Wir sprechen gerne von einer falschen Bescheidenheit, z.B. wenn jemand "sein Licht unter den Scheffel stellt", oder wenn sich jemand, um Lob heischend, bescheiden gibt, mit dem hintergründigen Wunsch, dafür besonders gelobt zu werden.
Wir sind immer um realistische Bilder unserer Mitmenschen bemüht und wollen uns mit ihnen auskennen, alles, was diese Einschätzungen durcheinanderbringen könnte, wollen wir zurechtbiegen. Es soll das Innere dem Äußeren entsprechen, nur so können wir gut mit den anderen. Diskrepanzen zwischen der Selbsteinschätzung und der Weise, wie wir sie von außen einschätzen, verunsichern uns und wir wollen korrigieren eingreifen.
Das kann passieren, wenn sich jemand über Gebühr hervortut und wichtig macht oder mit seinen Erfolgen und Begabungen aufschneidet, oder wenn sich jemand übermäßig bescheiden gibt. Wenn solche Diskrepanzen auftauchen, neigen wir dazu, einen Hintersinn zu vermuten: Der Angeber will besonders viel Bewunderung, um sich über uns selbst stellen zu können. Der Untertreiber will ebenso bewundert werden, allerdings über einen Umweg. Also zeihen wir dem einen die Unmäßigkeit und dem anderen die Selbstverleugnung. Damit wollen wir die andere Person auf ihre Mitte hinweisen, in der es uns am leichtesten fällt, von gleich zu gleich zu begegnen.
Die Bewunderungskollusion
Natürlich gibt es auch Abweichungen von dieser weit verbreiteten Prozedur, vor allem dann, wenn Übertreiber und Untertreiber zusammenkommen. Der eine braucht Bewunderung, der andere bewundert gerne. Der eine holt sich seinen Selbstwert vom anderen, der ihn bereitwillig hergibt.
Wir befinden uns in der narzisstischen Kollusion nach Jürg Willi. Der Narzisst giert nach Bewunderung, der Co-Narzisst gefällt sich als Bewunderer. Die Konstellation ist selten stabil, weil der Co-Narzisst auf Dauer nicht auf Anerkennung verzichten will. Schließlich untertreibt er die eigenen Leistungen und Qualitäten, um von den anderen davon überzeugt zu werden. Doch dazu ist eben der Narzisst nicht in der Lage. Er sammelt selber die positiven Rückmeldungen ein und kommt nicht auf die Idee, sie wieder auszuteilen. Allerhöchstens gibt es eine Wertschätzung für die fälligen Bewunderungen, nicht aber für die Bewunderer und deren Vorzüge.
Das Fischen nach Komplimenten wird nicht gerne gesehen, weil es die spontane Reaktion unterbinden will und eine Kanalisierung verlangt, damit eine Ablehnung vermieden wird. Die Devise ist: Bestätige mich positiv, weil ich mich selber negativ bewerte. Gib mir, was ich mir selber nicht zugestehe. In diesem Sinn kann das Zitat von Baruch Spinoza verstanden werden: "Die Bescheidenheit ist eine Art des Ehrgeizes." (Ethik) Man könnte auch sagen, es ist der Ehrgeiz nach Bestätigung, der sich das Mäntelchen der Selbstgenügsamkeit und Selbstverkleinerung umgehängt hat, um umso mehr Ruhm einzuheimsen.
Die echte Bescheidenheit
Davon sollten wir die echte Bescheidenheit unterscheiden. Sie besteht darin, sich selber und die eigene Bedeutung in der Welt weniger wichtig zu nehmen als es das eigene Ego fordert. Sie reduziert nicht den eigenen Wert, aber sieht gleichzeitig all die anderen Werte und Wertigkeit im Netz des Weltgeschehens.
