Montag, 7. Oktober 2013

Die zwei Wahrheiten und die Religionen

Die Religionen sind von alters her die Verwalter der zwei Wahrheiten. Inspiriert von der einfachen Wahrheit, haben sich Menschen zusammengefunden, um die Lehren in die Alltagspraxis zu übertragen. Auch war es notwendig, sie mit den Notwendigkeiten des Lebens in Einklang zu bringen. Moralische und ethische Grundsätze wurden aus der Grundlage einer absoluten Wahrheit abgeleitet und daraus begründet: Aus der Liebe zum Nächsten folgt, dass dieser nicht bestohlen oder betrogen werden darf.

Die Religionen und die auf ihnen begründeten Kirchen oder Glaubensgemeinschaften sind, so betrachtet, Verwalter der Schnittstelle zwischen den Wahrheiten. Schnittstellen sind meistens mit Schwierigkeiten befrachtet. Hier zeigt sich z.B. das Übersetzungsproblem. Es spielt bei jeder Übertragung von spirituellen Einsichten auf das praktische Leben eine wichtige Rolle und ebenso bei der Weitergabe von Generation zu Generation, also bei der Ausbildung einer Tradition. Auch in der Verschriftlichung der Glaubenslehren und in der Ausformung von Regeln und Ritualen muss eine relative Lösung für das Schnittstellenproblem gefunden werden. Jede relative Lösung ist mit den Schattenseiten der menschlichen Natur behaftet, mit der Irrtumsanfälligkeit ebenso wie mit selbstsüchtigen Interessen.

Sobald die endgültige Wahrheit, das Reich des Relativen betritt, spielen die Unterschiede eine dominante Rolle. Das Vertraute kommt vor dem Ungewohnten, das Eigene vor dem Fremden. Selbst wenn die einfache Wahrheit sagt, dass dem Eigenen die gleiche Liebe gelten solle wie dem Fremden, scheitert die Praxis nahezu immer an der Umsetzung – bis zum skurrilen Beispiel aus dem österreichischen Wahlkampf im Herbst 2013, bei dem das Wort „Nächstenliebe“ von einer Partei vereinnahmt wurde, deren Vorsitzender dann erklärt hat, dass sein Bauchgefühl darüber entscheide, wer sein Nächster sei und wer nicht. Aus einer endgültigen Wahrheit wird ein relativer Begriff gemacht (durch die parteipolitische Instrumentalisierung), der schließlich in der Willkür (ver)endet. Denn auf das Bauchgefühl hätte sich wohl jeder Naziverbrecher zur Rechtfertigung seiner Gräueltaten berufen können: Diese jüdischen Kinder waren mir nicht sympathisch genug, also habe ich sie umgebracht.


Die eine Wahrheit und deren viele Interpretationen


Die Unterschiedlichkeit der Kulturen und Traditionen, in deren Rahmen jede neue Religion entstanden ist, sind das Medium der Übersetzung der endgültigen Wahrheiten. Deshalb gibt es nicht eine, sondern viele Religionen, die die eine absolute Wahrheit verkünden. Und deshalb gibt es auch innerhalb der einzelnen Religionen wieder unterschiedliche Strömungen und Untergruppen. Sie bekämpfen sich oft auf der Ebene der relativen Wahrheit so stark, dass der Wunsch, die gegnerische Richtung niederzuringen, zur einzigen Glaubenspraxis wird. Auf die einfache Wahrheit wird dabei schnell und gründlich vergessen.

Daran kranken die Religionen, und auf den eindrucksvollen Lehren der Gründer werden durch diese ansteckende Krankheit relative Organisationen aufgebaut, die mit allen Mängeln anderer allzu menschlicher Verwaltungskörper wie Macht, Konkurrenz, Gier, Gewalt usw. behaftet sind. So sollte es nicht verwundern, dass im Mittelalter die Bischöfe an der Spitze der Truppen geritten sind und bis in jüngste Zeit Waffen gesegnet wurden, damit sie möglichst viele Feinde zu Tode bringen mögen. Nahezu pervers muss wohl der (Un-)Begriff des heiligen Krieges in den Ohren von jemandem klingen, der der endgültigen Wahrheit gelauscht hat.


