Montag, 2. April 2018

Faszinierende Faszien

„Wir  sind tatsächlich ein Netz von Fasern, und das zieht sich von der Oberfläche der Haut bis in die Tiefen des losen Bindegewebes und der Zellen. Alles ist durch eine Struktur von extrem flexiblen Fasern miteinander verbunden. Es gibt keine freien Räume, alles hängt zusammen.“ (Jean-Claude Guimberteau, französischer Handchirurg)

Wenn es um Bewegung und Muskeln geht, kommt schnell die Rede auf die Faszien. Was früher als Bindegewebe bezeichnet wurde, nennt man jetzt immer mehr Faszie. Wie wichtig die Faszien sind, zeigt schon die Tatsache, dass sie 20% unserer Körpermasse ausmachen. Sie befinden sich in der Zwischenzellflüssigkeit, die alle Zellen umgibt. Von dieser Flüssigkeit haben wir übrigens fast doppelt so viel wie an Blut. Zusammenlaufende Faszien bilden die Sehnen, mit denen Muskeln an den Knochen befestigt sind. Faszienzüge, die Zusammenballungen von einzelnen Faszienfäden, stehen untereinander in Verbindung. So könnte man sagen, dass es nur eine einzige Faszie gibt, die mit ihren Verzweigungen den gesamten Körper durchzieht. Die Bedeutung der Faszie(n) für die Stabilität des Körpers zeigt sich daran, dass der menschliche Körper aufrecht stehen bleiben würde, wenn man die Muskeln entfernte und die Faszien behielte, nicht jedoch, wenn die Faszien selbst fehlen.

Damit entstehen neue Vorstellungen vom menschlichen Körper: Abgesehen von den Muskeln, die zumeist nur in ihrer Funktion betrachtet werden, gibt es fasziale Linien, die z.B. vom Kopf zum Fuß und von der linken zur rechten Hand führen. Es ist also nicht so, dass die Muskeln die Knochen bewegen. Ohne Faszien, die die neuronalen Bewegungsimpulse koordinieren, gäbe es keine Bewegungen.

Drei Faszienschichten


Es werden drei Schichten der Faszien unterschieden: Die oberflächlichen (sie befinden sich v.a. im Unterhautgewebe), die tiefen (sie durchdringen und umschließen Muskeln, Organe, Nervenbahnen und Blutgefäße) und die viszeralen (sie dienen der Aufhängung der Organe, z.B. die Pleura bei der Lunge). Auch das Gehirn ist von den Faszien geschützt; die Gehirnhäute weisen die gleichen Charakteristika auf wie andere Teile des Bindegewebes. Da ein beträchtlicher Teil der Bindegewebszellen der oberflächlichen Schicht miteinander Kontakt hat, vermutet man auch, dass diese Schicht als ein körperweites nicht-nervliches Kommunikationsnetzwerk dienen könnte.

Bewegungen als Architekten der Faszien


„Wenn wir Muskeln anspannen, um eine Bewegung einzuleiten, dann bewegen wir immer sowohl die direkt mit der Kraftübertragung beschäftigte Faszie als auch die nur indirekt beteiligten Faszienteile automatisch mit.“ (Bracht&Liebscher-Bracht, 31) Dies gilt auch für Bewegungen, die passiv durch äußere Kräfte ausgelöst werden. Bewegungen werden über das Informationsnetz der Faszien weiträumig im Körper  übertragen.

Faszien bilden die Gewohnheiten der Muskeln ab: „So wie die Muskeln die Faszien in Bewegung versetzen, so bilden sie sich aus“ (Bracht&Liebscher-Bracht, 49). Die Baumeister der Faszie sind die Fibroblasten: Das sind Zellen, die Fäden spinnen, dreidimensionale Netze bilden und verdichten und die Struktur des Netzes verändern. Der Architekt, der vorgibt, wie sich die Fibroblasten verhalten, ist die Bewegung selbst. Bereiche im Körper, in denen wenig oder gar keine Bewegungen stattfinden, verfügen über schlecht ausgebildete und eingeschränkte Faszien. Sie sind verkürzt und „verfilzt“, können also ihre optimale Struktur nicht ausbilden, weil die entsprechenden Bewegungsanreize fehlen. Damit wird das Fasziennetz in diesem Bereich unflexibel und reißanfällig.

Die Faszien setzen sich zusammen aus den Fibroblasten, den Faszienzellen und der sie umgebenden Matrix. Die Fibroblasten stellen die Kollagenfasern her, aus denen die  Matrix besteht. Dieses Kollagen bewirkt z.B., dass sich die Wunde nach einer Schnittverletzung schließt. Bei Bewegungsmangel wuchern diese Strukturen und verlieren ihre Funktion. Bewegung ist also notwendig, um die Faszien funktionsfähig zu halten. Sie brauchen regelmäßige Stimulation. Versteifen und verkleben sie, so können sie Muskeln und Nerven einklemmen, was dann zu Schmerzen führt.

Rückenschmerzen und die Lendenfaszie


Die Lendenfaszie ist eine große Struktur, die das Becken und die Schultern verbindet. Sie besteht aus zwei Schichten, die im Normalfall in der Gegenrichtung gleiten können. Diese Flexibilität ist bei Menschen mit chronischen Rückenschmerzen reduziert. Sie wird durch eine Überproduktion von Kollagen verursacht. Wieder sind es Bewegungen, die gegensteuern können. Bei Dehnungen  strecken sich auch die Fibroblasten und können dabei ihre Größe verdoppeln. Währenddessen senden sie Signale in die Umgebung, die dann eine Schmerzlösung bewirken können. Die Versteifungen des Bindegewebes werden also permanent durch die Fibroblasten reguliert.

Interessant ist auch, dass die Fibroblasten auf Akupunktur reagieren. Eine ähnliche Wirkung erreichen wir mit Dehnungsübungen: Das Gewebe und die Muskeln entspannen sich.

Faszien reagieren unabhängig von Muskeln und Nerven auf Botenstoffe. Dabei spielen diejenigen Botenstoffe eine besondere Rolle, die bei Entzündungen und auch bei Stress ausgeschüttet werden. Auf die Stressbotenstoffe reagieren die Faszien sehr langsam, aber auch sehr nachhaltig. Wir wissen, dass emotionaler Stress Verspannungen und Schmerzen erzeugt, und dafür ist der Botenstoff TGF verantwortlich.

Zugspannung


Tensegrität ist der Fachbegriff für Zugspannung. Wir alle haben von den Skelettmodellen im Biologieunterricht gelernt, dass das Skelett unsere Stützstruktur ausmacht, mit der Wirbelsäule als zentralem Stab. Doch das stimmt so überhaupt nicht. Das neue Modell, das aus der Faszienforschung kommt, besagt, dass die Knochen gar nicht direkt aufeinander Druck ausüben, sondern über die Elastizität des Bindegewebes erst in die richtige Struktur kommen, bzw. in dieser gehalten werden. Das richtige Maß an Zugspannung in den Faszien ist ausschlaggebend für eine ausgeglichene Körperhaltung. Deshalb muss die Abnützung eines Knochenteils noch nicht zum Verlust von Bewegungsmöglichkeiten führen, denn dieser Mangel kann durch das Bindegewebe ausgeglichen werden.

Faszien und Wasser


Das Bindegewebe ist ein großer Wasserspeicher. Je nach Alter besteht das Bindegewebe bis zu 70% aus Wasser. Fibroblasten haben unterschiedliche Aufgaben. Die einen produzieren Kollagen, andere stellen Hyaloron her, das Schmiermittel des Bindegewebes. Dieses Molekül bildet schwammartige Gebilde, die große Mengen von Wasser binden können. Je mehr Wasser gebunden werden kann, desto besser die Beweglichkeit. Bei Hyaloronmangel ist zu wenig Wasser im Gewebe, das dann rau und spröde wird. Die Gleitfähigkeit schwindet.

Die manuelle Behandlung durch entsprechende Massagegriffe kann dazu führen, dass der betreffende Bereich zunächst von altem, „abgestandenem“ Wasser gereinigt wird, indem das schwammartige Gebilde ausgequetscht wird, und sich anschließend noch mehr mit frischem Wasser füllt, wodurch die Beweglichkeit steigt. Das Gleiche geschieht bei gezielten Bewegungsübungen. Bei der Eigenbewegung kommen noch weitere Komponenten hinzu, z.B. die Wärme, die dabei entsteht, regt den Stoffwechsel zusätzlich an (pro Grad an Temperaturanstieg steigt die Enzymtätigkeit um 10%).

Schmerzempfindungen


Sind Faszien selbst schmerzempfindlich? Befinden sich die Schmerzrezeptoren in der Faszie oder im Muskel? Faszien sind empfindliche Wahrnehmungsorgane. Der Sympathikus hat Kontakt zu fast allen Organen, wir können ihn nicht kontrollieren, und bei Stress beeinflusst er auch das fasziale Gewebe. Wenn der Sympathikus Stress-Botenstoffe freisetzt, werden die Blutgefäße angespannt, was den Blutdruck erhöht.

Das Schmerzempfinden ist unterschiedlich bei Menschen mit hoher Stressbelastung oder Traumatisierung im Vergleich zu anderen, die nicht unter diesen Bedingungen leiden. Es gibt Unterschiede im Tiefenschmerzempfinden, im Empfinden von myofazsialen Reizen. Repetetiver, immer wieder auftretender Schmerz wird von stressbelasteten Menschen besonders schnell eingeprägt und führt leicht zur Chronifizierung. Vorbelastete Menschen verfügen über ein besonders ausgeprägtes Schmerzgedächtnis.

Die Bewegungsgewohnheiten des modernen Menschen sind durch Spezialisierung gekennzeichnet. Bestimmte Bewegungen werden dauernd ausgeführt, z.B. die Muskelaktivitäten, die zur Bedienung einer Computertastatur gebraucht werden. Andere dagegen werden dauerhaft vernachlässigt. Ähnliches gilt für den einseitigen Leistungssport. In den vernachlässigten Körperarealen kommt es zur Zunahme der muskulär-faszialen Widerstände und Beschwerden. Die Muskeln bleiben in Dauerspannung, bis es zu schmerzhaften Dauerkontraktionen kommt, die sich dann auf die Leitungssysteme auswirken: Blutgefäße, Nerven und Lymphgefäße werden eingeengt oder sogar abgedrückt.

Faszientraining


Um unserer faszienfeindlichen Lebensweise entgegenzuwirken, müssen wir unsere Gewebe in guter Verfassung halten und immer wieder gezielt trainieren. Im Lauf des Lebens verliert das Fasernetz an Elastizität, und es bilden sich Verklebungen und Verfilzungen. Im Vergleich zu jüngeren Menschen weisen Ältere einen niedrigeren Anteil an Flüssigkeit im Körper auf, worunter auch das gesamte Fasziengewebe leidet und sich das vormals noch ausgeglichene Verhältnis zwischen wässrigen und faserigen Anteilen verschiebt.

Durch passende Übungen und variierende körperliche Aktivitäten kann unser Fasziensystem jung erhalten werden, wodurch sich die Zugfestigkeit verbessert und mehr Wasser gespeichert werden kann. Die Fibroblasten werden angeregt, den Körper elastisch zu halten. Wir fühlen uns beweglich und können leichter ins Fließen kommen, wenn sich Sturheit und Starre einschleichen.



Quellen: 
Bracht, Petra und Liebscher-Bracht, Roland: FaYo. Das Faszien-Yoga. Die enorme Heilkraft des Bindegewebes nutzen. München: Arkana 2016 (3. Aufl.)
Doku auf Arte

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