Freitag, 5. August 2016

Dürfen wir Hofer für einen Nazi halten?

Zum vorhergehenden Blogartikel über das Thema Post-Faktualität und Fakten in der politischen Landschaft bietet ein vor kurzem gefälltes Urteil eines Innsbrucker Gerichts ein interessantes Beispiel. Der Tiroler SPÖ-Chef Ingo Mayr hat in zwei Kommentaren auf seiner Facebook-Seite FPÖ-Bundespräsidentschaftskandidat Norbert Hofer sinngemäß als "Nazi" bezeichnet. Dieser klagte wegen Ehrenbeleidigung. 

Nun hat das Gericht die Klage abgewiesen, einerseits mit Bezug auf den Grundsatz der Meinungsfreiheit und andererseits mit Hinweis auf ein Faktengerüst und ein "Tatsachensubstrat". Im Urteil ist davon die Rede, dass die FPÖ, als deren Vertreter Hofer zur Bundespräsidentenwahl antritt, sich nicht von rechtsextremen Gruppierungen distanziert und sogar den Kontakt mit diesen suche. Deshalb sei die Bezeichnung "Nazi" nicht ehrrührig.

Die Argumentation des Gerichtes, das sich bei diesem Urteil auf eine weiter zurückreichende Spruchpraxis mit Rechtsradikalen stützt, beruft sich auf Fakten, auf Tatsachen, die den Ausdruck "Nazi" rechtfertigen und nicht als ehrrühig erscheinen lassen, und diese Tatsachen geben jedem, der sich darüber kundig macht, die Möglichkeit, die Urteilsfindung nachzuvollziehen.


Changieren in der Post-Faktualität


Schließlich, wenn man den Kontakt zu den Rechtsextremen sucht und wenn man sich der Symbolik und Rhetorik dieser Gruppen bedient, kann man es schwer als Beleidigung der Ehre empfinden, wenn jemand die eigenen politischen Sympathien beim Namen nennt. Doch zur Denkweise der Post-Faktualität gehört es, je nach Opportunität einmal - eben das, was gerade Vorteile bringt: Die Farbe und die Tonart wechseln, wie es gerade passt.

Rechtsextreme sind ein Wählerpotenzial für Rechtsparteien, und mit Anbiederungen in diese Richtung werden auch Leute bedient, die sich zwar selbst nicht als extrem wahrnehmen und bezeichnen, aber viele Deutungsmuster und Denkformen des rechten Spektrums teilen und sich durch entsprechende aggressiv geäußerte politische Botschaften bestätigt fühlen. 

Andererseits ist klar, dass mit extrem rechtem Denken und Agieren in Österreich keine Mehrheiten gewonnen werden können. Die Geschichte zeigt, dass die Österreicher keine ausgeprägte Talente für Extremismen haben, von nicht wenigen Einzelfällen abgesehen. Ich vertrete die These, dass die Österreicher 1938 die Nazis nicht wegen ihres Extremismus willkommen geheißen haben, sondern weil sie als relativ gemäßigt, aber schlagkräftig wahrgenommen wurden. Die meisten einheimischen Anhänger der Nazis haben noch lange nach dem Krieg, manche bis heute, die Extremismen der Nationalsozialismen, z.B. die Judenvernichtung, geleugnet. Die Monströsität des Bösen ist dem durchschnittlichen Österreicher nicht geheuer, denn der begnügt sich gerne mit Boshaftigkeiten und Gemeinheit, "die aber so nicht gemeint sind". 

So haben Österreicher gleich nach dem Anschluss auf das Schamloseste die Wohnungen ihrer jüdischen Nachbarn geplündert, aber natürlich hätten sie nie gutgeheißen, diese gleich umzubringen. "Von diesen Dingen haben wir nichts gewusst", ist die Standardantwort der arischen österreichischen Zeitzeugen auf die Frage nach der Holocaust-Mitverantwortung, und natürlich: "Wir waren ja selber die ersten Opfer der deutschen Nazis".

Weil die eigene Boshaftigkeit so harmlos ist, will man nicht verwechselt werden mit den ganz Bösen. Folglich will niemand als Nazi bezeichnet werden, auch wenn man mit deren Werten in aktualisierter Form sympathisiert, indem z.B. der Antisemitismus durch Antiislamismus ersetzt wird. Da es ja kaum noch Juden im Land gibt, geht die ganze Bedrohung und Gefahr von den Moslems aus.

