Freitag, 29. Dezember 2017

Das Ja zum Selbst

Psychologen behaupten gerne: Was immer wir
an der Welt (den Gegebenheiten, den anderen Menschen) nicht akzeptieren können, hat mit etwas zu tun, was wir an uns selber nicht akzeptieren können. Anders ausgedrückt: Wenn wir die Welt, so wie sie ist, ablehnen, lehnen wir uns selbst ab. Diese Gleichung muss keine absolute Wahrheit sein, aber wir können sie als heuristische Hypothese verwenden, also als eine Annahme, die uns zu Erkenntnisgewinnen verhelfen kann. 

Die Welt an sich ist bekanntlich weder gut noch böse, es ist unsere Interpretation, die sie dazu macht. Wir färben die Welt nach unseren Vorlieben und Abneigungen und den daraus geformten Filtern und Mustern, die sich in sehr früh einsetzenden Lernprozessen gebildet haben und sich durch jede Erfahrung laufend weiterentwickeln. Diese erworbenen Voreingenommenheiten werden aktiviert, wenn wir ablehnen, was sich in unserem Leben gerade abspielt. Durch die Übung des kategorialen Akzeptierens, wie sie im vorigen Artikel beschrieben wurde, können wir auf solche Lernprozesse Einfluss nehmen und den Spielraum des Akzeptierens erweitern und mehr an innerer Freiheit gewinnen.


Nichts Menschliches ist uns fremd


Wir kennen alle Aspekte des Menschlichen, manche mehr, manche weniger. Wir tragen die Liebende in uns und die Hassende, den Mörder und das Opfer, den Friedfertigen und den Kämpfer, das Schnelle und das Langsame usw.

Erziehung besteht oft in einer Serie von Bewertungen mit Stärken/Schwächen-Analyse: Das hast du gut gemacht, das könnte noch besser sein, dass solltest du nie mehr wieder tun. Der emotionale Ton dieser Rückmeldungen, die ein Kind im Lauf seines Aufwachsens bekommt, bewirkt die Stärke der Einprägung. Je stärker die gefühlsmäßige Ladung in die Nähe zur Drohung eines Liebesentzugs oder Beziehungsabbruches neigt, desto mächtiger ist der Einfluss auf die Schwächung der Selbstakzeptanz. Dazu kommt, dass sich die Drohung nicht nur auf Verhaltensweisen, sondern auf die Person bezieht, zumindest nehmen es Kinder so wahr, wenn der Unterschied nicht deutlich gemacht wird. Auf diese Weise lernt das Kind, bestimmte Aspekte seines Selbst zu unterdrücken: Was die Bindungssicherheit mit den Bezugspersonen gefährdet, muss unterlassen werden und im Rahmen des Gefühls- und Verhaltensrepertoires auf die Negativseite verbucht werden.  Es erhält Etikette wie „schlecht“, „böse“, negativ“, „lieblos“ usw. Der Bereich der Selbstakzeptanz wird um all diese Inhalte verringert.

Von außen wird schnell klar, dass Eltern dort mit Drohungen arbeiten, wo sie sich selbst bedroht fühlen: Sie kommen mit Gefühlen ihrer Kinder nicht klar, weil sie diese an unverarbeitete eigene Kindheitstraumen erinnern oder haben die Angst, dass die Kinder die gesellschaftlichen Erwartungen nicht erfüllen können, wenn sie nicht einer bestimmten Form der Erziehung, die mit Drohungen arbeitet, unterzogen werden. Doch das Kind kann nicht durchschauen, dass Eltern in ihrem Selbstbezug gestört sind, sondern sucht die Ursache des Abgelehntwerdens in sich selbst. Der Liebesentzug als Erziehungsmittel beinhaltet eine kategoriale Ablehnung, und folglich muss sich das Kind in seiner Existenz in Frage gestellt fühlen. Sein Selbstsein wird nur unter bestimmten Bedingungen akzeptiert, und auf dieser schmalen und unsicheren Basis kann das Kind nicht lernen sich selbst zu akzeptieren. Was es erlernt, ist die bedingte Akzeptanz: Wenn ich so oder so bin (sprich: mich verhalte), bin ich akzeptiert und werde ich geliebt, sonst nicht. 

