Mittwoch, 18. November 2015

Hochsaison für Verschwörungstheorien



Die gefälschten Protokolle
der Weisen von Zion

In Zeiten der allgemeinen Verunsicherung haben Verschwörungstheorien Hochsaison. Sie bieten die einfache Erklärung für das Komplizierte und versprechen damit eine Sicherheit. Denn die bösen Akteure hinter den furchterregenden Ereignissen werden benannt, und es entsteht die Illusion, dass sie damit auch kaltgestellt sind.

Wer immer sich mit der Situation in Syrien und im Irak auch nur am Rand auseinandersetzt, erkennt, dass diese Konflikte deshalb so langwierig sind und unlösbar erscheinen, weil sie viele Akteure mit unterschiedlichen und widersprechenden Interessen auftreten. Alle diese Gruppierungen haben ihre Unterstützer, die ihnen Waffen und sonstige Versorgung zukommen lassen. Sie unterscheiden sich in ihrer ethnischen, religiösen und/oder ideologischen Ausrichtung sowie durch unterschiedliche Traditionen und Gruppenbildungen (warlords). Teilweise bekämpfen sie sich untereinander, teilweise haben sie Hauptgegner, teilweise kämpfen sie gegen alle, um mehr Einfluss und Macht zu gewinnen.

Innerislamisch gehen die Konflikte auf die Frühzeit (7. Jahrhundert) zurück, als sich Sunniten und Schiiten voneinander distanzierten. Bis heute sind diese Konflikte weder theologisch noch realpolitisch geklärt oder bereinigt. Dazu kommen unterschiedliche Interpretationen, wie Moslems mit Andersgläubigen umgehen sollen und wie die Rechtslehre auszulegen sei. All dies gibt Anlass zu Identitätsbildungen, die sich krasser voneinander unterscheiden müssen als es für einen Außenstehenden einsichtig wäre, ähnlich wie jemand, der kein Christ ist, schwer verstehen kann, ob Jesus Gott wesensähnlich oder wesensgleich ist, ob in der Kommunion der Leib Christi oder nur dessen symbolische Vertretung gereicht wird usw.

Dazu kommen die wiederum unterschiedlichen Interessen der Nachbarländer und dazu noch jene der größeren und großen Mächte. Im Ganzen hat diese unübersichtliche Gemengelage dazu geführt, dass ein schier unendliches Ausmaß an Konfliktpotenzialen entstanden ist, zwischen denen die Masse der dort lebenden Menschen, die sich keiner der vielfältigen Orientierungen zugehörig fühlen, sondern ein Leben in Frieden leben wollen, zerrieben werden und nur überleben können, wenn sie fliehen.

Die Vereinfacher haben für alles eine Erklärung und identifizieren die Drahtzieher hinter all den Ereignissen. Z.B. wird behauptet, dass der CIA (in Kombination mit dem israelischen Geheimdienst) mit seinen geheimen Machenschaften hinter den Aufständen gegen Assad, hinter der Gründung der IS und hinter den Anschlägen in Paris steckt, dass also Israel und die USA ihre eigene Feinde produzieren, die sie dann bekämpfen können, damit die Waffenerzeuger ungehindert ihre Milliarden scheffeln können und die Kriegsmaschinerie in Gang bleibt usw. Der Fantasie ist keine Grenze gesetzt, und wenn sie mit dem verantwortungsvollen Ernst des Wissenden verkündet wird, denken sich viele, da muss schon was dran sein. Die Quellen für diese überlegenen Einsichten werden nicht oder nur vage benannt: Aus Geheimdienstkreisen stamme das Wissen, so als ob diese Personen bei den diversen Besprechungen dabei gewesen wären und jetzt überall im Internet frei verkünden können, was sie dort gehört haben.

Was braucht es zu einer Verschwörungstheorie? Es braucht einen ideologischen Kern: Etwas, das immer stimmt, immer schon so war und immer so sein wird, z.B. dass es einen geheimen Kreis von Mächtigen und Reichen gibt, die die Welt beherrschen wollen, damit sie mächtig und reich bleiben und mächtiger und reicher werden. Das ist außer Frage gestellt. Da geheim, weiß niemand davon, außer eben den Aufdeckern, die in diese Geheimnisse hineinschauen können. Früher war dieser geheime Kreis das „Weltjudentum“ oder die Freimaurer, jetzt werden manchmal die „Bilderberger“ genannt.

Um den ideologischen Kern herum werden die Fakten so interpretiert und angeordnet, dass sie immer den Kern bestätigen. Daesch verfügt über amerikanische Waffen, also ist es klar, dass die Amerikaner Daesch aufgebaut haben. Da sie den sogenannten islamischen Staat jetzt bekämpfen, ist klar, welches Spiel eigentlich gespielt wird. Die Fantasie bildet also die assoziativen Ketten, sodass alle Fakten lückenlos ins Konzept eingepasst werden und es bestätigen.

Dann braucht es noch eine paranoide Absicherung des ganzen Theoriegebäudes, die darin besteht, dass jeder, der es kritisch betrachtet oder in Frage stellt, als Agent oder gehirngewaschener nützlicher Idiot des Bösen erkannt wird, und damit bestätigt sich die Theorie durch jede Kritik selbst.

Nicolas Hénin, der 10 Monate in ISIS-Gefangenschaft verbracht hat, berichtet, dass seine Gefängniswärter ausgeprägte Paranoiker waren, gefangen in einem Weltbild, das alles auf den entscheidenden Endkampf zwischen „Gut“ und „Böse“ zusteuern sieht. Was immer passiert, bestätigt, dass sie am richtigen Weg sind. Sie wissen, wo das Böse und wo das Gute ist. Wie jeder andere Verschwörungstheoretiker auch. 


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