Samstag, 16. September 2017

Aida und die Illusion der romantischen Liebe

Die berühmte Oper Aida von Giuseppe Verdi entfaltet eine romantische Tragödie, die uns die Fatalität des romantischen Liebeskonzepts vor Augen führt. Das Dilemma steht schon am Anfang fest. Aida, die versklavte Tochter des Nachbarkönigs, liebt den aufstrebenden ägyptischen Feldherrn Radamez, der sie ebenfalls liebt. Die Tochter des Pharaos liebt nun Radamez, dieser sie aber nicht. Radamez bekommt das ersehnte Kommando für den Krieg gegen die Nachbarn, diese werden besiegt, und Aidas Vater wird gefangen genommen. Aida ist gespalten zwischen der Liebe zu Radamez und der zu ihrer Heimat und Familie. Schließlich endet alles tragisch, Radamez und Aida finden erst eingemauert in der Todeskammer zueinander.

Was verstehen die Protagonisten dieser Oper unter Liebe? Es ist eine Kraft, die nicht ihrer Kontrolle unterliegt und die sie nicht beeinflussen können. Soweit deckt sich das mit der Erfahrung vieler anderer Menschen. Die besondere Liebe, die wir einem anderen Menschen entgegenbringen, wenn wir uns verlieben, können wir nicht machen, können wir nicht durch bewusstes Handeln erzeugen. Sie trifft uns wie eine übergeordnete Macht. Außerdem kennen wir alle die Erfahrung, dass sich diese Form der Liebe nach einiger Zeit verflüchtigt. Sie wird schwächer und schwächer, macht aber im günstigen Fall einer anderen Form der Liebe Platz, die mehr Beständigkeit aufweist und die Grundlage für längerfristige Beziehungen bilden kann. Diese Form der Liebe ist vielfältiger, differenzierter und schließt tendenziell alle Ebenen unseres Seins mit ein. Wir tauschen uns mit unseren Partnern über die meisten Bereiche unseres Lebens aus und teilen viele dieser Erfahrungen. Dabei entstehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die Konflikte auslösen und in der Versöhnung das Verständnis vertiefen. Diese Form der Liebe entwickelt sich in Übereinstimmung mit der Entwicklung der beteiligten Personen weiter, und die Liebenden arbeiten aktiv an dieser Entwicklung mit. Es ist eine Form der Liebe, die stärker und schwächer werden kann, die verloren gehen, aber auch wieder gefunden und neu erfunden werden kann.

Liebe als Schicksal


Im Kontext der romantischen Liebe taucht diese Form der wachsenden, der „arbeitenden“ und reflektierenden Liebe allerdings nicht auf. Liebe ist da oder sie ist nicht da, es gibt keine Auskunft darüber, wie und warum sie entsteht und was sie bedeutet, und für die im Wortsinn Betroffenen gibt es nur die Wahl, sich ihr hinzugeben oder sich ihr zu verweigern. Andererseits zeigt das romantische Drama die Abgründe dieser Form von Schicksalsabhängigkeit auf: Wenn die äußeren Umstände dagegen wirken, führt die Liebe nicht zur Vermehrung und Steigerung des Lebens, sondern in den Tod, der paradoxer Weise als Erfüllung der Liebe dargestellt wird.

Doch dieses Paradoxon ist die treibende Kraft der romantischen Liebe. Sie hat gar keinen anderen Ausweg: Jener ins Leben einer alltäglichen Gemeinsamkeit verliert sofort die romantische Strahlkraft. Zwei Herzen finden zueinander und können – brauchen – nicht mehr voneinander zu lassen, aber was passiert dann? Bloß ein „Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“? Die romantische Spannung ist weg, sobald sich die beiden finden und ihr normales, bald langweilig werdendes Beziehungsleben beginnen – da können sie gleich in eine Kerkerzelle eingemauert werden. Der Nervenkitzel der romantischen Liebe speist sich gerade daraus, dass die Protagonisten nicht zueinander finden und ein gemeinsames Leben beginnen können, mit allen Aufgaben und Pflichten, ein Leben, in dem das Holz gehackt, die Kinder versorgt und eine Einigung über das Fernsehprogramm des Abends gefunden werden muss.

Die hartnäckige Sehnsucht nach der Romantik in der Liebe, die unsere Kultur durchzieht, die Seiten der bunten Illustrierten und der sozialen Medien, die fettleibigen Taschenbuchromane und Geschichten der kitschigen Fernsehserien, sie alle zehren vom Konzept der hochgepeitschten Emotionen und unzähmbaren Gefühle, der Verwirrung und der Entmachtung der Vernunft. Die Chaotik des limbischen Systems wird zum Zentrum des Lebens erklärt, um das sich alles zu drehen hat und an dem alle anderen Ordnungsstrukturen zum Scheitern verurteilt sind.