Diese bedingte Akzeptanz wird zugleich zur bedingten Selbstannahme. Das Kind teilt sein Inneres in gute und in böse oder schlechte Teile auf, die guten sucht es zu stärken und die schlechten durch Abwertung zu unterbinden. Auch die neutralen, von den Eltern nicht bewerteten Aspekte der eigenen Persönlichkeit können den Selbstwert nicht stärken; Menschen sind manchmal irritiert, dass sie von anderen für Eigenschaften oder Fähigkeiten geschätzt und bewundert werden, von denen sie annehmen, dass es sich nur um Selbstverständlichkeiten handelt. Manche Eltern vermitteln offenbar ihren Kindern die Einstellung, dass es nur zwei Kategorien kindlichen Verhaltens gibt: Solches, das schlecht ist und solches, das selbstverständlich ist und keiner besonderen positiven Erwähnung bedarf. 

Die Selbstakzeptanz entwickelt sich in dem Maß und in der Qualität, wie sie als Akzeptanz von außen vermittelt wurde. Positive Annahme durch die Eltern macht es Kindern leicht, sich selbst anzunehmen; vorherrschende kritische und ablehnende Eltern erziehen Kinder zu geringer Selbstakzeptanz. Der Grad an Selbstakzeptanz, den später dann die erwachsene Person aufweist, ist ein Spiegel des erlittenen Kindheitsschicksals. 

Im nächsten Schritt werden die erlittenen Mängel und Liebesbedrohungen auf die Umgebung projiziert und spiegeln sich von dort zurück in all den Aspekten, die an ihr nicht akzeptiert werden können. Die Welt ist schlecht, weil mir beigebracht wurde, dass meine Innenwelt schlecht ist. Im Außen wird bekämpft, was im Inneren verboten ist. Zum Beispiel werden bestimmte, der Norm nicht entsprechende sexuelle Verhaltensweisen aggressiv abgelehnt, die im eigenen Inneren nicht sein dürfen. Oder es werden auf schwache Randgruppen Bedrohungen projiziert, die ihre Wurzeln in der liebesarmen Kindheit haben.


Der Spiegel im Spiegel


Was wir am wenigsten an uns selbst akzeptieren können, zeigt die Lücken und Löcher auf, die die emotionalen Mangelerfahrungen unserer Kindheit in unserem Selbstbild hinterlassen haben. Deshalb machen wir die Welt dafür verantwortlich und trennen uns von ihr durch das Nicht-Akzeptieren. Diejenigen Elemente der Außenwelt, die uns aus unserer Mitte werfen und unsere Lebenszufriedenheit schmälern, sollen verschwinden. Sie sind schuld an unserer Misere.

Wir haben es also mit einer verdoppelten Spiegelung zu tun, einem Spiegel im Spiegel: die Wirklichkeit spiegelt uns unsere unbewussten Lücken der Selbstakzeptanz. Diese Schwächen spiegeln die Mängel wieder, die wir in der Kindheit erlitten haben. In dieser Doppelspiegelung verzerrt sich unser Bezug zur Wirklichkeit zweifach. Wir haben eine Illusion und eine Illusion der Illusion aufgebaut. 

Die doppelte Absicherung der Wirklichkeitsverzerrung macht es besonders schwierig, sie zu durchschauen und zu korrigieren. Die Abwehrstrategien unseres Verstands sind zu ihrer Verteidigung aufgestellt, bereit, sofort aktiv zu werden, sobald etwas um uns herum unser enges Konzept der Selbstakzeptanz bedroht.

Unschwer können wir erkennen, dass Demagogen, Populisten und Prediger diese Mechanismen ausnutzen. Sie nutzen die inneren Bedrohungsszenarien ihrer Anhänger für ihre eigenen Zwecke aus und können sich auf die Doppelsicherung der inneren Abwehr verlassen. Sobald jemand die Sprache der eigenen Ängste spricht, bekommt er das ungeprüfte Vertrauen.


