Montag, 22. April 2019

Hass und Liebe: Vom Mangel in die Fülle

Wenn von Dualität gesprochen wird, tauchen als Beispiele meistens gut – böse, männlich – weiblich, Tag (Licht) – Nacht (Dunkelheit) und: Liebe – Hass auf. Diese Beispiele sollen illustrieren, dass die Welt auf Dualitäten aufgebaut ist, die Spannungen aufbauen und überwunden werden müssen, wenn man auf dem inneren Weg weiterkommen will. 

Brigitta Kemner z.B. schreibt: „Wir alle kennen erfahrbare Dualität: heiß – kalt, Liebe – Hass, männlich – weiblich, gut – böse, hell – dunkel, usw. Ebenso wird das Verhalten von Menschen schon immer durch dualitäre Muster bestimmt. Wir teilen Geschehnisse, Ereignisse, Menschen und Gedanken in „positiv“ oder „negativ“ ein.“

Bei Martin von Mendel können wir lesen: „Die Matrix, in der wir uns befinden, ist eine duale Matrix, in der alles einen Gegenpol hat. Dies ist ein Naturgesetz, das sich auch durch Bewusstsein nicht verändern lässt.“

Oder Günther Messerschmid schreibt: „Wir leben hier auf der Erde auf einer Ebene der Gegensätze. Tag – Nacht, Vater – Mutter, Liebe – Hass, … Nur in den Gegensätzen, im Spannungsfeld der Gegensätze können wir unser Bewusstsein ausbilden … Durch die Gegensätze erfahren wir uns selbst.“ (Das Trauma der Seele, S. 109 f, 2018)

Den Begriff der Dualität habe ich auf dieser Seite in einigen Artikeln problematisiert, zum einen als wenig tauglich, um die Realität zu verstehen, weil wir diese vor allem in Übergängen, Schattierungen und Nuancen und kaum in schroffen Gegensätzen wie schwarz und weiß erleben. Zum anderen, weil der Begriff mehr mit unserem stressgeplagtem Innenleben zu tun hat als mit dem spirituellen Weg, aber gerade dort gerne zitiert wird. Deshalb erscheint er nicht hilfreich, um auf diesem Weg weiterzukommen.


Leiden am Mangel an Liebe und nicht an Hass


In diesem Artikel geht es speziell um die oft leichtfertig ausgesprochene Gegenüberstellung von Liebe und Hass, die ja auch die beiden Begriffe aneinander binden will. Wenn Liebe und Hass einen dualen Gegensatz ausmachen, gibt es keine Liebe ohne Hass und umgekehrt. Beide sind gleich stark, und einmal überwiegt mehr das Eine, ein andermal das Andere. Oder, wie es auch manchmal heißt: Wo viel Liebe ist, ist auch viel Hass. 

Zunächst scheint es offensichtlich: Wer eine Person liebt, hasst sie nicht gleichzeitig und umgekehrt. Andererseits verstehen wir sogleich intuitiv, dass der Gegensatz nicht wirklich durchgängig ist: Wir können zwar Hass als Mangel an Liebe verstehen, aber Liebe nicht als Mangel an Hass. Es ist nicht so, dass wir in der Liebe den Hass vermissen, sondern eher so, dass wir uns im Hass nach Liebe sehnen. 

Hass ist ein Leidenszustand; wir können dieses Gefühl nicht genießen: Wir brauchen uns nur die Körperposition vorstellen, die zum Hass passt und merken gleich die massive Anspannung, die mit dem Hassen verbunden ist. Sobald wir uns bewusst in eine Hass-Haltung hineinbegeben, wollen wir so schnell wie möglich wieder raus. Der Hass macht uns unfrei, auf der körperlichen wie auf der geistigen Ebene. Er bindet unseren Verstand an das Objekt, wir denken dauernd an die gehasste Person und verstärken unsere Verspannung. Unser Denken wird eindimensional und fixiert. Unser Hauptleiden verursacht aber unser Mangel an Liebesfähigkeit, anderen und uns selbst gegenüber. 

Hass ist also ein Mangelzustand, und die Liebe ein Füllezustand. Im Zustand der Liebe sind wir frei und entspannt. Wir freuen uns des Lebens und des Seins der anderen Menschen. Wir wollen, dass es alle gut haben und zum Glück finden. Auch dieser Gegensatz passt nicht zu einer Dualität, sondern zu einer eindeutigen Orientierung: Die Entwicklung geht vom Hass zur Liebe, und nicht umgekerht, sodass wir immer weniger Hass empfinden und immer mehr Liebe. Eine Welt ohne Hass wäre uneingeschränkt eine bessere Welt. Jeder, der danach strebt, mehr Liebe zu leben, verringert den Hass unter den Menschen. „Wo Liebe wächst, gedeiht Leben – wo Hass aufkommt, droht Untergang.“ (Mahatma Gandhi)


Warum hassen wir?