Gegensatz von Liebe und Wirklichkeit


Offensichtlich liegt das eigentliche Scheitern der romantischen Manie im konstruierten Gegensatz zwischen Liebe und Wirklichkeit. Die Liebe wird in einen überwirklichen Raum abgeschoben, in dem es allein zur Erfüllung kommen kann; die Wirklichkeit der Lebenswelt mit den Abläufen des (Arbeits-)Alltags wird dagegen als oberflächlich, ereignislos und langweilig, und, was noch schlimmer ist, als Vergiftung der romantischen Liebe abgewertet. Die eigentümliche Dynamik, die von der Romantik aufgespannt wird, begünstigt den Eskapismus, die Flucht in eine illusionäre Erfüllung (in der Aida als Untergang in der eingemauerten Todeszelle dargestellt), verbunden mit der Verachtung der biederen und liebesfeindlichen Wirklichkeit, die sich ihrerseits rächt und die „wahre“ Liebe kaltblütig aushungert und schließlich erledigt. Deshalb gilt dem Romantiker diese Wirklichkeit als das Schlechte, Verderbliche, während die Überwelt der Liebe der einzige Ort ist, an dem das Leben zur Fülle gelangen kann.

Die Liebe in ihrer übersteigerten Form gelingt nur in Ausnahmefällen, selbst wenn sie die Norm sein sollte. Eigentlich wird sie geschenkt oder auferlegt, je nach Sichtweise. Jedenfalls kann sie nicht erarbeitet oder erkauft werden. Die übernatürliche Verwandtschaft zweier ineinander verschmolzenen Seelen kann nur durch ein übernatürliches Arrangement eingefädelt und entflammt werden. Für die Betroffenen, von den aus dem Hinterhalt gelenkten Pfeilen des Eros durchbohrt, gibt es kein Entrinnen.

Die Fatalität liegt darin, dass die romantische Sehnsucht nicht zur Ruhe kommen kann, bis sie ihr Ziel, die Vereinigung mit dem Seelenpartner, erreicht hat und dass andernfalls das Leben sinnlos und verfehlt ist; wird hingegen schicksalhaft geschenkt, was ersehnt ist, zerschellt jeder Versuch der Erfüllung an den unerbittlichen Mächten der Wirklichkeit.

Im Anderen sich selbst lieben


Charakteristisch für die romantische Liebe ist ihre narzisstische Verkürzung. Die enthusiastischen Gefühlsüberschwänge resultieren aus der Widerspiegelung der eigenen Liebe. Der romantisch Liebende erkennt sich in der anderen Person selbst und findet die eigene Besonderheit und Großartigkeit durch den liebenden Partner bestätigt. Er liebt sich im Liebespartner selbst und übersieht die Andersheit des Partners, der auf der unbewussten Ebene als Erweiterung des eigenen Selbst erlebt wird. Das Sich-Wiedererkennen im Anderen ist die Täuschung, die deutlich wird, sobald die Gefühlsströme versiegen. Dort begänne die eigentliche Aufgabe der Liebe: Die Andersheit des Anderen zu erkunden und in ihrer Verschiedenheit anzuerkennen und zu lieben. Die romantische Liebe scheitert also, wie jeder Narzissmus scheitern muss: An ihrer Selbstbezüglichkeit und Realitätsverweigerung.

In den Zeiten des Verliebtseins (s.u.) ist dieser Narzissmus ein normaler Mechanismus, der uns aus der Komfortzone lockt und zu neuen Verhaltensweisen wie Gedichteschreiben oder Dauertelefonaten verleitet. Problematisch wird die Sache erst, wenn daran zwanghaft festgehalten wird und an jeder Schwächung der Gefühlsintensität leiden und den Sinn des Lebens in Frage stellen.

Eine Zeiterscheinung


Nüchtern betrachtet, ist die romantische Liebe eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, auch wenn es schon Vorläufer gibt, die ins Mittelalter zurückreichen. Die Hochblüte der Liebesverfallenheit hängt mit der Ausfaltung des personalistischen Bewusstseins im Modell der Bewusstseinsevolution zusammen. Die im Zug der Herrschaftsübernahme der materialistischen Stufe atomisierte Person macht aus der Not die Tugend der Individualisierung, der Heraushebung ihrer Einzigartigkeit. Die allein wirksame und erfüllende Sozialform im Rahmen dieses Bewusstseins liegt in der Zweier-Liebesbeziehung, jede andere fällt ab dagegen und wird an ihr gemessen. Die Beziehungskiste als abgeschottete Insel der Glückseligkeit ist umgeben von der Trostlosigkeit einer immer stressiger werdenden Leistungs- und Arbeitswelt. Das ist die Sackgasse der Romantik.