Um beide Seiten, die kleinere, die zu mehr Hass stehen, und die größere, die den eigenen Hass verharmlost, geneigt zu halten, vertritt die österreichische Rechtspartei eine Doppelstrategie: Auf eine Anbiederung zu den rechten Rändern der Gesellschaft erfolgt der Widerruf: So war es nicht gemeint, oder: das ist nur eine Einzelmeinung, und natürlich sind wir gegen den Holocaust und gegen die Diktatur. Und dann wieder eine antisemitische Äußerung, mit der man sich augenzwinkernd bei den Rechtsextremen in Erinnerung ruft.

Das eine hat dann nichts mit dem anderen zu tun, wir haben es also mit zwei unverbundenen Anteilen zu tun. Viele Rechtspolitiker beherrschen diese Form der Schizophrenie so perfekt, dass sie mit voller Überzeugung einmal das eine und dann das Gegenteil behaupten können. Einmal sind sie mit aller Aggressivität die Täter, einmal mit allem Beleidigtsein die Opfer. Einmal gewinnen sie die Sympathien aller, die auch gerne aggressiv durchgreifen wollen, und im anderen Mal die Zustimmung jener, die sich als zu kurz gekommene Opfer der gesellschaftlichen Entwicklung sehen.

Deshalb ist von der klagenden Seite im Innsbrucker Prozess reflexartig der Vorwurf der Politjustiz gekommen, und darin zeigt sich die Opferrhetorik, die von den Rechten gerne verwendet wird und bei Gleichgesinnten Anklang findet und Sympathien (=geteiltes Leiden) erzeugt. Es geht ja darum, die Macht zu erringen; solange die Rechten ihrer nicht habhaft sind, bleiben sie die Opfer. Und das Opfersein rechtfertigt jede Form der Täterschaft. Solange diese im verbalen Bereich bleibt, sich also auf aggressive Rhetorik beschränkt, ist die Demokratie nicht in Gefahr. Doch ist die Grenze zwischen aggressiver Rhetorik und aggressivem Handeln sehr durchlässig.


Faktizität und Justiz


Zurück zur Faktualität: Ein Gericht muss sich auf Fakten berufen, wenn es zu einem gerechtfertigten Urteil kommen will. Es kann nicht auf Grund von Sympathien oder Gefühlen Recht sprechen. Die Fakten, die die Urteilsfindung begründen, müssen allgemein bekannt sein, sodass sie von jedermann nachvollzogen werden können. Natürlich müssen Fakten immer bewertet werden. Doch auch die Maßstäbe der Bewertung müssen transparent, also allgemein nachvollziehbar sein.

Damit der Vorgang der Rechtsprechung im demokratischen Staat auf diese Weise funktioniert, müssen nach dem Prinzip der Gewaltenteilung die Richter von den anderen Organen des Staates unabhängig sein. Sie dürfen keine Politjustiz betreiben, und deshalb brauchen sie den klaren Blick auf die Faktenlage in jedem Rechtsfall.

In der Türkei wird dieser Tage der Schritt aus der demokratischen Rechtsstaatlichkeit vollzogen, indem Tausende Richter abgesetzt und enteignet werden. Nachdem diese Maßnahmen ideologisch motiviert, also nicht auf Fakten bezogen sind, verlassen sie den Boden der Demokratie und führen das Land weiter in die Diktatur. Vermutlich war es die Absicht der Putschisten, diese Entwicklung zu verhindern, doch hat ihr Handeln (fern von demokratischen Mitteln und brutal) ermöglicht, die Etablierung der Diktatur maßgeblich zu beschleunigen. Die Ironie des Weltgeistes hat erbarmungslos zugeschlagen.

Deshalb ist es von besonderer Wichtigkeit, alle Bestrebungen, die Gesellschaft in die Richtung der Post-Faktualität zu führen, aufzuzeigen und in den öffentlichen Diskurs einzubringen, damit wir uns völlig klar machen können: Wollen wir diese Entwicklung oder nicht? Unterstützen wir Personen, die mit der Post-Faktualität spielen, oder solche, die auf dem Boden der Realität bleiben? Die kommende Stichwahl zum österreichischen Bundespräsidenten ist eine Gelegenheit dazu, und es liegt an uns, nicht nur unsere Stimme für die Faktualität abzugeben, sondern auch andere davon zu überzeugen, das zu tun: Es geht bei dieser Wahl nicht um Gesichter, sondern um die Grundentwicklung unserer Gesellschaft.

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