Das Deutungsmonopol


Die Religionen haben ihre Macht soweit ausgebreitet, dass sie ein Monopol in der Sinnsuche erlangt haben, das sie bis heute verteidigen wollen. Nulla salus extra ecclesiam, kein Heil außerhalb der Kirche, so behauptet keck das allein seligmachende Selbstverständnis in guter katholischer Tradition. Natürlich fordert ein derartiger Anspruch zum Widerstand heraus. Es gab in den verschiedenen Kirchen Reformationsbewegungen, also Aufstände und Proteste gegen den Monopolanspruch der religiösen Eliten. So wollte z.B. Luther den direkten Draht zwischen dem Sinnsucher und der Quelle der absoluten Wahrheit ohne Vermittlungen und Übersetzungen durch bestallte Deutungsmonopolisten wieder herstellen. Doch auch die auf ihn zurückgehenden Organisationen können ihre Schäfchen nur im Reich der relativen Wahrheiten um sich versammeln.


Denn zu jedem noch so begabten Deuter der Schriften meldet sich alsbald ein noch begnadeterer, der dann gleich die nächste Reformation der Reformation begründet.


Die Schriftlichkeit


Christentum, Judentum und Islam gelten als Schriftreligionen. Das geschriebene Wort gilt nicht nur als Mittel der relativen Welt, um Verständigung herzustellen, sondern es wird als direkter Ausfluss aus der einen Wahrheit angesehen. Nun gibt es zwischen der Wahrheit und der Sprache Übersetzungsprobleme, und wie bei jeder Übersetzung Übersetzungsverluste. Was sich z.B. von den Visionen des Muhammad bis zur Niederschrift verändert hat, können wir nicht wissen.

Am Ursprung der Religionen liegen private Erfahrungen - die Zwiesprache des Moses am Berg Sinai, die Erleuchtungen des Buddha unter dem Bodhi-Baum usw. Schon diese Erfahrungen in Worten auszudrücken, macht etwas Neues aus ihnen. Die Verschriftlichung fügt dem noch eine dingliche Dimension hinzu: Was einmal aufgeschrieben ist, ist festgeschrieben, ist „heilige“ Schrift.

Damit hat scheinbar die absolute Wahrheit eine absolute Form und Verbindlichkeit gefunden. Tatsächlich ist sie aber schon auf die Ebene der relativen Wahrheit herabgestuft worden, sobald sie überhaupt in schriftlicher Form aufscheint. Denn der visionäre Religionsgründer oder Prophet muss das, was er in seiner Schau erfahren hat, so ausdrücken, dass es für seine Zeitgenossen Sinn macht. Oft haben sie selber nur mündlich gelehrt und selber nichts aufgeschrieben. Die Niederschriften sind z.B. beim Neuen Testament ein bis zwei Generationen nach dem Tod Jesu erfolgt, und die Exegeten streiten darüber, ob überhaupt und wenn ja, welche Worte und Sätze Jesus gesagt haben könnte. Weitgehender Konsens herrscht darüber, dass der überwiegende Teil der Texte aus der Feder der Evangelisten stammt. Die Bibelwissenschaftler haben auch herausgefunden, wie dicht die heiligen Schriften in die jüdische Tradition und in die sie umgebende römisch-hellenistische Welt eingebunden waren. Die Evangelien sind also durchwachsen von Überlieferungsstoff aus der reichhaltigen Literatur der jüdischen Propheten und abgestimmt auf die Zuhörer- und Leserschaft des vorderasiatischen Kulturraumes des 1. Jahrhunderts.

Verschriftlichte Wahrheit ist also immer relative Wahrheit, eine zeitlose Wahrheit, die in die Zeitlichkeit eingetreten ist. Denn der unweigerliche Gang der Geschichte bringt beständig neue Herausforderungen und Erfordernisse. Für diese müssen die Schriften immer wieder neu interpretiert werden, damit sie für die jeweilige Lebenspraxis tauglich sein können. Sie gleichen deshalb eher einem Steinbruch als einer unveränderlichen Quelle der immer gleichen spirituellen Inspiration.


Der Siegeszug der Vernunft


Der Streit um die richtige Auslegung der Schriften, also der Auslegung von Erfahrungen, ist so alt wie die Religionen selbst. Mit der Verbreitung der Rationalität, also des vernunftgeleiteten Denkens in der Folge der Verbreitung der Bildung und der Schriftkultur (Stichwort Buchdruck) schob sich zwischen die Welten der zwei Wahrheiten eine dritte Schicht, die in weiten Teilen der Welt die Dominanz gewann. Ich nenne diesen Siegeszug des neuen diesseitsgeleiteten Denkens das materialistische Bewusstsein. Es kann auch als der Exzess des Relativen bezeichnet werden, denn es drängt alles an den Rand, was nach einer endgültigen Wahrheit verlangt. Wichtig ist nur die Beherrschung der Materie für die Zwecke der Überlebenssicherung und der Luxurierung dieses abgesicherten Lebens. Der momentane Gewinn und Erfolg drängen sich vor alle Fragen nach den letzten Dingen.

Damit geraten die Religionen in die Defensive. Sie verlieren ihr Deutungsmonopol, das ihnen von den Wissenschaften abgenommen wird. Die wissenschaftliche Rationalität legt gnadenlos bloß, was die Religionen an vorrationalen Konzepten und Praktiken angesammelt haben. Die Exponenten der Aufklärung von Voltaire bis Freud entlarven die Heuchlereien und unerlösten neurotischen Komplexe im alt ehrwürdigen und morschen Gerüst der Religionen. So finden sich die Kirchen mit all ihrem Gepränge auf der Ebene der Folklore wieder, ohne die vertikale Orientierung noch glaubhaft vertreten zu können.


Die neue Zukunft der Mystik


Allerdings geht die Evolution des Bewusstseins weiter. Zwar wird bis ins systemische Bewusstsein der Relativität gehuldigt, weil sie maximale Freiheit und Flexibilität verspricht, aber gerade durch die Universalisierung und Globalisierung der Relativität kann die Öffnung für die Sphäre der absoluten Wahrheit in ganz neuer Weise geschehen. Denn durch die klare Unterscheidung von Machtfragen und Sinnfragen, die durch die systemische Vernunft getroffen werden kann, sowie durch die Notwendigkeit von integrer und ethisch fundierter Lebenspraxis ergibt sich zwanglos der Übergang in das holistische Bewusstsein, das sich aus dem Fundus der endgültigen Wahrheiten speist.

Die Religionen, inzwischen ihrer Machtmonopole und weltlichen Ordnungsverpflichtungen weitgehend entkleidet, können auf ihre reichhaltige Tradition in der Pflege und Weiterentwicklung der endgültigen Wahrheit verweisen. Sie stehen sich jetzt direkt von Angesicht zu Angesicht gegenüber, Weltreligion gegen Weltreligion, aufgefordert, den Kern des Gemeinsamen hinter den Maskierungen der jeweiligen Überlieferungen freizulegen und sich voreinander zu verneigen. Dabei gilt es, die vielen Wunden zu heilen, die sich die Religionen gegenseitig im Lauf der Geschichte durch Gewalt und Gegengewalt, Abwertung und Gegenabwertung zugefügt haben und bis heute zufügen. Es gilt auch, die Ängste zu überwinden, die eigene Tradition zu verraten und zu verlieren, wenn deutlich wird, wie sehr sich die den jeweiligen Wahrheitskernen entsprechenden spirituellen und mystischen Erfahrungen gleichen. Denn es geht nur Tand aus der Welt des Relativen verloren, wenn Christen und Moslems, Juden und Buddhisten usw. sich gemeinsam in die Erfahrung der einen Wahrheit vertiefen.

Und es ist auch nicht mehr notwendig, Shintoanhänger oder Bahai, Hindu oder Taoist zu sein. Denn zur einen Wahrheit findet jeder einen Zugang, der ihn ernsthaft sucht, ob über eine der angestammten Religionsgemeinschaften, über frei angebotene Meditationen und neue spirituelle Lehrer oder ganz für sich selbst. Jedenfalls gilt der Satz, den der bedeutende katholische Theologe Karl Rahner (1904 – 1984) schon vor vielen Jahren geschrieben hat: „Der Fromme (in einem anderen Zitat: Der Christ…) von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“

Die Erfahrung, bei der es in der Mystik geht, ist dann und nur dann eine Erfahrung der endgültigen Wahrheit, wenn sie von allen Einflüsterungen und Schattierungen der prärationalen Erfahrungswelt gereinigt ist. Die Geschichte der Religionen ist auch eine Geschichte der Prä-Trans-Verwechslungen. Nicht nur in der Verbreitung von abergläubischen Ängsten, durch die sich die Kirchen und religiösen Gruppen immer wieder hervorgetan haben, sondern auch in der Propagierung eines naiven Erlösungsglaubens verkleiden sich kindliche Traumatisierungen und Größenfantasien als spirituelle Wahrheiten.

Der Mystiker von morgen wird also auch ein solcher sein, der die Rationalität und die aufgeklärte Vernunft voll in sich aufgenommen und verdaut hat und sich zugleich den Wunden und Verletzungen der eigenen wie der kollektiven Lebensgeschichte gestellt hat.

1 Kommentar:

  1. Ein grundsätzlicher und sehr wichtiger Aspekt, der in der Bewusstseinsevolution heranreifen muss, ist meines Erachtens die Erkenntnis dessen, was 'urteilen' konkret bedeutet.
    Zu bewerten und zu beurteilen ist zwar unumgänglich, um Entscheidungen treffen zu können. Entscheidungen sind in dieser Welt der Vielfalt und Polarität notwendig, damit Leben in Bewegung bleibt, fließen kann.
    Krumm wird die Sache allerdings, wenn aus dem Beurteilen ein Ver-urteilen wird und wenn Urteile als unumstößliche Dogmen festgelegt werden.
    An dieser Stelle könnten wir jedoch eine andere Funktion des Geistes zum Tragen bringen: Wir können gegenüber allem, das uns begegnet, innerlich einen Schritt zurücktreten und es uns erst einmal nur anschauen - bewertungsfrei aus allen möglichen Perspektiven - bevor wir beginnen, Bewertungen vorzunehmen. Auf diese Weise bekommen wir eine Vielfalt an Informationen und Facetten über die Sache vermittelt.
    Die zweite, entscheidend wichtige Erkenntnis, die der ersten Einsicht folgen muss, ist die, dass absolutes Urteilen unmöglich ist.
    Was wir unter 'urteilen' üblicherweise verstehen ist eine Angelegenheit des Relativen. Das, was für den einen ein positves Urteil ist, kann für einen anderen schon wieder ganz anders aussehen. Auch ein Einzelner kann sein Urteil wieder revidieren.
    Aus einer übergeordneten Perspektive ist urteilen prinzipiell unmöglich, da der menschliche Verstand niemals a l l e Faktoren erkennen kann, die an einer Situation beteiligt sind. Um irgendetwas wahrhaftig beurteilen zu können, müsste man sich einer weiten Bandbreite von Dingen völlig bewusst sein, vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen. Man müsste im Voraus alle Wirkungen seiner Urteile auf jeden und auf alles, was irgendwie damit zu tun hat, erkennen können. Und man müsste sich sicher sein, dass es keine subjektiven Verzerrungen in der Wahrnehmung gibt.

    Wenn diese Tatsachen einmal im Bewusstsein verinnerlicht sind, dann erwachsen daraus ganz natürlich Offenheit und Toleranz, ohne dass ein innerer Zwang dazu besteht. Es fallen Vor-urteile weg und Meinungen können als solche erkannt werden, ohne dass sie zur "Wahrheit" derklariert werden müssen.
    Das gilt bezüglich der Religionen genauso wie für alles andere in der Welt.
    Die verschiedenen Zugangswege zur Wahrheit können auf diese Weise nebeneinander existieren.
    Dasselbe gilt auch für die Entwicklung und Standpunkte innerhalb eines Religionssystems. Es liegt dann am Einzelnen zu entscheiden, welcher Richtung er folgen will. Innerhalb einer Richtung bleibt ihm die Wahl das anzunehmen, was seiner persönlichen Erfahrung entspricht.
    Ich bin überzeugt davon, dass durch diese Offenheit dann auch der allem gemeinsame Kern - die Wahrheit - deutlicher zu Tage tritt, und zwar für alle, gleichgültig welchen Weg sie gewählt haben.
    Indem sie dafür offen sind, sich urteilsfrei auch mit den anderen Zugangswegen auseinander zu setzen, erkennen sie nicht nur die Wahrheit im eigenen Glaubenssystem, sondern auch in dem der anderen.
    Es folgt daraus die Erkenntnis, dass es eine universelle Theologie nicht geben kann, jedoch eine universelle Erfahrung der Wahrheit.
    Mit dem Urteilen behutsam umzugehen ist nach allem Gesagten somit keine moralische Vorgabe, sondern das Handeln auf der Basis einer Tatsache.

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