Freitag, 6. November 2015

Das Drama des Perfektionisten

Der Perfektionist trägt ein Ideal der Vollkommenheit bei sich. Er misst seine Handlungen daran, wie nahe sie dem Ideal kommen. Das Ideal selber wird nicht überprüft, und meistens weiß der Perfektionist auch nicht, woher es stammt. Er nimmt an, dass es ein allgemein menschliches Ideal ist, das alle anderen teilen oder teilen sollten. Er versteht nicht, wenn andere seinem Ideal nicht folgen. Ein Teil seiner Anstrengungen ist dem Bestreben gewidmet, andere zum eigenen Ideal hinzuführen.

Hinter seinen Anstrengungen steckt der Versuch, den Erwartungen anderer Menschen möglichst vollständig zu entsprechen. Er meint zwar, seine eigene ganz individuelle Perfektion anzustreben und nimmt auch an, ihr auf der Spur zu sein. Da er aber die Herkunft seines Ideals nicht kennt, die Umstände der Prägung, die es geformt haben, nicht erforscht hat, kann er gar nicht wissen, was genuin aus ihm selber, aus der Entfaltung seiner Individualität stammt, und was unbewusste Aufträge von anderen Menschen, z.B. von den eigenen Eltern sein könnten. Er meint, ihnen folgen zu müssen, um mit sich selber zufrieden sein zu können. Das ist eine der gefinkelten Fallen des Perfektionismus.

Dem Perfektionisten geht es also vor allem um die Anerkennung durch andere. Er kämpft darum, Wertschätzung zu bekommen, und möchte deshalb Fehler vermeiden und immer alles richtig machen. Kriegt er zu wenig Anerkennung, glaubt er, sich noch mehr anstrengen zu müssen und noch besser werden zu müssen.


Die vergeblichen Suche nach Anerkennung


Jedoch spielt sich häufig das folgende Drama ab: Je perfekter der Perfektionist wird, desto unbeliebter macht er sich, weil sich die Menschen von jemandem abwenden, der alles richtig macht. Ein perfekter Mensch löst die Angst aus, dass man auch so gut sein muss und es doch nicht schafft. Er erinnert an die eigenen Unzukömmlichkeiten und erzeugt schlechtes Gewissen. Folglich wenden sich die anderen ab und vermeiden den Kontakt mit jemandem, der vermittelt, dass sie nicht so gut sind wie er selber. Der Perfektionist jedoch wird immer mehr dem Beliebtsein nachrennen, je weniger er davon kriegt. Und er wird umso weniger davon bekommen, je mehr er ihm nachrennt. 

Es ist ein Kampf, der nie zu gewinnen ist. Der Vollkommenheitsstreber wird angetrieben von einem starken inneren Druck, der ihn wachsam nach außen werden lässt: Komme ich gut an bei den anderen oder muss ich meine Leistung noch verbessern? Damit entfernt er sich immer mehr von sich selber und auch von den anderen. Sobald er das merkt, muss er sich zu weiteren Anstrengungen motivieren.


Perfektionserwartungen


Dieser Mechanismus wird dadurch noch verschärft, dass wir dazu neigen, wenn wir in Stress sind und uns von Problemen umzingelt fühlen, von den anderen Menschen Perfektion zu erwarten. Grundsätzlich schon hätten wir immer gerne, dass in unserer Umgebung alles perfekt abläuft: Die Briefträgerin ist verlässlich, die Müllabfuhr funktioniert, der Installateur kommt sofort, repariert den Schaden für alle Zeiten und verlangt wenig, die Verkäuferin ist freundlich und gibt mir die beste Ware, die Leute machen mir Platz, wenn ich es eilig habe usw. Lauter perfekte Menschen sollte es in unserer Umgebung geben, fehlerlos sollten die Menschen sein, die für uns sorgen.

So stellen wir uns ein optimales, wenn nicht gar paradiesisches Leben vor, denn so brummt uns niemand einen Stress auf, und so können wir uns auf den Stress beschränken, den wir uns selber machen. Und wenn wir von eben diesem Stress befallen sind, ist der Bedarf nach Perfektion umso höher. Unsere Toleranzschwelle sinkt, und wir regen uns über jede Kleinigkeit auf, die nicht zu unseren Idealerwartungen passt. Denn solche Unvollkommenheiten erhöhen unsere Stressbelastung nur. Allerdings merken wir dann nicht, wie wir selber unsere Stressbelastung erhöhen, indem wir uns ärgern – oft über Dinge, die wir gar nicht ändern oder beeinflussen können.