Robert A. Johnson, US-amerikanischer und jungianischer Psychologe hat dieses Phänomen in seiner lesenswerten Analyse der Tristan-Erzählung als „Irrtum des Abendlandes“ bezeichnet, als folgenschweres Missverstehens dessen, was die Liebe zwischen Mann und Frau jenseits von narzisstischen Spiegel-Verzerrungen ausmacht: Traumvorstellung Liebe. Der Irrtum des Abendlandes (Walter Verlag).

Die alltagstaugliche Romantik


Zur Ehrenrettung der Romantik sollte noch erwähnt werden: Neben dieser extremen Ausgestaltung der Romantik gibt es die realistischeren, sanfteren Formen, mit Kerzenschein und Lavendelduft, die jeder Liebesbeziehung gut tun können, als bewusst inszeniertes Heraustreten aus der Routine der Alltagsverrichtungen und den Verflachungstendenzen in der Liebeskommunikation. Diese Spielart der Romantik abseits der Hochglanz- und Seitenblicke-Welt, die ohne die manische Besessenheit und Fixierung auf „die eine und wahre Liebe“ auskommt, ermöglicht das Feiern der Einzigartigkeit einer Liebesbeziehung und verbindet es mit ästhetischen Ansprüchen und verfeinertem Genießen. Sie lädt die Kreativität in die Beziehung ein und belebt und vertieft das gegenseitige Verstehen und Erkennen.

Der Zustand des Verliebtseins, der meist am Beginn einer Liebesbeziehung steht, wird oft als romantisch erfahren. Das Erleben eines unvergleichlichen Hochgefühls, des andauernden  Hingezogenseins zu der erwählten Person, der Begeisterung für den anderen Menschen und die Bereitschaft, alles dafür zu geben, lässt beide Partner zu neuen Menschen mit viel mehr Möglichkeiten und reicheren Gefühlen werden, etwas, wogegen die restlichen Bereiche des Lebens verblassen. Doch, ganz banal betrachtet, schwinden über die Wochen und Monate die Glückshormone, die im Überschwang des Verliebens ausgeschüttet werden, und der Realismus kehrt langsam aber sicher in die Beziehung ein. Die romantische Sehnsucht, also die Sehnsucht nach Romantik ist der Wunsch, die emotionale Urkraft des Verliebens erneut in sich aktivieren zu können.

Die Pflege der Romantik in einer längerdauernden Beziehung kann die Rolle erfüllen, Elemente der anfänglichen Phase des Verliebtseins neu zu beleben und in die Gegenwart in verwandelter Form einzubringen. Eingeschliffene Verhaltensweisen, Verhakungen im Zusammenleben und kommunikative Abnützungserscheinungen können durch spielerische und kreative Elemente aufgelockert und entkrampft werden. In diesem Sinn kann die richtig dosierte Romantik als Jungbrunnen einer in die Jahre gekommenen Beziehung dienen.

Die Sehnsucht nach dem verlorenen Zwilling


Ein eigenes Kapitel dieses Themas, das hier nur angedeutet werden kann, führt zurück zu den vorgeburtlichen Wurzeln des liebeszehrenden Begehrens. Es geht um die Spur der romantischen Illusion zurück zum Thema des verlorenen Zwillings, denn allzu offensichtlich sind die Ähnlichkeiten zwischen den Gestalten der romantischen Liebe, ihrer Sehnsucht und ihrem Scheitern, und der Dramaturgie einer pränatalen Zwillingsgeschichte, die mit dem Tod eines Zwillings endet. Die manische Illusion der romantischen Vereinigung kann als die Rückprojektion zur intakten Zwillingsbeziehung verstanden werden, in der ein tief inniges und unmittelbares Verstehen und eine einzigartige Verbindung vorherrschen; die traumatisierende Katastrophe des Verlustes des Zwillings spiegelt sich im Zerbrechen der Liebesbeziehung an den Widerständen der Realität. Die Macht und Unausweichlichkeit der romantischen Dramatik, die in den verschiedensten Formen und Varianten wieder und wieder durchgespielt werden muss, stammt aus dem unbewussten und unbewältigten Trauma.

Die marktdominierende Vorherrschaft der romantischen Liebe vor allen anderen Möglichkeiten der zwischenmenschlichen Bezogenheit könnte als Hinweis darauf verstanden werden, wie viele Menschen vom Drama im Mutterleib betroffen sind und sich deshalb immer wieder hingezogen fühlen, dessen Inszenierung im realen Beziehungsleben wie in künstlerischer Bearbeitung zu durchleben, um den tiefen Schmerz und die ausweglose Verzweiflung, die in die Zwillingsdramatik eingewoben sind, auf diese Weise zu heilen.

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