Natürlich verschwindet der Hass nicht einfach durch gute Vorsätze. Er entsteht als Reaktion auf Lieblosigkeiten, denen wir hilflos ausgesetzt waren. Unsere eigene Liebesfähigkeit, mit der wir in diese Welt gekommen sind, wurde nicht oder nicht ausreichend erwidert, und statt bedingungsloser Zuwendung haben wir Achtlosigkeiten, emotionalen Missbrauch und Manipulation erlitten. Da wir nicht in der Opferrolle steckenbleiben wollten, hat sich der Hass entwickelt: Jene, die uns etwas angetan haben, sollen selber leiden. In der Rache am Bösen soll ein Ausgleich geschehen.

Im Hassen sind wir also in der Regression. Wir haben unsere Erwachsenenkompetenzen verlassen und befinden uns in einem kleinkindlichen mentalen Stadium, das durch starke Emotionen und geringe Realitätskontrolle gekennzeichnet ist. Es sind also tiefe seelische Verletzungen und existenzielle Ängste, die dem Hass die emotionale Wucht geben, die sich in Gewalttaten entladen kann. Im Hass geschieht ein Rückfall in eine Bedrohungssituation, in der wir uns hilflos ausgeliefert fühlten; das Gefühl des Hasses gibt uns ein Stück Schutz und Sicherheit, weil wir die Auslöschung der Quelle der Bedrohung fantasieren können. 

Der Hass macht die hassende Person abhängig von der Bedrohung und bindet sie an das Objekt. Diesen Kreislauf füttern die Medien, die der Hasser selektiv konsumiert, sodass er seine Weltsicht dauernd bestätigt. Die Welt wird auf hassenswerte Objekte eingeengt und alles Gegenteilige wird ausgeblendet. 

Auf der seelischen Ebene leidet der Hasser selbst am meisten, wieviel Leid er auch anderen mit seinen Rachegelüsten zugefügt haben mag. Er hat sich völlig von sich abgetrennt und ist nur mit dem Teil in ihm verbunden, der das größte Leid gespeichert hat. Ein makabres Sinnbild dafür liefert der Selbstmordattentäter, der sich selbst den grausigsten Tod zufügt.


Den Kreislauf durch Bewusstheit unterbrechen


Der Kreislauf von Hass, Selbsthass und Rache kann nur überwunden werden, wenn wir Verantwortung für unsere Gefühle und Gedanken übernehmen. Der Hass gehört zu unserer Lebensgeschichte und hatte einst den Sinn, uns aus der Opferrolle zu befreien. Mit dem Hassen bleiben wir aber auf halbem Weg stehen. Denn wir meinen, dass wir Täter werden müssen, um nie wieder zum Opfer werden zu können. So bleiben wir in der Täter-Opfer-Schaukel gefangen.

Wenn wir aus der Opfer-Täter-Dynamik aussteigen wollen, müssen wir uns den Schmerzen und Ängsten, die mit den ursprünglichen Bedrohungen und Verletzungen verbunden sind, stellen. In diesem Prozess können wir dann zum Verzeihen kommen, indem wir verstehen, dass die Personen, die uns unser Leiden zugefügt haben, nicht besser lieben konnten, und dass wir trotz all der Belastungen doch genügend Unterstützung bekamen, um zu überleben und erwachsen und selbständig zu werden. Im Verzeihen verwandelt sich der Hass in Liebe und wir fühlen uns entlastet und erleichtert. 


Die Liebe umfasst auch den Hass


Liebe sind wir in unserem Wesen, während uns der Hass zeigt, wie sehr wir uns von uns selbst entfremden können. Aber gerade deshalb gibt es immer einen Weg aus dem Hass zur Liebe, den Weg der Bewusstheit und Selbstannahme. Denn die Liebe kann selbst noch den Hass umfassen, und damit kann sie nie die Rolle eines dualen Partners spielen. Sie ist auf ihre feine Art viel zu mächtig.

„Das Ego erkennt nicht, dass der Hass eine Projektion des universalen Schmerzes ist, den du in dir trägst. Es glaubt, der andere sei die Ursache des Schmerzes. Es erkennt nicht, dass der Schmerz aus dem allgegenwärtigen Gefühl entspringt, nicht mit deinen eigenen Tiefen verbunden zu sein, nicht eins mit dir zu sein. (…)
Immer, wenn du das annimmst, was ist, taucht etwas auf, das tiefer ist als das, was ist. Ganz gleich, ob du im schrecklichsten inneren oder äußeren Dilemma, in den schmerzlichsten Gefühlen oder Situationen gefangen bist: Sobald du akzeptierst was ist, gehst du darüber hinaus. Sogar Hass wird transzendiert, sobald du annimmst, dass du ihn empfindest. Dann ist der Hass vielleicht noch da, aber du bist an einem tieferen Ort angekommen, wo er dir nicht mehr so viel ausmacht.“ (Eckhart Tolle

Zum Weiterlesen:
Hass im Internetzeitalter
Polaritäten lähmen, Kontinuen befreien
Polaritäten - Ursprünge und Folgen
Der Bösewicht in uns
Geschlossene Systeme und der inhärente Hass
Über den Ursprung des Bösen und des Hasses
Liebe und Hass - eine Polarität?


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