auch wenn dieser Zusammenhang allgemein bekannt ist, gelingt es immer wieder Politikern und Publizisten, auf der Schiene des Hasses Zustimmung und Unterstützung zu bekommen, vor allem von jenen, die es ihren Vorbildern gleichtun wollen.

Die kaltschnäuzige Verbannung der Integrität aus der Politik darf nicht hingenommen werden, im Gegenteil, sie muss mit äußerster Integrität bekämpft werden. Es ist nicht die Tagesaktualität auf der Seite der Integren, aber die langfristige Perspektive. Hassprediger und menschenverachtende Populisten sind wie ein Strohfeuer, das hell auflodert, aber dann über kurz oder lang in Asche zusammenfällt. Der Hass ist nicht als Dauerfutter geeignet, denn er nährt den Hasser nicht, und es ist anstrengend und kräftezehrend, in diesem Feld voller innerer Konflikte zu bleiben. Jeder Hasser sehnt sich nach Frieden, mit der Hoffnung, irgendwann zur Integrität zurückzufinden, die sich viel besser anfühlt.


Die Integrität der Unscheinbaren


Gäbe es nicht auf allen Ebenen des öffentlichen und politischen Lebens, in der Verwaltung und im Bildungssystem Menschen, die in vielleicht nur unscheinbaren Positionen ein Leben lang ihr Bestes auch im ethischen Sinn geben, dann wäre die Gesellschaft schon lange in einen Jeder-gegen-jeden- Krieg zerfallen. Das Ausmaß an Integrität, das ohne Aufsehen in vielen Bereichen besteht, kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt weiter aufrechterhalten, auch wenn es gerade an der Spitze oft zu massiven Ausfällen kommt. Z.B. halte ich den gegenwärtigen österreichischen Innenminister für eine sehr weitgehend integritätsferne Person; dennoch ist die öffentliche Sicherheit noch nicht zusammengebrochen, einesteils, weil es gesetzliche Spielregeln gibt, die ein Minister nicht brechen kann, und andererseits, weil Tausende Mitarbeiter in ihrem Tätigkeitsbereich weiterhin mit einem hohen Maß an Integrität wirken.

Auch wenn wir als Einzelne nur einen winzigen Beitrag zum allgemeinen Wohl leisten können, sind wir wichtig wie jeder und jede andere auch. Wir haben nur unsere kleine Verantwortung, aber diese Verantwortung haben nur wir und sonst niemand, wir stehen zu ihr oder nicht. Wann immer wir diese Verantwortung wahrnehmen, sind wir in der Integrität und steigern damit das Ausmaß der Integrität in der Gesellschaft. Und wir verringern den Spielraum der Nicht-Integrität.

Zum Weiterlesen:
Hass im Internetzeitalter
Nachhaltigkeit in der Demokratie
Wer die Würde nicht respektiert, verliert seine eigene

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