Sonntag, 14. April 2019

Das Kind in uns

Das innere Kind ist eine modellhaft angenommene Instanz in uns selber, die alle Erfahrungen mit den zugehörigen Gefühlen aus der frühen Zeit unseres Lebens gespeichert hat. Diese Instanz wird genutzt, um den Unterschied zwischen der erwachsenen Lebens- und Sichtweise und der des Kindes zu erleben. Die Erfahrungen aus der Kindheit wirken vor allem auf der emotionalen Ebene ins Erwachsenenleben hinein, oft ohne dass das auffällt. Dann kommt es dazu, dass Erwachsene wie Zweijährige zornig werden oder wie Babys in Traurigkeit versinken. Für die meisten Menschen erscheint es selbstverständlich, dass sie reagieren, wie sie reagieren, weil sie annehmen, dass sie eben sind wie sie sind und nicht anders sein können.  

In der Regel handelt es sich aber um unverarbeitete und nicht integrierte Erfahrungen aus der Kindheit, die im Erwachsenen reinszeniert werden. Plötzlich werden die erwachsenen Kompetenzen außer Kraft gesetzt, Hilflosigkeit, Verzweiflung oder blinde Aggressionen können sich breit machen – so stark kann die Macht des inneren Kindes sein. 

Wenn die Machtübernahme durch das innere Kind wieder abgeebbt ist, entsteht häufig Scham, mit der scheinbar der Erwachsene die Aktion bewertet: Wie konnte ich mich nur so aufführen? Oder die Reaktion ist trotzig: Es geschieht den anderen recht, die mich in die Enge getrieben haben, wenn sie jetzt unter meinem Zorn leiden. Das sind typische pseudoerwachsene Rechtfertigungen bzw. Rückzugsgefechte des inneren Kindes, das sich auch hier wieder mit Wiederaufführung von kindlichen Erfahrungen der Angst und Verletzung meldet.  

Ersatzreaktionen 


Die sekundären Reaktionsweisen der Scham und des Trotzes zeigen die Opfer- und die Täterseite des inneren Kindes. Meist treten sie Hand in Hand auf die Bühne des inneren Erlebens und je nach der Charakterstruktur oder der Beziehungsdynamik im Elternhaus überwiegt das eine oder das andere, also die Neigung zum aggressiven Trotz (Täterseite) oder zur schamerfüllten Resignation (Opferseite).  

Wird der Unterschied zwischen der erwachsenen und der kindlichen Instanz bewusst, so braucht es keine sekundären Reaktionen mehr, um das Auftreten des inneren Kindes mit seinen impulsiven Gefühlen zu verarbeiten. Statt Ersatzgefühlen werden die ursprünglichen Emotionen zugänglich, z. B. wird hinter einer Eifersucht Angst oder Schmerz spürbar. Die erwachsene Instanz kann sich dann achtsam und liebevoll der kindlichen Gefühle annehmen und sie behutsam befrieden.  

Je deutlicher dieser Unterschied in der eigenen Psyche und ihren Äußerungen zur Kenntnis gelangt, desto weniger werden folglich Ersatzreaktionen auftreten, die im Erwachsenenleben in der Kommunikation Unklarheiten schaffen und Verwirrung stiften. Stattdessen können die kindlichen Gefühle gespürt werden, und wenn die Umstände passen, auch ins Fließen kommen und dann wieder abebben. Unsere Mitmenschen werden schneller verstehen, was los ist und können meistens besser mit den einfachen Gefühlen zurechtkommen als mit den komplexen Abwehr- und Rechtfertigungsstrategien, mit denen sich das verschreckte innere Kind hinter dem unbeholfenen Erwachsenen versteckt. 

Grundlegende Schutzgefühle 


Das innere Kind kennt vor allem diese beiden als unangenehm erlebten Gefühlsenergien, die grundlegenden Schutzgefühle: Traurigkeit und Angst. Daran schließen sich häufig Zorn und seltener Ekel an. Komplexer ist das Gefühl der Scham, weil es mit der sozialen Bewertung des eigenen Verhaltens verbunden ist. Andere Gefühle wie Neid, Eifersucht, Verzweiflung, Hilflosigkeit usw. gelten als Ersatzgefühle, denn hinter ihnen stecken Traurigkeit und Angst, und sie lösen sich auf, wenn die ursprünglicheren Gefühle gespürt und angenommen werden können. 

Zu den Ersatzreaktionen oder sekundären Gefühlen zählen auch übertriebene Freundlichkeit (statt Wut), unechtes Lachen (statt Traurigkeit), Verlegenheit (statt Angst). Es sind Reaktionen, die im Lauf der Kindheit angelernt werden, um mit schwierigen Situationen in der sozialen Interaktion zurecht zu kommen. Sie haben allerdings in der erwachsenen Welt keine Funktion mehr und wirken hemmend und störend auf das Weiterkommen und auf die kommunikativen Beziehungen. 

