Montag, 9. April 2018

Absichtslosigkeit in der Therapie

Wenn wir mit Menschen an emotionalen Themen arbeiten, wollen wir, dass es ihnen besser geht – natürlich. Auch sie wollen das, sonst würden sie sich nicht an uns wenden. Wir teilen also ein Ziel. Doch gibt es etwas, was der Erreichung dieses Ziels im Weg steht. Bei den Klienten sind es die Widerstände, und bei den Therapeuten die Erwartungen. In beiden Fällen mischt sich die Instanz ein, die wir das Ego nennen. Das Klienten-Ego will, dass der Status Quo erhalten bleibt, auch wenn er Leiden verursacht. Jede Änderung könnte bedrohlich sein und unabsehbare, jedenfalls verschlimmernde Folgen zeitigen. Das Therapeuten-Ego will Erfolge sehen, um den eigenen Status und Selbstwert abzusichern und auszubauen. Erfolgreiche Therapien sprechen sich herum und ziehen neue Klienten an.

Soweit so menschlich. Interessant wird es dort, wo die unbewussten Ego-Anteile von Therapeut und Klient aufeinander stoßen. Das Klienten-Ego sagt, dass es sich nicht ändern will und dass Änderungen überhaupt nicht geschehen können und dass die ganze Arbeit sowieso sinnlos ist. Folglich baut es ein System von Vermeidungen auf, das auch darin bestehen kann, kleine Häppchen von Erfolgen zuzulassen, damit die wirklich dicken Hunde, die im Unbewussten schlummern, geschont werden.

Das Therapeuten-Ego arbeitet sich an den Widerständen des Klienten-Egos ab und denkt, dass es umso mehr leisten muss, je weniger sich bewegt. Das eigene Wollen und die eigenen Absichten treten immer mehr in den Vordergrund, weil sich das Therapeuten-Ego im Bündnis mit den bewussten Absichten des Klienten weiß, aber die Widerstände aus dem Unbewussten nicht berücksichtigt werden.

Auf diese Weise verheddern sich die beiden Egos, und die Therapie tritt auf der Stelle. Fatal wird es, wenn der Therapeut diese Rückkoppelung nicht erkennt und auf seiner Selbstbestätigungsschiene weitermacht, die meistens dann die inneren Widerstände der Klientin verstärken.  Zwar möchte ein bewusster Aspekt der Klientin eine gute Klientin sein und versucht zu kooperieren, aber die unbewussten Vermeidungsstrategien sollen unangetastet bleiben. 


Absichtsloses Begleiten


Absichtslosigkeit bedeutet, dass der Therapeut sein Wollen und seine Erwartungen beiseite stellt. Sie sollen sich, soweit möglich, nicht in den Prozess einmischen. Statt sich mit den Widerständen aus dem Klienten-Ego zu duellieren, wird der Kontakt zum inneren Wachstumspotenzial der Klientin gesucht. Was sie hergeführt hat, ist eine Form des Leidens und die Hoffnung, dass es einen Ausweg daraus gibt. Es gibt also, trotz aller Widerstände, einen Teil in der Psyche, der sich befreien will und der daran glaubt, dass das auch möglich ist. Diese Instanz wird manchmal als „innerer Heiler“ bezeichnet.

Der Kontakt zu diesem Teil gelingt nicht über die Erwartungen und die Ego-Wünsche des Therapeuten, sondern erfordert Vertrauen. Die Pläne sollten Sicherheit geben, nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Das Ego mag Kontrolle und meidet Unsicherheiten und Ungewissheiten. Das Vertrauen hingegen baut auf einen guten Ausgang, ohne einen rationalen Grund dafür angeben zu können. „Vertraue nur, es wird schon werden,“ so seine Botschaft, auf die das Ego routinemäßig mit einer Latte von Wenn und Aber reagiert. Übersteht das Vertrauen das Abspulen der Ängste, die sich in all den Einwänden verbergen, kann es seine Wirkung entfalten, und die besteht darin, dass das Vertrauen der Klientin geweckt wird, das plötzlich einen Ansprechpartner gefunden hat. Zunehmend traut es sich dann, am Heilungsprozess mitzuwirken.

Auf den Prozess zu vertrauen heißt, nicht wissen zu können, wie er verlaufen wird und ob er überhaupt zu etwas führt oder auf welchen Wegen er zum Erfolg führt. Jeder therapeutische Vorgang, sei es eine Sitzung oder eine längere Serie, ist individuell und in dieser Form noch nie dagewesen; insofern ist es auch sinnlos zu meinen, es gäbe eine vorher festgelegte erfolgversprechende Strategie, die, wenn richtig angewendet, unweigerlich positive Veränderungen herbeiführt. Ein derartiges Wissen kann es nicht geben, auch wenn der Therapeut über die besten Techniken Bescheid weiß und über jahrzehntelange Erfahrung mit hunderten Klienten verfügt. Selbst wenn die Rahmenbedingungen stimmen, sodass es von dort aus zu keinen Störungen kommt, ist noch lange nicht garantiert, dass am Ende die erwarteten oder erwünschten Resultate eintreten.


Eine Kunst und kein Handwerk


Therapeutisches Arbeiten ist eine Kunstgattung eher als ein Handwerk. Zwar bedarf es einer soliden und umfassenden Ausbildung, um überhaupt mit der Tätigkeit beginnen zu können. Aber die eigentliche Herausforderung beginnt erst in der Praxis – gelingt es, den Kontakt mit der Klientin so umfassend herzustellen, sodass sich auch die Kommunikationskanäle auf den unbewussten Ebenen öffnen? Ähnlich wie ein Künstler darauf vertrauen muss, dass ein innerer schöpferischer Prozess in Gang kommt, der sich nicht im Voraus sicherstellen und planen lässt, braucht das therapeutische Arbeiten ein Sich-Einlassen auf das, was von Moment zu Moment geschieht, und das Vertrauen, dass diese Haltung alle nötigen Impulse für das Gedeihen des Prozesses hervorbringt.

Es ist eine innere Einstellung gefordert, die sich auf die Gesetzmäßigkeiten des kreativen Schaffens verlassen kann. Wie der Künstler vor dem leeren Notenblatt oder der weißen Staffelei steht der Therapeut vor dem gerade aktuellen Zustand der Klientin – möglichst offen für die Eingebungen, die aus der Situation entspringen. Die kumulative Erfahrung, die ein Therapeut durch seine Praxis sammelt, ist nicht nutzlos, denn sie bringt die Vertiefung dieser Einstellung und damit des Vertrauens mit sich.


Interventionen oder Geschehenlassen


Die Frage, ob und wieviele, wann, wo und wie Interventionen gesetzt werden sollen, die in vielen Ausbildungen diskutiert und in zahlreichen Lehrbüchern abgehandelt wird, erweist sich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wenn nicht als nutzlos und überflüssig so zumindest sekundär. Es ergibt sich das, was geschehen soll, aus dem jeweils aktuellen Moment, und die Intervention oder Nicht-Intervention gelingt genau dann, wenn der Therapeut mit diesem Moment in seiner Präsenz verbunden ist und sich aus dieser Verbundenheit heraus aktiv oder passiv verhält.

Ausbildungen können und sollen ein Repertoire an möglichen Interventionen vermitteln. Über je mehr an solchem Rüstzeug ein Therapeut verfügt, umso flexibler kann er in seiner Arbeit auf die unterschiedlichsten Situationen reagieren. Der Kern jeder Ausbildung sollte aber um eine Haltung zentriert sein, die den Methoden den Nachrang vor der bedingungslosen und absichtslosen Offenheit einräumt.

Aus dieser Einstellung heraus kann der Therapeut als Sprachrohr des inneren Heilers der Klientin agieren, zu dem diese gerade keinen Zugang hat. Über diesen Umweg, vermittelt über die Persönlichkeit des Therapeuten, kann dann die Botschaft angenommen werden, die eigentlich der eigenen inneren Wahrheit auf einer tieferen Ebene entspricht. Das nennt man manchmal das Spiegeln, obwohl es nicht genau passt. Zwar spricht der Therapeut in gewisser Weise mit der Stimme und mit den Worten oder Gefühlen der inneren Heilerin der Klientin, aber in Verbindung mit seiner eigenen Wesensart.