Unvollkommene Natur


In der Natur gibt es keine Perfektion. Die Natur bringt die unterschiedlichsten Formen hervor, die durch ihre Vielfalt und Unterschiedlichkeit ihre Überlebensfähigkeit sichern, nicht durch die Anpassung an ein abstraktes Optimum. Nur der Mensch hat aufgrund seines Denkens die Möglichkeit, das Konzept der Perfektion zu entwerfen: Wenn es etwas Gutes gibt, gibt es etwas Besseres, und wenn es etwas Besseres gibt, muss es das Beste geben. Das, was gerade ist, ist fast immer nur teilweise gut, also muss es verbessert werden, bis es nicht mehr verbessert werden kann.

Damit handeln wir allerdings gegen die Natur, vor allem gegen unsere eigene Natur. Denn Idealzustände sind der Natur vom Wesen her unverständlich und unbekannt. Sie können deshalb die Abläufe in der Natur nicht fördern, sondern wirken sich nur störend auf sie aus. 


Idealzustände sind nicht objektiv


Das Ideal, mit dem wir in unserem Denken den Jetzt-Zustand in die perfektionierte Zukunft projizieren, dient uns dann als Leitlinie unseres Handelns. Wir orientieren an diesem Idealbild, auf das wir hinsteuern wollen. Allerdings gibt es kein objektives Optimum. Es gibt zwar in bestimmten Bereichen Kriterien für Fehlerfreiheit: Ein Pianist, der nie daneben greift, eine Buchhalterin, die nie fehlbucht, usw. Das hat aber noch nichts mit Perfektion zu tun; der Pianist muss ja nicht nur fehlerfrei, sondern auch ausdrucksstark, locker, tiefsinnig spielen, die Buchhalterin braucht auch Sozialkompetenz, vernetztes Denken und Geschäftssinn, Eigenschaften, die nicht mehr so leicht quantifizierbar sind.

Überall, wo es um Qualitäten geht, und das sind unter Menschen die sensibelsten Bereiche, gibt es keine objektiven Maßstäbe, sondern sehr unterschiedliche subjektive Einschätzungen. Je nach den eigenen Prioritäten und Wertorientierungen ist für den einen das eine, für den anderen das andere maßgeblich, sodass bekanntlich gilt: Allen Leuten rechtgetan, ist eine Kunst, die niemand kann. Dennoch mühen wir uns immer wieder ab, um es rechtzutun, zumindest möglichst vielen, wenn schon nicht allen. Und immer noch leiden wir, wenn wir erfahren, dass wir es jemandem nicht rechtgetan haben, und versuchen, weiter an unserer Perfektionierung zu feilen. 


Kreatives Wachsen


Was wir verbessern können, können wir verbessern, soweit es in unserer Macht und Machbarkeit steht, was aber von uns verlangt, dass wir uns verbiegen, dass wir also jemand anderen aus uns selber machen, sollten wir lassen. Und es ist wichtig, dass wir die Unterscheidung lernen zwischen diesen beiden Formen der Verbesserung. Dazu müssen wir uns selber kennenlernen, indem wir in Kontakt mit unserem Inneren treten. Wir müssen lernen, auf diese Stimme im Inneren zu hören, die uns sagen kann, was authentisch aus uns selber kommt und was wir tun, obwohl es uns selber nicht entspricht.

Leichter tun wir uns in jedem Fall, wenn wir die Idee der Perfektion aus unserem Repertoire streichen. Wir können uns klarmachen, dass es die Perfektion, die wir anstreben, gar nicht gibt, dass es aber immer Möglichkeiten gibt, zu lernen und besser zu werden. Solange uns das Verbessern unserer Qualitäten Spaß macht und Freude bringt, gehört es zur kreativen Entfaltung unseres Wesens. Sobald wir uns jedoch nach einem Leisten richten, den uns andere verpassen wollen, und wir merken, dass wir uns nur mit Mühe und gegen inneren Widerstand in diese  Richtung entwickeln können, sollten wir überprüfen, ob wir uns selber noch treu sind.

Treue zu uns selber umfasst auch die Treue zur eigenen Unvollkommenheit, und das heißt, die Treue zur eigenen Lernfähigkeit. Wir brauchen uns nur zu verdeutlichen, dass diese Lernfähigkeit prinzipiell unbegrenzt ist. Dann erkennen wir, dass die Idee der Perfektion sinnlos und hinderlich ist. Wir kommen nie bei irgendeinem Ideal an, sondern finden immer wieder Möglichkeiten, weiter zu lernen. Das hält das Leben interessant und spannend. Lassen wir uns selber imperfekt und entwicklungsfähig bleiben und die Imperfektion und Entwicklungsfähigkeit in allen anderen erkennen und wertschätzen. So können wir zu einer menschlicheren Menschheit beitragen, in der sich die Menschen aufeinander weniger durch das Ausüben von Druck als durch Anerkennung und Ermutigung beziehen und fördern.


Vgl. Perfektion und Perfektionismus

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