Wir Österreicher sollten eigentlich Verständnis haben für die Türken. Denn wir beherrschen das Täter-Opfer-Spiel ähnlich gut wie sie.
Der Rest der Welt ist sich einig: Die türkische Regierung hat während des ersten Weltkriegs einen Völkermord gegen die Armenier im eigenen Land zu verantworten, dem 1,5 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. In der heutigen Türkei ist diese Ansicht und Einschätzung unter Strafe gestellt. Die offizielle Version stellt das Land als Opfer des ersten Weltkriegs dar, in dem die Türkei ihr Großreich verloren hat, und diese Schmach und Erniedrigung dient dazu, alles zu überdecken, was man selber an Gräueltaten verrichtet hat. Die Ausrottung der Armenier wird gewissermaßen als Kollateralschaden des Krieges verbucht, und wer an dieser Version kratzt, muss bekämpft werden.
Ein ähnliches Strickmuster haben die Österreicher nach dem Ende des 2. Weltkriegs benutzt. Dankbar haben unsere Politiker das alliierte Stichwort vom „ersten Opfer des Nationalsozialismus“ aufgegriffen und daraus den Gründungsmythos der zweiten Republik gebastelt. Die armen Österreicher wurden von den bösen Deutschen überfallen und mussten an deren Seite oder unter deren Fuchtel in deren Krieg ziehen. Deshalb wurde auch die sogenannte Entnazifizierung bald nach dem Krieg sang- und klanglos eingestellt, und die „Ehemaligen“ oder „Ewig-Gestrigen“ fanden ihr Sammelbecken im „Verband der Unabhängigen“, später in „Freiheitliche Partei Österreichs“ umbenannt (erster Vorsitzender war Anton Reinthaller, ehemaliger SS-Brigadeführer [im Rang vergleichbar einem General], später folgte Friedrich Peter, ehedem SS-Obersturmführer).
Belohnt wurden die Österreicher für ihren Opfermythos mit dem Staatsvertrag von 1955, der die Besatzungszeit beendet hat. Österreich war wieder ein respektables Mitglied der Völkerfamilie, mit reingewaschener Weste. So konnte man ungetrübt von Altlasten den Wohlstand aufbauen. Immer leichter wurde es, sich satt und zufrieden zurückzulehnen und den gnädigen Schleier des Vergessens über die Vergangenheit zu breiten.
Erst Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts kam es zur Wiederkehr des Verdrängten ins allgemeine Bewusstsein: Im Zusammenhang mit der Wahl von Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten, ehemaliges SA-Mitglied und Offizier der deutschen Wehrmacht, wurde die Mitbeteiligung vieler Österreicher an den Gräueltaten des Nationalsozialismus ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Der Opfermythos wurde rissig und die historische Aufarbeitung der einheimischen Schuld musste zur Kenntnis genommen werden. 1991 hat der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky eine Erklärung zur österreichischen Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus abgegeben. Dieser Prozess ist nun schon 30 Jahre in Bewegung und noch lange nicht abgeschlossen, auch wenn von rechter Seite immer wieder gefordert wird, dass die Vergangenheit in Ruhe gelassen werden sollte, sprich dass das Verdrängte verdrängt bleiben solle.
Zur Lösung eines historischen Konflikts mit ungleicher Gewaltbilanz kommt es erst, wenn die Täter ihre Schuld eingestehen, denn erst dann können die Opfer Frieden finden. Solange die Täter nicht zu diesem Schritt bereit sind, leiden sie selber unter der Last, und häufig wird dieses Leiden in Aggression umgewandelt, die sich gegen jeden und alles richtet, was an diese Schuld erinnert. Dieses Gewaltpotenzial kann erst schwinden, wenn die Schuld, die einfach da ist, soviel sie auch geleugnet wird, Anerkennung findet. Dann wird es für beide leichter, die Täter und die Opfer, und sie können sich gegenseitig in die Augen und sich selbst in den Spiegel schauen, die einen, weil sie den Mut hatten, die Schuld auf sich zu nehmen, und die anderen, weil sie ihre Würde wieder ganz zu sich nehmen und das Leid der Vergangenheit ein Stück zurücklassen können.
Letzten Endes geht es bei beiden Seiten darum, Versöhnung mit der Tragik des Schicksals zu finden, das der einen Seite die Last der Täterschaft und der anderen die Bürden und Verletzungen des Opferseins zugemessen hat.
Vgl. Hundert Jahre Völkermord
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