Aktivität und Passivität


Es sollte aus diesen Ausführungen klar hervorgehen, dass das Vertrauen auf den Prozess, das als wesentlicher Wirkfaktor von jeder Form des therapeutischen Arbeitens beschrieben wurde, nicht bedeutet, dass der Therapeut zur Passivität verurteilt ist. Das Geschehenlassen findet nicht nur auf der Seite des Klienten, sondern auch auf der des Therapeuten statt. Die Aktionen oder Nichtaktionen, die vom Therapeuten ausgehen, geschehen aus ihm heraus, aus seiner inneren Quelle und aus der Kommunikation mit der Klientin, auf allen verfügbaren Ebenen. Der Therapeut sagt und tut also nicht, was aufgrund irgendeines Lehrbuchs oder irgendeiner Ausbildung zu sagen und zu tun wäre, sondern das, was im Moment des Geschehens entsteht und stattfinden soll. Er schweigt nicht dann, wenn es eine Regel vorgibt, sondern wenn gerade nichts zu sagen ist. Er wechselt die Ebenen des Austauschs, z.B. vom Reden zum Fühlen nicht nach irgendeinem Plan, sondern dann, wenn es am besten passt, in Übereinstimmung mit der Klientin, die explizit oder implizit sein kann.

Diese Darstellung übersieht auch nicht die individuellen Eigenschaften, Charakterzüge und Persönlichkeitsmerkmale des Therapeuten, die im therapeutischen Prozess ebenso eine wesentliche Rolle spielen. Es handelt sich ja um einen vieldimensionalen Kommunikationsprozess, an dem zwei Individuen beteiligt sind, und da bringt sich der Therapeut mit allem ein, was ihn auf der Persönlichkeitsebene ausmacht. Ausgeklammert bleiben sollen die Details, die Lebensgeschichte und inneren Themen aus der psychischen Landschaft des Therapeuten. Soweit sie aber ihre Spuren in der lebendigen Gestalt hinterlassen haben, spielen sie ihre Rolle in der Kommunikation und können nicht eliminiert werden, denn sie bereichern den Austausch (was einen uneinholbaren Vorsprung von menschlichen Therapeuten gegenüber artifiziell intelligenten Robotern ausmacht, die über keine lebendige Geschichte verfügen). Die Innenarbeit, die für jede professionelle Arbeit vorausgesetzt werden muss, sollte es allerdings dem Therapeuten ermöglichen, alle Elemente aus dem eigenen Inneren, die den therapeutischen Prozess stören könnten, zu identifizieren und beiseite zu stellen.


Die Verantwortung für die Ergebnisse


Jede therapeutische Arbeit hat nur soweit Sinn, als sie Verbesserungen herbeiführt. Gemeinhin würde man sagen, dass die Verantwortung allein beim Therapeuten liegt, da ja die Klientin nicht in der Lage ist, abzuschätzen, ob und in welcher Weise ein Heilungsprozess in Gang kommen kann. Im Licht der obigen Überlegungen gewinnt die Frage nach der Verantwortung für den Fortschritt in der Therapie eine andere Gewichtung. Die Verantwortung auf der Seite des Therapeuten besteht vor allem in der Sicherstellung heilungsförderlicher Rahmenbedingungen, im Angebot an professioneller Hilfestellung im Sinn von bewährten Methoden und in dem Einbringen der beruflichen und persönlichen Erfahrungen. Dazu kommt noch die Haltung und Einstellung, die auf den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zur Instanz der inneren Heilung bei der Klientin abzielt. An diesem Punkt wird die Verantwortung an einen Prozess übergeben, der gerade nicht der Kontrolle durch den Therapeuten unterliegt, sondern erfordert, sich den Bedingungen eines prinzipiell unsteuerbaren kommunikativen Austausches anzupassen.

Wenn eine Klientin mit der Frage kommt: „Ich habe dieses oder jenes Problem – können Sie mir da helfen?“, wäre eine mögliche Antwort: „Ich kann alles beitragen, was ich an Können und Erfahrung mitbringe, und eine Verbesserung wird sich in dem Maß einstellen, in dem es uns beiden gelingt, uns aufeinander abzustimmen.“ Mit dieser Abstimmung ist der Aufbau einer Kommunikationsbasis mit den unbewussten Anteilen der Klientin gemeint, die allein die für die Heilung relevanten Informationen liefern können. Beide Seiten dieses Austausches, also Therapeut und Klientin, tragen dafür gleichermaßen die Verantwortung. Alles, was der Therapeut auf dieser Ebene beisteuern kann, ist seine von bedingungsloser Wertschätzung getragene Präsenz und sein Vertrauen auf die Wirkmächtigkeit des Heilungsprozesses.


Zum Weiterlesen:
Von den Absichten zur Absichtslosigkeit

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