Der direkte Kontakt zwischen der Erwachsenenpersönlichkeit und dem inneren Kind überbrückt die sekundären reaktiven Gefühlsmuster und verbindet zur unmittelbaren Erfahrungsebene des Kindes. Es handelt sich dabei auch um einen Vorgang der Komplexitätsreduktion: Je früher die kindliche Erfahrung, desto einfacher sind die Gefühlsabläufe gestrickt und desto einfacher kann die Abhängigkeit von ihnen aufgelöst werden. Je näher die Gefühle der organischen Regulation sind, desto weniger gedankliche Muster sind beigemengt. Die Komplexität im Gefühlsleben entsteht durch die Ausbildung der Großhirnareale, die die unterschiedlichen sozialen Erfahrungen mit kognitiven Assoziationen abspeichern.  

Die Wirksamkeit der Arbeit mit dem inneren Kind beruht auf dieser Vereinfachung. Die Gefühle fühlen sich auf dieser Ebene real und stimmig an, sie brauchen kein rationales Verständnis, es genügt ganz einfach, sie zu spüren und zu akzeptieren. Denn häufig liegt die Quelle des Leidens des Kindes darin, dass die Gefühle, die es spürt, von den Menschen in der Umgebung nicht akzeptiert wurden. So blieb es allein mit seinem Befinden und fühlte sich verlassen und abgeschnitten von den wichtigen Personen in seiner Nähe.  

Um die Ängste zu bannen, die unweigerlich in solchen Situationen auftauchen, blieb nur der Ausweg, die ursprünglichen Gefühle mit Schutzmechanismen abzusichern, die darüber angelegt wurden und den Sinn haben, die soziale Anbindung wiederherzustellen und den Schaden zu reparieren. Die Verantwortung für den Schaden nimmt das Kind ganz auf sich, weil es meint, sein Fühlen wäre das, was zur Abweisung und Abneigung der Erwachsenen geführt hat. Also muss es sein Fühlen abstellen oder in eher akzeptierte Ersatzgefühle umwandeln, um wieder als liebenswertes Kind wahrgenommen zu werden.  

Wohlwollende Akzeptanz 


Deshalb ist es so wichtig, die Gefühle des inneren Kindes wohlwollend zu akzeptieren. Dass es in Ordnung ist, zu fühlen, was gefühlt wird, ist eine heilende Botschaft, die die Seele von der Notwendigkeit befreit, Gefühle gegen Ersatzgefühle auszutauschen und damit die eigene innere Wahrheit und Authentizität für die Anpassung an die Erwartungen der Umgebung zu opfern. Ich darf so fühlen, wie ich fühle, heißt so viel wie: Ich darf so sein, wie ich bin. Ich brauche mich nicht zu verbiegen, um geliebt zu werden.  

Hier beginnt die Selbstliebe, der intime annehmende und zuwendende Akt zu sich selbst. Der Weg der Selbstliebe ist immer auch eine Liebesbeziehung zum kleinen Kind in uns, dem viel von der Liebe gefehlt hat, die es gebraucht hätte. Liebe heißt, alles anerkennen, was ist, alles so sein lassen, wie es ist und alles umfassen, was ist. Für das verletzte und vernachlässigte innere Kind ist das eine neue Erfahrung, die wie Balsam auf die Wunden wirkt. 

Das spielerische Kind 


Was braucht das innere Kind noch? Es will spielen und fröhlich sein. Mit dem Kontakt zum inneren Kind begegnen wir nicht nur Schmerzen und Ängsten, sondern auch der Neugier und Spontaneität des Kindes und können sie mehr in unser Leben einladen. Begegnen wir als Erwachsene der Welt genug auf spielerische Weise oder gehen wir zu ernst mit dem Leben um? Folgen wir unserer Neugier, wenn es um Entscheidungen geht, oder mehr unseren Gewohnheiten? 

In all diesen Bereichen ist es hilfreich für die Erweiterung und Befeuerung der Lebensfreude, des Genießens und der Leidenschaft, die Energien des inneren Kindes wiederzubeleben. Damit erschließen wir die Urquellen unserer Lebendigkeit, den Fluss der Energien. Wir verbinden uns mit den Anfängen unserer Kreativität, mit der Fähigkeit des Wunderns und der Dankbarkeit für alles, was es gibt. Kinder staunen über die Buntheit und Vielgestaltigkeit der Welt, und diese Fähigkeit sollten wir nie verlieren. 
  

Das innere Kind in der Kommunikation 


Es ist auch hilfreich und förderlich für die zwischenmenschliche Kommunikation und das Zusammenleben, bei unseren Mitmenschen darauf zu achten, wenn sie in ihrem Verhalten in kindliche Reaktionen geraten. Dann fällt es uns leichter, die Gefühle dahinter zu verstehen, statt über deren ersatzweisen Ausdruck, der uns oft zur aktuellen Situation unpassend erscheint, verdutzt oder geschockt zu sein.  

Wir können besser damit umgehen, wenn jemand traurig ist oder Angst hat, als wenn jemand unkontrolliert wütend, gehässig oder unzugänglich gehemmt ist. Und wir tun uns leichter mit diesen Gefühlen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass sie nicht von unserem erwachsenen, sondern von unserem kindlichen Gegenüber kommen. In dem Maß, wie das Verständnis für das eigene innere Kind und seine Bedürfnisse wächst, wird unsere Fähigkeit zur Empathie für andere gestärkt. 

Vielleicht sollten wir uns ab und zu daran erinnern, dass wir selbst und auch die anderen Menschen ein verletztes und unverstandenes inneres Kind kennen und in sich tragen. Diese Vergewisserung kann uns helfen, verständnisvoller und gelassener im Umgang miteinander zu werden. 
  

Das innere Kind in der Therapie 


In der Therapie ist es häufig angebracht und sinnvoll, mit dem inneren Kind zu arbeiten. Das Konzept dahinter ist für die meisten Menschen intuitiv verständlich und leicht nachvollziehbar. Es ermöglicht der Klientin, sich von starken und belastenden Gefühlen zu distanzieren: Ich bin nicht dieses schlimme Gefühl, sondern ich habe es. Und das Gefühl hat mehr mit früher als mit jetzt zu tun. Seine Intensität, seine Heftigkeit stammt aus einer Erfahrung von Hilflosigkeit aus der Kindheit. Jetzt kann ich erwachsen sein und mein Leben meistern, auch wenn sich ab und zu das innere Kind mit seinen Schmerzen, seiner Verzweiflung, seiner Angst meldet. 

Gelingt es, die tiefen Gefühle dem inneren Kind zuzuordnen, wird eine innere Distanz zum Erleben möglich, ohne dass die Gefühle unterdrückt oder abgespalten werden müssen. Vielmehr wachsen in diesem Prozess das innere Verständnis und die Selbstannahme.  

Der Erwachsene kann geben, das Kind kann nehmen: Sicherheit, Vertrauen, Mut, Trost. Damit werden beide Seiten gestärkt: Das innere Kind fühlt sich in seinen Gefühlen angenommen und entlastet, während der erwachsene Teil an seiner Kompetenz, sich liebevoll um das innere Kind zu kümmern, an Fürsorge und Mitgefühl weiterlernt.  

Dabei ist darauf zu achten, dass eine gute Balance zwischen dem Erwachsenen und dem inneren Kind gebildet werden kann. Beide Seiten haben ihr Recht und ihren inneren Raum, nur gehören die Aufgaben in der Realität zum erwachsenen Ich, bei denen das innere Kind keine Führungsrolle übernehmen sollte. Es begleitet mit seinen Gefühlen und seinem Gespür all die Entscheidungen, die im täglichen Leben gefällt werden. Die Obsorge für alle Details und Schritte sowie die Verantwortung liegt aber ganz beim Erwachsenen.  

Die Therapeutin hat die Aufgabe, beide Seiten im Klienten zu stärken und dabei zu helfen, die Beziehung zwischen beiden tragfähig und offen zu gestalten. Ziel der Arbeit ist eine ausgeglichene Persönlichkeit, die offen für ihre Gefühle ist und das erwachsene Leben mit all seinen Herausforderungen meistern kann. Kreativität und Spielfreude haben ausreichend Platz neben allen anderen Aktivitäten, die zum Leben gehören. Es fällt leicht zu unterscheiden, wann sich das innere Kind meldet und wann der erwachsene Anteil aktiv ist. 

Manchmal braucht es Zeit, dass der Kontakt zwischen der Erwachsenenperson und dem inneren Kind zustande kommt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn jemand eine schwere Kindheit mit viel Ablehnung und emotionaler oder physischer Gewalt hatte. Dann kann es sein, dass das innere Kind ganz weit ins Innere zurückgezogen ist, als wollte es sich verstecken. Es zeigt sich verzagt und scheu. Hier ist viel Geduld notwendig, um sich langsam und schrittweise anzunähern und eine Vertrauensbrücke zu diesem verschreckten Kind aufzubauen. Dann entsteht zunehmend ein Raum für fürsorgliche und warme Gefühle, die der Klient in der Folge auch in anderen Bereichen seines Lebens einbringen kann. 

Die innere Beziehung zwischen den kindlichen und den erwachsenen Anteilen stiftet eine Kontinuität in der Lebensgeschichte, die auch die oft schwierigen Übergänge zwischen den einzelnen Lebensphasen enthält. Alle Erfahrungen, die angenehmen und die unangenehmen, haben ihren Platz und finden ihre Würdigung. An die Stelle eines unvollständigen Mosaiks von isolierten Fragmenten tritt ein eindrucksvolles Gesamtkunstwerk, das die eigene Lebensgeschichte repräsentiert. 

Zum Weiterlesen:
Der Raub des Selbst
Das Ja zum Selbst
Die interne Kommunikation pflegen

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