Mittwoch, 16. November 2011

Liebe und Hass - eine Polarität?

Manchmal hört man in esoterischen Zusammenhängen: „Hass ist die Kehrseite der Liebe.“ Liebe und Hass hätten die gleiche Schwingung und seien entgegengesetzte Pole des gleichen Spektrums. Was man liebe, müsse man gleichermaßen hassen. Und wenn man jemanden hasst, heißt das, dass man ihn in Wahrheit oder andererseits zugleich liebe. Im Hass drücke sich nur aus, wie wichtig die andere Person wäre.

Wieder eine Falle des Polaritätsdenkens? Hier kommt noch eine Querverbindung dazu, denn das Liebe-Hass-Konzept erinnert an die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Eines derer Merkmale liegt im schnellen Umschlagen von „Liebe“ zu Hass: Menschen werden zunächst verehrt und angebetet, und nach dem Umschwung des Gefühls abgewertet, abgelehnt und gehasst. Im Erleben des Borderline-Leidenden schwingt das Pendel einmal in die eine und einmal in die andere Richtung.


Das Grundproblem des Borderliners (und so ist es wohl in unterschiedlichen Ausmaß bei jedem Neurotiker und egofixierten Menschen, also bei fast jedem Menschen) liegt darin, dass Liebe mit einer Form der Abhängigkeit verwechselt wird. Wir fühlen uns zu jemandem oder zu etwas hingezogen und können nicht mehr davon lassen. Wir nennen (in Ermangelung eines Besseren) diese Form der Anziehung und Anbindung „Liebe“. Da solche Formen der Abhängigkeit anfangs mit angenehmen bis überwältigenden Gefühlen einher gehen (z.B. wenn wir uns verlieben), meinen wir, das müsse Liebe sein. Tatsächlich jedoch „lieben“ wir uns nur selbst in unseren Projektionen: Was wir gerne hätten oder wie wir gerne wären, sehen wir in der anderen Person und lieben sie dafür. Sobald sich zeigt, dass es zu den Sonnenseiten der Person auch Schatten gibt, ist der Zauber verschwunden und damit auch die Liebe.

„Sie lieben diejenigen ohne Maß, die sie ohne Grund hassen werden",  hat schon Thomas Sydenham im 17. Jahrhundert über solche Personen gesagt. Modern wird gereimt: „Ich hasse dich, verlass mich nicht.“

Die Projektionen des Borderliners stammen aus dem Reich der Polaritäten und haben häufig eine Entweder-Oder-Gestalt: Entweder liebt sie mich oder sie hasst mich. Das sehe ich daran, wie sie mich anschaut oder welche Worte sie gebraucht oder mit wem sie redet und mit wem nicht, wie viel sie mir gibt und was sie mir schuldig bleibt usw.


Diese Form der „Liebe“ arbeitet vorzugsweise mit Bedingungen: „Wenn du tust, was ich will, kann ich dich lieben, wenn du es nicht tust, muss ich dich hassen.“ „Wenn du dich verhältst, wie ich es will, liebst du mich, wenn nicht, dann hasst du mich.“  Ein Drittes gibt es nicht. Und Freiheit gibt es damit auch keine.

Gibt es die bedingungslose Liebe, oder ist sie immer an den Hass geknüpft, sodass wir gar nicht danach suchen sollten, möglichst viel Liebe in unser Leben zu bringen, weil umso mehr Hass die Folge sein würde? Wenn wir uns aus dem dualen Weltbild lösen und es dem angstgebundenen Bereich der Schutzgefühle zuweisen, also davon ausgehen, dass polares Denken aus einer tieferliegenden Quelle der Angst gesteuert ist, dann können wir erkennen, dass Liebe jenseits von Abhängigkeit und Bedingtheit im Raum des Fließens zuhause ist.


Polarität ist geprägt von einem Eingebundensein in eine Struktur der Enge und Beschränktheit. Manchmal suchen wir den Ausweg aus dieser Begrenztheit in der Mitte zwischen den Polen. Viele Weisheitslehrer haben diesen Mittelweg als den Weg der Tugend angepriesen. Doch setzt der Weg der Mitte die Pole voraus, und ihre Herkunft aus der Angst wird damit überdeckt. Die Mitte zwischen den Extremen wäre dann der Ort der geringsten Angst, aber nicht der Freiheit von Angst. Es wäre der Ort, an dem wir uns in relativer Sicherheit wähnen, und uns hüten müssen, in einen der Pole abzurutschen. Wir hoffen, in der Mitte den Frieden zu finden.

Doch der Friede liegt im freien Fließen, und wir erreichen ihn, wenn wir uns aus der Zone der Angst wegbewegt haben. Wir sind dort, wenn unser Atem offen und entspannt fließt, ohne Ecken und Kanten. Wir schwingen, unsere Körperzellen vibrieren, und wir fühlen uns im Einklang mit der Natur und Natürlichkeit unseres Körpers.

Das ist der Weg zurück in die Welt des Analogen, in die Welt der Kreativität und Allverbundenheit. Wir brauchen keine Angst zu haben vor dem Digitalen und seinen Polen. Sie sind Ausdruck unseres beschränkten Verstandes, der uns Sicherheit geben will, wenn unsere Innen- und Außenwelt turbulent und unübersichtlich wird. Wenn wir auf unseren Atem hören, gibt er uns die Zeichen, die Wegweiser, wie wir wieder zurück finden in unsere Urheimat, die in der Verbindung mit dem Fließen des Lebens besteht, das alles umfasst, die ganze Bandbreite mit allen Extremwerten.

Zum Weiterlesen:
Hass und Liebe: Vom Mangel zur Fülle

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