Sie beruht darauf, zu erkennen und anzuerkennen, dass die eigenen Errungenschaften vielem mehr als nur sich selber geschuldet sind. Alles aus der eigenen Kraft Erreichte und Geschaffene verdankt sich der Formung und Förderung dieser Kraft durch Nicht-Eigenes. Die Bescheidenheit geht Hand in Hand mit der Haltung der Demut, die sich selbst von allem eigenen Erschaffen und Erreichen unterscheidet und sich nichts zumisst, was anderem verdankt ist. In diesem Sinn hat Friedrich Nietzsche die wahre Bescheidenheit mit der Erkenntnis gleichgesetzt, "dass wir nicht unsere eigenen Werke sind." (Menschliches, allzu Menschliches 588)
Das, was da ist, wertzuschätzen, in seinem inhärenten Reichtum, in seiner Schönheit, in seiner Qualität, statt auf das zu schielen, was die anderen haben oder was es sonst noch zu haben gäbe - das sind Merkmale einer wahren Bescheidenheit. Sie will nicht auftrumpfen mit dem Gehabe des Habens und auch nicht wehklagen über den Mangel des Nichthabens, sondern bescheidet sich mit dem, was da ist und was aus dem, was ist, von sich aus erwächst. Sie langt nicht gierig und maßlos über die Grenzen des Vorhandenen hinaus, um von dort die Heilung, Erlösung oder Befriedigung zu erwarten. Sie erweitert sich nach dem Maß des inneren Wachsens statt nach den Vorgaben der sozialen oder ökonomischen Standards.
Bescheidenheit findet sich in jedem Akt der Dankbarkeit für alles, was das Leben geschenkt hat und schenkt. Sie schätzt das Größere, über die eigene Selbstmächtigkeit Hinausgehende, als Quelle und Rahmen für das eigene Vollbringen. Sie sieht sich in einer Reihe von Vorfahren und Ahnen, deren Erbe weitergeführt wird, im bestmöglichen Dienst für die kommenden Generationen und deren Wohl.
Ein notwendiges Ideal für eine nachhaltig handelnde Menschheit
Bescheidenheit heißt auch, die eigene Bedürfnislage zu reflektieren und die überbordenden Ideale, Ansprüche und Angebote der Konsumgesellschaft zu distanzieren. Sie ist eine Tugend, die jeden Wahn, durch das Anhäufen von Gütern zur eigenen Glückseligkeit zu gelangen, durchschaut und seinen Verlockungen entgeht. Sie geht den Weg der Selbstgenügsamkeit, der Suche nach Zufriedenheit im Geist der Einfachheit.
Echte Bescheidenheit, die nicht sich aus einer inneren Mangelerfahrung eine Maske der Rechtschaffenheit aufsetzt, sondern jedes Mangelbewusstsein überwunden hat und die Fülle jedes Moments genießen kann, ist die Tugend, die für eine nachhaltig wirtschaftende Welt notwendig ist. Der Wahn des schrankenlosen Produzierens und Konsumierens ist das, was die Welt in den Abgrund führt. Dieser Wahn gründet auf unbefriedigten Ego-Wünschen, die durch die Mechanismen der Werbewirtschaft gefüttert und erweitert werden und, weil ihre Wurzeln in emotionalen Mängeln liegen, die so viele als Kinder erlitten haben, durch die produzierten Güter niemals gestillt werden können.
Die moderne Wachstumsideologie hat uns eingepflanzt, dass die Wirtschaft unendlich weiter wachsen muss, damit es uns besser und besser geht. Je mehr Güter produziert werden, desto mehr Wohlstand und desto mehr Lebensglück für die meisten, so das Programm. Es ist die Einladung zur Unbescheidenheit, zur Maßlosigkeit und Gier, wie sie die Grundlage des kapitalistischen Wirtschaftens kennzeichnet. Es wird keinerlei Rücksicht genommen auf den Eigenwert der Ressourcen, aus denen wir unsere Reichtümer schöpfen. Vielmehr werden diese ausgebeutet, auf Kosten aller künftigen Generationen. Hier und jetzt soll dem maximalen Lustgewinn nichts im Wege stehen, was danach kommt, ist egal.
Die Verantwortung für ein gerechtes und ausgeglichenes Weiterleben der Menschheit auf diesem Planeten wird ohne die Kultivierung der Tugenden der Bescheidenheit, Demut und Dankbarkeit nicht zu bewerkstelligen sein. Wir können ihr nur gerecht werden, wenn wir unsere eigenen Ansprüche immer wieder am Gemeinwohl, an den Grundbedürfnissen aller und an den notwendigen Lebensbedingungen künftiger Generationen bemessen.
Der Volksmund meint spöttisch: "Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr", doch sollten wir uns vielleicht mit einer Umformulierung anfreunden: "Bescheidenheit ist eine Zier, und nix wird's ohne ihr."
Zum Weiterlesen:
Passive und aktive Demut
Dankbarkeit - die hohe Schule der Lebenskunst
Demut als spirituelle Haltung
Zurück zur organischen Selbststeuerung
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen