Sobald Erkenntnisse, Einsichten und Ideen in irgendeiner Situation geäußert werden, nehmen sie eine relative Position zu den anderen Gegebenheiten dieser Situation ein. Dazu zählt z.B. die Meinung anderer anwesender Personen, die Qualitäten der Beziehung zu diesen Personen usw. Sie sind auch relativ zu den eigenen inneren Gegebenheiten, z.B. Gemütslagen, Denkprozessen, Aktivierungsgrad usw. Verallgemeinernd bezeichnet Carsten Rachow diese Gegebenheiten als Kontexte. Das Gegenteil wären Wahrheiten, die im freien Raum schweben, bezugslos sowohl zum Sprecher wie zum Empfänger. Sie wären gar nicht existent, denn Existenz selber ist ein Kontext.
Ein weiterer allgemeiner Kontext ist die Sprache. Wahrheit kann nur in einer Sprache geäußert werden, und diese ermöglicht und schränkt zugleich ein, wie eine Wahrheit, die innen einleuchtet, nach außen, in die Kommunikation eingebracht werden kann. Wahrheiten klingen anders, wenn sie in einer anderen Sprache ausgedrückt werden. Allein aus der einfachen Struktur von Kommunikation, nach der jede Mitteilung vom Sender codiert und vom Empfänger decodiert werden muss, geht hervor, dass es im Rahmen der Kommunikation keine kontextunabhängige, also keine absolute Wahrheit geben kann. Allerdings wird durch diese Struktur die Möglichkeit einer absoluten Wahrheit nicht prinzipiell ausgeschlossen. Die Struktur der Kommunikation verhindert allerdings, dass absolute Wahrheiten im kommunikativen Raum als solche auftreten können.
Insofern ist die Aussage, dass jede Wahrheit einen Kontext hat, trivial: Jedes Medium sperrt jede Äußerung in einen kontextuellen Kasten, und ohne vermittelndes Medium existiert keine Wahrheit. Das haben wir auf der Ebene des systemischen Bewusstseins erkannt. Freilich ist diese Bewusstseinsstufe noch viel zu wenig in unser Alltagserleben vorgedrungen, und deshalb sind diese trivialen Einsichten wenig bekannt und können leicht übersehen werden. Unser Verhaftetsein in egozentrischen Sichtweisen macht es notwendig, die relativistische Welterfahrung immer wieder in den Vordergrund zu rücken. Denn sie enthält weitreichende Konsequenzen, die immer mitbedacht gehören: Jeder Kontext relativiert die Wahrheit, folglich gibt es keine absolute Wahrheit, zumindest im Rahmen der zwischenmenschlichen Kommunikation. Sobald eine Wahrheit als Wahrheit ausgesprochen wird, trägt sie den impliziten Zusatz: „aus meiner Perspektive“, „in diesem oder jenem Kontext“. Zu Aussagen, die der Sprecher für absolut hält, kommt es, wenn dieser Zusatz übersehen, verschwiegen oder unbekannt ist, wenn also der Sprecher die Stufe des systemischen Bewusstseins nicht mitbedenkt.
Meinung und Wahrheit
Nun gibt es auch den Kontext „Meinung“ gegen „Wahrheit“, also den Unterschied zwischen einer Einsicht, die wir als unsicher und vorläufig erachten, und einer anderen, die wir für sicher, klar und allgemeingültig erachten. Die erstere erscheint uns subjektiver, die zweitere objektiver. Meinungen entstehen aus der momentanen emotionalen und kognitiven Gestimmtheit und situativen Wahrnehmung einer Person. Wahrheit erfordert einen Prüfungsprozess, in dem neben dem Subjekt noch andere Instanzen eingebunden sind, z.B. eine Abgleichung mit der äußeren Realität und eine Rückblende auf die Entstehungsbedingungen der Aussage, die sozialen Standards einer Bezugsgruppe usw.
Jemand behauptet z.B., dass es keinen menschenverursachten Klimawandel gibt. Um zu unterscheiden, ob es sich bei der Aussage um eine bloße Meinungsäußerung oder um eine Aussage mit Wahrheitsanspruch handelt, ist es notwendig, die argumentative Abstützung der Aussage zu überprüfen: Welche Quellen dienen zur Erhärtung dieser Position, welche sprechen dagegen? Welche Methoden verwenden die einen Quellen, um der Wirklichkeit nahe zu kommen, welche die anderen? Welche Motive leiten die Person, die die Aussage tätigt?
Das Subjekt, das eine Wahrheit äußert, erhebt den Anspruch, dass die Aussage auf eine äußere Wirklichkeit zutrifft und/oder auch für andere Subjekte zutreffend und sinnvoll ist. Der Wahrheitsanspruch geht also substanziell über das Äußern von Meinungen hinaus und bezieht sich auf eine nicht-subjektive Form von Wirklichkeit (z.B. die Welt der Dinge oder die Welt der sozialen Ereignisse).
Dass Aussagen, die von sich aus den Gehalt von Wahrheit beanspruchen, immer einen Kontext haben, nimmt ihnen nichts von diesem Anspruch auf Wahrheit. Zur Prüfung dieses Anspruchs gehört die Identifizierung des Kontexts der Aussage, also die Umstände ihres Zustandekommens, und vor allem der Inhalt und die Form der Wirklichkeit, auf die er sich bezieht. Es geht also um die Untersuchung der Gültigkeit des Wahrheitsanspruches angesichts der evidenten Kontexte.