Der Weg zur Selbstakzeptanz


Die Entwirrung ist nicht einfach und bedarf der inneren Arbeit. Sie geht den entgegengesetzten Weg: Was uns an der Wirklichkeit stört, sodass wir es nicht akzeptieren können, verweist auf eine Schwäche im Selbstbezug, und diese hat ihre Wurzel im Mangelerleben während der eigenen Kindheit. Übernehmen wir die Verantwortung für unser Schicksal und beginnen, uns mit unseren Mängeln zu akzeptieren, steigt auch unsere Bereitschaft und Fähigkeit, konstruktiv mit den Schwächen unseres Wirklichkeitsbezugs umzugehen, sodass wir schneller akzeptieren können, was ist, und zur aktiven Änderung schreiten können, wenn etwas geändert werden kann oder uns mit dem abzufinden, was zu verändern nicht in unserer Macht liegt, getreu dem berühmten Gelassenheitsgebet: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ (Reinhold Niebuhr)

Jeder von uns ist ein einzigartiges Ensemble an Stärken und Schwächen – aus Dingen, die uns leichtfallen und die wir gut zuwege bringen, und Dingen, mit denen wir uns schwer tun und mit denen wir kämpfen. Gerade diese Mischung macht uns zu dem, was wir sind. Es hilft nichts, wenn wir uns wegen unserer Schwächen selbst geißeln. Es hilft auch nicht, wenn wir uns mit unseren Stärken brüsten und unsere Schwächen verstecken. Wir kommen nur weiter, wenn wir bereit sind, uns selber mit unseren Schwächen zu akzeptieren, also uns in unserer Unvollkommenheit anzunehmen. Das ist der Hintergrund, vor dem wir an unserer Entwicklung arbeiten können: Schwächen zu verbessern und Stärken auszubauen. Zur Selbstakzeptanz gehört, dass wir uns in unseren eigenen Formen des Lernens und Entwickelns annehmen, statt uns blind mit anderen zu vergleichen oder deren Strategien zu übernehmen. Wir brauchen uns selbst nicht wegen unserer Schwächen abzuwerten, da wir wissen, dass wir lern- und entwicklungsfähig sind und nie so bleiben können, wie wir gerade sind und dass gerade unsere Schwächen einen starken Anreiz zum Verändern bieten.

Wir sind in unserer Einzigartigkeit wunderbare Projekte im Werden. Wir wissen nicht einmal, wohin uns unsere innere Evolution führen wird und vor welche Herausforderungen unsere Fähigkeit zur Selbstakzeptanz noch gestellt sein wird. Krankheiten, Unfälle, Alterungsprozesse, Todesfälle, Katastrophen aller Art: Können wir das Leben akzeptieren, wenn es sich nicht von seiner Schokoladenseite zeigt? Und können wir und uns selbst akzeptieren, wenn wir folgenschwere Fehler machen, an uns selbst scheitern, körperlich oder geistig nicht mehr mithalten können? Hier liegen die Wachstumschancen, die uns das Leben anbietet, um unsere Akzeptanz, unsere Selbstannahme zu vertiefen. Was auch immer das Leben mit uns vorhat, je stabiler wir die Selbstakzeptanz in uns verankern können, desto leichter werden wir trotz aller unvorhersehbarer Strömungen und Windverhältnissen auf unserem inneren Kurs bleiben können.

Es gibt dazu sogar eine noch weisere Stimme, die dir zuflüstert: Welchen Kurs du auch immer durch dein Leben segelst – es ist immer dein Weg, an dem alles seine Stimmigkeit hat: die Art und Weise, wie du dein Selbst akzeptierst oder verleugnest, die Art und Weise, wie du die Welt akzeptierst oder ablehnst, die Art und Weise deines Lernens und Wachsens sind genauso, wie sie sind, von der tiefsten Kraft des Lebens akzeptiert. Du brauchst dich ihr nur anzuschließen und hinzugeben: Im bedingungslosen Ja zu dir selbst.

Zum Weiterlesen: 
Sag Ja zum Moment
Unterschiede im inneren Wachstum

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