Soweit so gut, das Ende aller Streitigkeiten um die Wahrheit ist eingeläutet. Weil sinnlos, können wir uns solche Auseinandersetzungen in Hinkunft sparen und uns an der unendlichen Vielfalt der Wahrheiten freuen.
Die Angelegenheit der absoluten Wahrheit
Allerdings ist mit dieser Feststellung die Angelegenheit der absoluten Wahrheit noch nicht erledigt. Zwar können wir als vielfach kontextgebundene Subjekte den Anspruch, von einer absoluten Position, gewissermaßen ex cathedra zu sprechen, nie und nimmer einlösen. Wohl aber können wir den Anspruch, Absolutes in relativer Form, weil kontextabhängig, auszudrücken, aufrechterhalten. Wir verfügen freilich über keine zwingende Autorität dabei, sondern überlassen es ganz den Adressaten der Botschaft, ob sie das Absolute der Aussage übernehmen oder nicht. Sie sind also prinzipiell völlig frei, sich der Aussage anzuschließen, sie abzuändern oder sie abzulehnen. Das Absolute leuchtet ein oder eben nicht; das hängt sowohl von der Art der Mitteilung, also dem Kontext des Senders, als auch von der Bereitschaft und Offenheit des Empfängers, also dessen Kontext, ab. Das Absolute, um als solches erkannt zu werden und kommunikative Realität zu erlangen, benötigt also einen speziellen Kontext, einen besonderen, nicht alltäglichen „Geist“. Dieser Geist erst macht die absolute Wahrheit zu einer solchen, enthebt sie also den Bedingtheiten des Relativen.
Das Zitat aus dem Neuen Testament: „Wenn zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20) könnte für diesen Zusammenhang so verstanden werden: „Wenn zwei oder drei offen sind für das Absolute, erscheint es als kommunikative Wirklichkeit.“ Wie bei solchen Wirklichkeiten üblich, hat auch das Absolute keine Zeitdauer, es zerfällt unmittelbar, nachdem es aufgetreten ist. Aber es hinterlässt Wirkungen, sonst wäre es nicht absolut. Um diese Wirkungen geht es, nicht um das Rechthaben, Sich-Durchsetzen, Besser-Sein usw. Die Wirkungen betreffen also nicht das Ego, das jede Wahrheit in Frage stellen und anders sehen oder ausdrücken kann. Sie betreffen das tiefere Wesen, das Selbst.
Absolute Wahrheiten sind also solche, die unabhängig von den Kontexten, in denen sie existieren, prinzipiell in allen Empfängern ihre Wirkungen entfalten können. Der Adressatenkreis kann und soll nicht eingeschränkt werden. Sie gelten auch unabhängig vom Sender, sind also nicht durch seine Person, seinen Status, seine Bildung usw. bestimmt. Auf dieser Basis können absolute Wahrheiten absolute Wirkungen und damit auch absolute Gültigkeit erlangen. Zum Unterschied allerdings von Dogmen und anderen Lehrsätzen, die von Institutionen und Autoritäten aufgestellt werden, hat diese Gültigkeit keine räumliche und zeitliche Dauer, sie gilt also nur im Moment, in dem sie gilt. Menschen können an Wahrheiten, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt für absolut gültig erachten, zu anderen Zeitpunkten zweifeln, und sie können Aussagen, die sie einmal kritisiert haben, ein andermal voll annehmen.
Die Wirkung der absoluten Wahrheit
Eine absolute Wahrheit wird in ihrer Wirkung wirklich, und diese besteht in einer inneren Wandlung bei der Person, die die Wahrheit empfängt. Eine solche Wandlung kann als Weitung und als Hinausgehen über eine vorher geltende Weltsicht angesehen werden. Bisher wichtige Kontexte können ihre Bedeutung verlieren, Ängste können zurücktreten, Vorurteile verschwinden.
Jemand sagt z.B.: „Ich schaue mich um und sehe, das Glück ist immer genau da, wo ich gerade bin.“ Damit werden alle Konzepte vom Glück und vom Glücklichwerden überflüssig. Es braucht keinen Stress mehr, um etwas zu erreichen, was gerade nicht da ist. Es kann sich innerer Friede ausbreiten. Auf diese Weise wirkt eine absolute Wahrheit.
Sie kann jedoch nicht wie eine Pille eingenommen werden, die jeden Tag die gleiche Wirkung haben sollte. Die obige Aussage kann an einem anderen Tag leer und nichtssagend erscheinen. Es kann wirkungslos sein, wenn jemand anderer daran erinnert: „Neulich hast du doch gesagt… Was ist jetzt damit?“ Absolute Wahrheiten wirken aus einem absoluten Moment heraus, der sich nicht reproduzieren lässt. Es gibt keinen Knopf, auf den man drücken könnte, wenn man sich glücklich fühlen möchte oder voll von Liebe oder frei von allen Einschränkungen.
Alles, was wir aktiv tun können, ist, uns immer wieder für das Absolute in jeder relativen Situation zu öffnen. Denn das Absolute wartet nur darauf, gehört und empfangen zu werden. Wir brauchen uns nicht gewohnheitsmäßig auf eines unserer beschränkten Konzepte über die Welt und die Menschen festlegen und können uns statt dessen von der Fülle des Lebens überraschen lassen, was immer sie uns schenken will.
Zum Weiterlesen:
Das Absolute im Beschränkten
Die zwei Wahrheiten
Die zwei Wahrheiten und die Konfliktkultur
Die zwei Wahrheiten und die Religionen
Die zwei Wahrheiten und der Alltag
Die zwei Wahrheiten und das Ego
Die zwei Wahrheiten und die Sprache
die Möglichkeiten, ein Telefon zu finden
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